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Tanz der Elemente: Über die Schönheit des Periodensystems
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eBook278 Seiten3 Stunden

Tanz der Elemente: Über die Schönheit des Periodensystems

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Über dieses E-Book

Chemie ist die fröhlichste Wissenschaft unserer Zeit.

Alles fügt sich aus wenigen Bausteinen, den Elementen. Die Natur, der Mensch und jedes Ding. Vor 150 Jahren brachte Dmitri Mendelejew in St. Petersburg die Welt in Ordnung. Jedes Element fand im Periodensystem für immer einen festen Platz. Das Periodensystem war schon immer mehr als eine Tafel im Chemieraum. Man muss seine Geschichte nur von vorn erzählen und am Ende in die Zukunft sehen. Michael Pilz berichtet von den alten Erzen und Elementen der Natur über die antiken Vorstellungen von vier großen Elementen und die göttliche Kunst der Alchemie bis zur künstlichen Welt des Periodensystems und darüber hinaus. Er erzählt eine Kulturgeschichte der Welterklärung und beschreibt die Chemie als fröhlichste Wissenschaft unserer Zeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum27. Aug. 2019
ISBN9783701746255
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    Buchvorschau

    Tanz der Elemente - Michael Pilz

    Welt.

    Eins

    Am Anfang war das Nichts

    Eine Erleuchtung, eine Revision der reinen Lehre und die Renaissance der Chemie als fröhliche Wissenschaft.

    Vor dreißig Jahren fand ich mich an einer Hochschule im Hörsaal wieder. Der Professor sprach über die Herstellung von Schwefelsäure. Er trug eine Brille, in der seine Augen schwammen, einen Kittel und kein Haar. Wie sich das für Chemiestudenten so gehört, war ich verkatert, an der Hochschule hießen die Klubs Reaktor, Alchemistenfalle oder Ölgrube. Ich dachte an die »Muppet Show«, an Prof. Dr. Honigtau-Bunsenbrenner, der wie mein Dozent aussah, in dessen Labor die Zukunft schon heute gemacht wurde und der im Fernsehen ein neues Element entdeckte. Sein Bunsonium war farblos, flüssig und schien unter Normbedingungen zu sieden. Beaker, der bedauernswerte Assistent, sank nach der Einnahme in sich zusammen. Er verlor die Lebensluft.

    So wäre für mich auch die Vorlesung zur Technischen Chemie dahingegangen, hätte sich der Weltgeist mir nicht offenbart. Er hing über der Kreidetafel mit den Formeln für die Reaktion von Schwefeldioxid zu Schwefeltrioxid zu Schwefelsäure und der Skizze eines Drehofens. Das Periodensystem der Elemente hing über der Tafel. Es hing immer da und überall, es fing mit Wasserstoff an und hörte damals mit Bohrium auf, dem 107. Element. Nicht dass ich es davor noch nie gesehen hatte: In der Schule endete es mit dem 104. Element, dem Kurtschatovium, das heute Rutherfordium heißt. Ich hatte schon verstanden, dass die Elemente sich nach ihren fortlaufenden Ordnungszahlen, nach ihrer Protonenmenge, ins System fügen. Dass nach den Edelgasen in der nächsten Zeile eine neue Periode anfängt. Und dass sich die Elemente in den Spalten gleichen, in den Gruppen, wegen ihrer Elektronen. Wo die bunte Karte hing, war der Chemieraum.

    Was mir nun in meinem müden Hirn, im noch nicht abgebauten Alkohol und vielleicht durch die frühen Früchte meines Studiums aufging, war das Göttliche. Oder, wenn man an Gott glaubt, das Blasphemische. Ich sah den Urknall. Ich sah, die Materie entstehen, die Protonen, Neutronen und Elektronen, die Atome. Die Evolution der Elemente: Einprotonige Wasserstoffatome krachten ineinander und erzeugten zweiprotoniges Helium. Die Kernfusion des Universums setzte Lithium, Beryllium und Bor auf die drei folgenden Plätze. In den neugeborenen Sternen stieg die Dichte und die Energie, bis aus drei Heliumkernen mit vier Neutronen der Kohlenstoff entstand und aus dem Kohlenstoff durch einen weiteren Heliumkern der Sauerstoff. Daraus wurden heute allgegenwärtige Substanzen wie Silizium und Eisen. Wenn ein Stern wieder verglühte, war die Energie so hoch, dass die Materie sich vom Eisen bis hinunter zum Uran verdichten konnte. Eine Wolke solcher Stoffe ballte sich zur Erde.

    Im System der Elemente an der Wand zeigte sich, dass am Anfang nichts war und Milliarden Jahre später alles, was jemals der Fall war und der Fall sein wird. Die ewige Gesetzestafel unseres Lebens. Eine Karte unserer Welt oder, wenn man so will, der Schöpfung. Die Evolution der ursprünglichen Bausteine, ein auf der Krone stehender Stammbaum aller Stoffe: oben links der Wasserstoff und oben rechts das Helium und unter ihnen ihre mehr als hundert Nachkommen.

    Ich starrte auf die Mitte, auf die Elemente unseres Daseins. Sieh mal an, sagte ich mir, der Kohlenstoff: Steht nicht am Rand zwischen den radikalen Linken oder Rechten, sondern bei den Netten und Neutralen, bei den Langweilern, die sich mit allen gut vertragen. Er bindet sich auf behutsame und fürsorgliche Weise mit den anderen um ihn herum, sogar mit dem von Hause aus extremen Wasserstoff. Weil er sich selbst genügt, der Kohlenstoff, bildet er Ketten oder Ringe, Diamant, Graphit und Moleküle, die wie alte Fußbälle aus Fünf- und Sechsecken geformt sind. Aus ihm ist das Leben, das, wenn es vorüber ist, zu Kalk und Kohle, Öl und Gas wird, zu den Roh- und Kunststoffen der Zivilisation. Unter dem Kohlenstoff und links davon, noch weiter in der Mitte, ruhen die Metalle, ohne die der Mensch keine Kultur besäße: Blei und Zinn, Silber und Gold, Kupfer und Eisen. Unser Blut trägt in der Mitte seiner Moleküle ein Atom mit 26 Protonen und 20, 23, 24, 26 oder 28 Elektronen, da legt sich das Eisen nicht so fest als Element der grauen Mitte. So leicht, wie es Sauerstoff zum Atmen aufnimmt und durch unsere Adern trägt, so leicht gibt es ihn wieder her, wo wir ihn brauchen. An den Rändern des Systems hausen die schwierigeren Charaktere. Natrium und Chlor zum Beispiel lassen, wenn es um die Elektronen ihrer Hüllen geht, kaum mit sich reden. Dafür sind sie, wenn sie sich gewaltsam aussöhnen, wieder bei uns, als Salz auf unserem Frühstücksei.

    Das war meine Erleuchtung. Menschen sind empfänglich für solche Momente, in denen das Leben einen Sinn ergibt. Eine Art ursprünglicher, innerer Ordnung. Das System der Elemente war mein Dornbusch, auch wenn es nicht brannte und nicht zu mir sprach. Es hing nur vor mir und erklärte mir, warum ich da war.

    Damals saß ich mittendrin in der Chemie. In Merseburg, da stand die Hochschule, lag, je nachdem, woher der Wind wehte, der Duft von Aromaten aus den Leuna-Werken in der Luft, oder die Buna-Werke reicherten den ohnehin schon sauren Regen mit Carbid an. Es waren die späten Achtzigerjahre: Während sich in Westdeutschland die Grünen in die Parlamente häkelten, las man im Osten »Flugasche« von Monika Maron über die Dreckstadt B., das Buch spielte in Bitterfeld, nicht weit entfernt von Merseburg. Im Keller der Berliner Zionskirche sammelte die Umweltbibliothek Beweise für die Ökosünden, und die langhaarige Jugend schmückte ihre Fahrräder mit blühenden Zweigen. Rund um Merseburg hießen die Fußballklubs BSG Chemie Buna Schkopau, Chemie Leipzig, Hallescher FC Chemie. Die Klubs stammten wie viele überholte Utopien aus den Sechzigerjahren wie die Werbung für »Plaste und Elaste aus Schkopau« an den ruinierten Autobahnen, über die sich die Transitreisenden aus dem Westen amüsierten, wenn sie ihren Ostverwandten ihre hübscheren Chemieprodukte überreichten. In den späten Achtzigern war nichts mehr übrig von den Glücksverheißungen der Kunststoffe, Labordrogen und Kernkraftwerken. Die gesamte Zukunft war von einer Wissenschaft erledigt worden, die den Vornamen Natur verwirkt zu haben schien.

    Ich weiß nicht mehr, warum mich weder ihr verdorbener Ruf vom Studium abhielt noch die Schule mit ihren sechs Jahren Unterricht zuvor. Es hatte damit angefangen, dass der Lehrer Strom in Wasser leitete und darüber mit seinem Feuerzeug ein Reagenzglas bellen ließ. Er ließ einen Magnesiumspan und eine Scheibe Natrium über dem Bunsenbrenner leuchten, grellweiß und orange. Er kippte Salzsäure über ein graues Eisenpulver und freute sich über den Gestank nach Furz. Wahrscheinlich hat der Lehrer uns die Formeln von der Schultafel abschreiben lassen, so wie es im Lehrplan stand. Möglicherweise hat er auf der bunten Karte auch auf die Symbole des Systems gezeigt und die Zusammenhänge zwischen Gruppenzahl und Bindungsart erwähnt. Am Anfang war Chemie nur eine Lehre von den überraschenden Geräuschen und den überwältigenden Gerüchen, von den Sensationen irgendwelcher Stoffe. Eine Lehre, die man nicht verstehen kann und lernen muss. Vielleicht sollte sich die Chemie mit dem Gedanken anfreunden, dass Kinder in der Lage sind, nicht nur die Unordnung der Dinge zu erfassen, sondern auch die höhere Ordnung. Man sollte vielleicht nicht mit den Phänomenen anfangen, sondern mit den Prinzipien und mit der Philosophie, der sie gehorchen, dem System der Elemente.

    In der Fernsehserie »Breaking Bad«, der großen Welterzählung unserer Zeit, steht der Chemielehrer vor einer Klasse resignierter Gymnasiasten und stellt nach all den verlorenen Jahren eine Frage für die erste Stunde seines Fachs: »Chemie, das ist die Lehre von was?« Der pickelige Prügelknabe in der ersten Reihe, der Physik und Mathe mag, hebt vorsichtig die Hand und stammelt: »Chemikalien.« »Chemikalien«, sagt der Lehrer: »Nein! Chemie ist, also strenggenommen ist Chemie die Lehre von den Stoffen.« Walter White, so heißt der Lehrer in der Serie, entzündet einen Bunsenbrenner, sprüht gefärbte Flüssigkeiten in die Flamme und spricht über Elektronen, Bindungen und das Prinzip des Lebens. »Es ist faszinierend, wirklich«, sagt er und gibt auf. Er hat das Innerste des Seins, den Sitz der Elektronen um den Kern herum, die Schalen und die Orbitale, auf die Schultafel skizziert. Das Zauberwort periodic table steht dabei. Es ist zu spät.

    Zu spät ist es für Walter White, den traurigen Chemielehrer, dem in der Schule niemand zuhört, und den Drogenkoch, dem draußen vor den Plasmabildschirmen Abermillionen über 62 Folgen dabei zugeschaut haben, wie er das reinste Methamphetamin herstellt und damit auch seinen Hormonhaushalt und seine Hirnchemie verändert hat. Ein Mann, der an den Geist in der Materie glaubt. Es ist zu spät für seine Schüler. Als sie selbst die großen Fragen hätten stellen können, warum Wasser nass ist und die Blumen bunt sind, hatten sie in Kindergärten und in Grundschulen mit Fachkräften zu tun, die lieber was mit Menschen machen wollten, als was mit Materie, weil ihnen das in der Schule schon nicht lag. Als dann die Schulkinder, bevor die Pubertät ihren Hormonhaushalt und ihre Hirnchemie veränderte, der Unterricht verwirrte mit seinen gut hundert Elementen und ihren Millionen Molekülen. Mit obskuren Formeln und geheimnisvollen Fakten, hingeworfenen Gleichungen und unergründlichen Gesetzen.

    Es ist nicht zu spät für den, der noch einmal am Anfang anfängt, das Periodensystem der Elemente nicht als Gruselgrafik seiner Schuljahre betrachtet und den großen Sinn nicht nur im selbstgezogenen Rettich hinter seinem Landhaus sucht. Oder wie Walter White in »Breaking Bad« erklärt: »Das Universum ist zufällig. Subatomare Teilchen, die unaufhörlich und sinnlos kollidieren.« Warum alles doch da ist, erzählt uns das System der atomaren Teilchen. Gott, wenn jemand einen braucht, der daran schuld ist, würfelt eben doch. Und Sinn war, seit der Mensch, was er Natur nennt, nicht nur anhimmeln, sondern verstehen will, auch die Erkenntnis, was die Welt zusammenhält.

    Wer freitags aus der Stadt flieht, um in seinem Landhaus regionale Früchte aufzutischen, tut es nicht allein wegen des Fußabdrucks, den seine Kohlendioxid-Bilanz zwischen den Feldern hinterlässt. Er isst den Sauerklee und manchmal auch die Sau vom Förster nebenan, weil er irgendwie ahnt, dass seine Heimatsehnsucht auch durch seinen Molekülhaushalt zu stillen ist. Jeder ist, was er isst. Ohne Chemie ist das Leben ein Irrtum. Es scheint eine gute Zeit dafür zu sein, wieder von der Materie, davon, was die Welt ist, zu erzählen. In der Popkultur sind Chemiker nicht mehr die Irren zwischen ihren brodelnden Destillen und ihren mit falschen Formeln übersäten Schiefertafeln auf der Suche nach den Stoffen für die Weltherrschaft.

    Es sind die tragischen Genies wie Walter White in »Breaking Band«. Es sind die weisen Nerds mit ihren Asthmasprays wie die Atom- und Astrophysiker in »Big Bang Theory«, der Serie, aus der das Wort »Bazinga« stammt, das mit den Zeichen für die Elemente Barium, Zink und Gallium (Ba Zn Ga) als T-Shirt-Aufdruck ein Verkaufshit wurde. Es sind die Symbole des Systems, die heute überall auftauchen. In der »Breaking Bad«-Typografie mit Brom (Br) und Barium (Ba). Am Technologischen Institut von Massachusetts, als Barack Obama als Ikone einer besseren Welt mit dem Symbol für Sauerstoff, dem großen O, gefeiert wurde. Wenn einem beim Festival in Wacken zottelige Männer mit dem Aufdruck »Heavy Metals« und den Elementzeichen Pb (Blei) und Cr (Chrom) auf den Shirts entgegenwanken.

    Es gibt Periodensysteme für Bier und HipHop, Schriften und Computerspiele. Das Periodensystem der Elemente gibt es als Tapete, Duschvorhang und Kaffeetasse. YouTube zeigt, dass sich die Jugend nicht nur mit Strukturformeln von Legal Highs befasst, mit psychedelischen Substanzen, die in Kräutermischungen und Badesalzen vorkommen. Die Jugend bastelt nicht nur Bomben und freut sich über Kondome, die im Feuchten ihre Farben ändern. Sie feiert auch »Chemical Parties« und lässt alle Welt bei YouTube daran teilhaben: Da tanzt die Jugend miteinander als Atome, sie verkleidet sich als Elemente und verbindet sich zu Molekülen. Scheue Edelgase tragen auf den Schildern vor dem Leib ein He für Helium und Ne für Neon, einsam stehen sie neben der Tanzfläche. Zwei Wasserstoffe tanzen um den Sauerstoff herum. Die unedlen Metalle, Natrium und Magnesium, sprengen den Pas de trois des Wassers und geraten mit den dreien aneinander. Eisen tanzt mit jedem. Wasserstoffe irren rastlos durch den Saal. Und als der Kohlenstoff eintritt, der Star unter den Elementen, werfen alle sich an seinen Hals und wollen bei ihm sein, die Wasserstoffe und die Sauerstoffe. Aber auch die anderen Kohlenstoffe, die schon da sind, stürmen auf den Kohlenstoff zu. Wären die Eltern dieser Jugend früher zu »Chemical Parties« eingeladen worden, hätten sie Designerdrogen mitgebracht. Für sie war die Chemie an sich kein Grund zum Feiern, sondern die Geheimlehre der Gifte, an denen die Welt zugrunde gehen würde.

    Aus der bösen ist wieder die fröhliche Wissenschaft geworden, die sie für die Großeltern vor fünfzig Jahren war. Nur dass wir heute klüger sind als damals, als die Beatles die Lysergsäure in »Lucy In The Sky With Diamonds« besangen und die DDR den volkseigenen Industrien ihr Chemieprogramm verordnete: »Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit«. Klüger sind wir, weil wir jetzt den Preis kennen. Vor allem sind wir klüger, weil wir wieder wissen, dass unsere Kultur und die Natur keine zwei Sphären sind, die sich berühren mögen aber nie vereinen können: Sie sind eins.

    Der Mensch ist ein organisches System aus Molekülen, ein lebendiger Reaktor, um Erkenntnisse zu produzieren. Die Materie ist die Mutter jeder Welterkenntnis. Es braucht, wie Feuilletonisten sagen würden, nur ein anderes, ein neues Narrativ. Im Jahr 2019 wird es 150 Jahre alt, das periodische System der Elemente. Dmitri Mendelejew hat es 1869 aufgestellt, er war kein wirrer Russe, der die Elemente willkürlich für seine Schüler tabellarisch katalogisiert hat. Sein System ist keine Karte, die sadistische Chemielehrer in ihre Klassenräume hängen, um die Schüler zu traumatisieren. Was da hängt, ist zwar kein Gottesbeweis, aber ein Zeugnis dafür, dass der Himmel auch nie leer war. Eine Grafik, ein Modell des Seins wie jede Tonleiter die Töne sinnvoll ordnet und das Alphabet die kleinsten Teilchen unserer Sprache, um sie zu verstehen. Das Periodensystem ist Poesie. Seine Kulturgeschichte ist elementar. Hier ist sie.

    Zwei

    Der Sibirische Prophet

    Ein Traum, eine Ordnung der Welt und der Mensch als Schöpfer der Natur.

    Am 1. März des Jahres 1869 bringt Dmitri Mendelejew in Sankt Petersburg die Welt in Ordnung. Wegen des julianischen Kalenders, der in Russland gilt, schreibt Mendelejew den 17. Februar. Er sitzt an seinem Schreibtisch in der Universität. Ein 35-jähriger Chemieprofessor, der, sobald es Frühling wird, sein Haar und seinen Bart vom Schäfer scheren lässt und dies dann erst wieder im nächsten Frühjahr machen lassen wird. Bilder zeigen ihn als Rasputin der Elemente. Es sind unsere Russlandbilder, die ihn zu einem sibirischen Schamanen machen, zu einem Kalmücken oder Tschuktschen, dem sich die Natur noch auf geheimnisvolle Weise offenbart. Es gibt entsprechende Legenden zu den Bildern: Mendelejew soll als Wunderheiler durch das Riesenreich gereist sein und den sterbenskranken Zarensohn mit einem Elixier gerettet haben.

    1869 wartet er auf einen Pferdeschlitten, der ihn zum Moskauer Bahnhof bringen wird, von wo er mit der Eisenbahn nach Twer fahren und Vorträge vor Milchbauern und Käsefabrikanten halten soll. In Twer, 500 Kilometer südlich von Sankt Petersburg, besitzt der Chemiker ein Landgut seit die Leibeigenschaft 1861 abgeschafft und Grundbesitz erschwinglich wurde. Wie der aufgeklärte Gutsherr Konstantin Ljewin in Leo Tolstois »Anna Karenina« und wie der weitsichtige Biobauer heute startet Mendelejew seine eigenen Agrarreformen. Landwirtschaft durch Naturwissenschaft, Fortschritt zum Wohl des Volkes. Der Professor aus St. Petersburg berät auch die Petrolförderer am Kaspischen Meer. Auch Russland wird zu einer Industrienation mit Öl und Düngemitteln. Überall finden sich Menschen, die den überhitzten Zeitgeist zähmen und alles in Formen zwingen, um der Welt und ihres Wissens wieder Herr zu werden. Die Evolution des Lebens, die Gesetze der Genetik und die Phänomene der Elektrik.

    Für die Stoffe fühlt sich Dmitri Mendelejew aus Tobolsk in Ostsibirien zuständig. Abzüglich aller damals zweifelhaften Elemente und aller Substanzen, deren Eigenarten auf verbundene oder vermischte Elemente hindeuten, zählt er im Winter 1869, als er auf den Schlitten wartend über seinen Schriften brütet, 63 Elemente. Von Eisen und Kupfer, aus denen die menschliche Kultur geschmiedet und gegossen wurde, bis zu Cäsium und Rubidium, die sein Heidelberger Lehrer Robert Bunsen acht Jahre zuvor im Spektrum eines Mineralwassers entdeckt hatte. Die 63 Elemente, weiß er, unterscheiden sich in den Gewichten ihrer Grundbausteine, in den relativen Massen der Atome mit der Maßeinheit des leichtesten Atoms, des Wasserstoffs. Dass es Atome gibt, ist 1869 immer noch ein Postulat. Der Grieche Demokrit, der lachende Vorsokratiker, nahm es um 400 vor Christus jedenfalls an. Der Engländer John Dalton kam um 1800 im Labor bei seinen Untersuchungen der Luft und aller anderen Gase, die er fand, darauf zurück. Als Mendelejew seine 63 Elemente nach ihren Atomgewichten ordnet, pflegt der Physiker und Philosoph Ernst Mach, jedem, der ihm, wo immer er gerade lehrt, in Wien, Graz oder Prag, mit den Atomen kommt, zu fragen: »Haben S’ schon mal eins g’sehen?«

    Mendelejew hat noch kein Atom gesehen, aber er sieht seine lange Liste, die mit Wasserstoff anfängt und mit Blei aufhört. Er kennt seine Elemente. Seit Anfang des Jahres 1869 lesen die Studenten seine »Grundlagen der Chemie«, im ersten Band, über die Halogene Fluor, Chlor, Brom und Jod. Es ist das erste Lehrbuch der »Reinen Chemie«, wie Mendelejews Lehrstuhl für die anorganische Materie heißt, auf Russisch. Nun schreibt er am zweiten Band über die Elemente, mit denen die Halogene ihre Salze bilden: die Alkalimetalle Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium und Cäsium. Das Kapitel ist zum Wochenende fertig, vor der Fahrt nach Twer am Montag zu den Molkereien. Mendelejew, hier beginnt der Mythos, weiß nicht weiter in der Systematik seines Lehrwerks. Er grübelt die Nächte durch. Am Montag morgen legt er unter Zeitdruck noch einmal die 63 Spielkarten, die er mit den seit über 50 Jahren üblichen Symbolen für alle 63 Elemente beschriftet hat, wie Patiencen vor sich hin. Darüber nickt er ein und träumt das Periodensystem der Elemente. Alles fügt sich zur Tabliza Mendelejewa, so nennen es die Russen heute noch, nach 150 Jahren.

    Als Dmitri Mendelejew, der Messias der Materie, wieder erwacht, notiert er seine Ordnung auf der unbeschriebenen Rückseite eines Briefs, den ihm der Erste Sekretär der frisch gegründeten Agrargenossenschaft aus Twer geschickt hat. All das existiert: Der Brief aus Twer mit Mendelejews Handschrift und dem Abdruck seiner Teetasse als Stempel, der das Dokument beglaubigt, sein gewaltiger Schreibtisch und der schwere Sessel, seine Brille und der Federhalter sind in seiner Wohnung in der Universität verwahrt, auf der Sankt Petersburger Wassilewski-Insel in seinem Museum. Alles da, molekular und atomar. So stofflich wie die Stadt Peters des Großen aus dem Gold Sibiriens, das die Dachdecker als Amalgam mit Quecksilber auftrugen und sich mit den Giftdämpfen ihre Gesundheit ruinierten, und dem weißen Marmor aus den Kalksteinbrüchen auf der Krim. Sankt Petersburg war, als Chemie noch Alchemie war, Russlands Anschluss an Europa. Auf der Wassilewski-Insel wurde die Kultur des Kontinents zu Stein. Zur Kunstakademie und zur Akademie der Wissenschaften, zu Palästen, Kirchen und zur Universität, die Mendelejew 1867 zum Professor der reinen Chemie berief und 1890 zwangsemeritierte, weil er sich weder dem Herrn verpflichtet fühlte noch dem Zaren, sondern ausschließlich der Welterkenntnis und dem anarchistischen Materialismus. Bis zu seinem Tod zehn Jahre vor der russischen Revolution mit ihrem Schießpulver und den sozialen Kettenreaktionen, die das 20. Jahrhundert prägen sollten.

    Mendelejews rotes Haus im hanseatischen Barock beherbergt seine Dinge, seine Möbel, seine

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