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Müssen Eltern Psychologen sein?: Eine gesellschaftskritische Einführung in pädagogisch-psychologisches Basiswissen. Mit Akzentuierung der Wechselbeziehung zwischen Erziehung und dem Zustand der Gesellschaft.
Müssen Eltern Psychologen sein?: Eine gesellschaftskritische Einführung in pädagogisch-psychologisches Basiswissen. Mit Akzentuierung der Wechselbeziehung zwischen Erziehung und dem Zustand der Gesellschaft.
Müssen Eltern Psychologen sein?: Eine gesellschaftskritische Einführung in pädagogisch-psychologisches Basiswissen. Mit Akzentuierung der Wechselbeziehung zwischen Erziehung und dem Zustand der Gesellschaft.
eBook276 Seiten3 Stunden

Müssen Eltern Psychologen sein?: Eine gesellschaftskritische Einführung in pädagogisch-psychologisches Basiswissen. Mit Akzentuierung der Wechselbeziehung zwischen Erziehung und dem Zustand der Gesellschaft.

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Über dieses E-Book

Müssen Eltern Psychologen sein? Wörtlich genommen natürlich nicht. Eltern sollten aber über das entwicklungspsychologische Grundlagenwissen verfügen, das ihnen dabei hilft, ihre Kinder sicher durch die unterschiedlichen Entwicklungsphasen zu lotsen. Das Wissen über die Grundstrukturen der Persönlichkeitsentwicklung, über die einzelnen Phasen der Kindheit und die ihnen zugrunde liegenden Wünsche und Antriebe ist dabei allemal von großem Nutzen. Gerade für heutige Eltern, die ja in besonderer Weise die negativen Einflüsse unserer Gegenwartskultur zu spüren bekommen.

Klaus Lindenlaub (Jahrgang 1936), der sowohl als Pädagoge wie auch als Psychotherapeut beruflich tätig war, zeigt in eindringlicher Weise und leicht verständlich auf, worauf es bei der Erziehung im Wesentlichen ankommt. Der engagiert gesellschaftskritische und zuweilen zornige Grundton verleiht dem Text eine temporeiche Spannung, die das Buch bis zur letzten Seite zu einer fesselnden Lektüre macht.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Juli 2019
ISBN9783844842708
Müssen Eltern Psychologen sein?: Eine gesellschaftskritische Einführung in pädagogisch-psychologisches Basiswissen. Mit Akzentuierung der Wechselbeziehung zwischen Erziehung und dem Zustand der Gesellschaft.
Autor

Klaus Lindenlaub

Klaus Lindenlaub (Jahrgang 1936), der sowohl als Pädagoge als auch als Psychotherapeut beruflich tätig war, zeigt in eindringlicher Weise und leicht verständlich auf, worauf es bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen im Wesentlichen ankommt. Der engagiert gesellschaftskritische und zuweilen zornige Grundton verleiht dem Text eine temporeiche Spannung, die das Buch bis zur letzten Seite zu einer fesselnden Lektüre macht.

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    Buchvorschau

    Müssen Eltern Psychologen sein? - Klaus Lindenlaub

    Menschen

    EINFÜHRUNG

    „Wer mit dem Regulationssystem unserer Psyche vertraut ist, dem wird es leichter fallen, seine Situation zu durchschauen, die nötige Einsicht zu gewinnen und Probleme zu lösen." ¹

    Mit diesen Worten Max Lüschers soll Eltern – auch potentiellen – Mut gemacht werden, jene wichtigen Entwicklungsabläufe zu erkunden, die, wenn sie denn gelingen, die Voraussetzung dafür darstellen, dass sich das neugeborene Kind zu einer reifen Persönlichkeit entfalten kann. Die Worte sollen aber auch jene Menschen ermutigen, die von Lebensangst geplagt und verunsichert sind.

    In weiten Teilen unserer Gesellschaft gelten menschliche Tugenden wenig. Moral, Mitmenschlichkeit und Einfühlungsvermögen gelten als Persönlichkeitsschwäche. Diese Charaktereigenschaften sind heutzutage unattraktiv und somit auch die Menschen, die sich moralisch und einfühlsam verhalten. Egoismus, Hemmungslosigkeit und Machtmissbrauch gelten hingegen als Verhaltens merkmale starker Persönlichkeiten. Diesen bedauerlichen Umstand „verdanken" wir einer gesellschaftspolitischen Entwicklung, die auf rein materiellem Wertezuwachs basiert und in ihrer Gänze von immer mehr Menschen als immer bedrohlicher erlebt wird. Mit dieser Entwicklung entstand eine Gesellschaft, in der das Gefühl der Angst und infolgedessen auch Aggression und Gewalt stetig zunehmen. Es entstand das Spannungsfeld, das die Menschen seelisch belastet und sowohl die seelischen als auch die körperlichen Krankheiten zahlreicher werden lässt.

    Die für eine Vielzahl von Menschen immer bedrohlicher werdenden Veränderungen in der Gesellschaft vergrößern auch die Erziehungsmisere. Es ist heute leider schon traurige Normalität, dass beide Eltern arbeiten müssen, um das materielle Überleben der Familie zu sichern. Erziehungsarbeit von hoher Qualität, die dem Gemeinwesen reife Persönlichkeiten zuführt, ist deshalb von den Eltern kaum noch zu leisten. Folglich erwachsen den Elternhäusern zunehmend junge Menschen mit mehr oder weniger deutlichen Entwicklungsstörungen, weil sie schon ab den frühen Entwicklungsphasen das Gefühl von Geborgenheit selten oder gar nicht erlebten. Es wachsen aber auch solche Menschen heran, die ihre seelische Ausgewogenheit nicht finden, weil sie nur lernten, ihr Ego zu befriedigen. Und weil auch in unserer heutigen Gesellschaft sich meist nur Letztere durchsetzen, ist sie vornehmlich von Menschen geprägt, die von Moral wenig halten.

    Wenn wir bedenken, dass die Qualität der Erziehung sich nicht nur auf das Lebensschicksal der betroffenen Kinder auswirkt, sondern auch auf die Qualität der Gesellschaft – auf Sozialstruktur und Zeitgeist –, dann können wir ermessen, wie groß die Verantwortung ist, die Eltern mit der Erziehungsarbeit zu übernehmen haben. Deshalb ist für eine erfolgreiche Erziehungsarbeit der Erwerb von pädagogisch-psychologischem Grundwissen nötig.

    Eltern haben die Pflicht, erzieherische Kompetenz zu erwerben. Allerdings müssen sie die auch ausüben können. So ist zu fordern, dass die Gesellschaft dafür die Voraussetzungen schafft!

    Kinder müssen früh schon lernen, dass Krisensituationen nur mit ausgewogenen Verhaltensreaktionen vermeidbar und die nicht vermeidbaren nur damit zu bewältigen sind. Deshalb sollten alle Eltern dazu fähig sein, ihre Kinder möglichst störungsfrei durch die Vielzahl der frühen Entwicklungsphasen zu lotsen. Ziel der elterlichen Erziehungsarbeit muss also sein, die Kinder von der vorgeburtlichen Phase bis an die Schwelle des Erwachsenenalters so zu begleiten, dass sie soziale Kompetenz erwerben und mit den Herausforderungen des Alltags und der damit natürlicherweise einhergehenden Angst normal umgehen können.

    –––

    Der Autor ist ausgebildeter Lehrer. Er wurde schon während der Anfangsjahre seiner Lehrtätigkeit in besonderem Maße mit der Erziehungsproblematik und ihren Auswirkungen konfrontiert, sodass der Bereich der Sozialpädagogik zu seinem beruflichen Betätigungsfeld wurde und in Konsequenz daraus die Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten erfolgte. Im weiteren Verlauf seiner beruflichen Arbeit widmete er sich vornehmlich der Therapie von entwicklungsbedingten Verhaltensstörungen. Darüber hinaus beschäftigte er sich auf theoretischer Ebene mit dem Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft, mit den entwicklungs- und verhaltensbedingten Problemlagen, in die immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft auf unterschiedliche Weise geraten.

    Wer sich mit diesen Phänomenen ernsthaft auseinandersetzt, wird bemerken, dass es etliche Menschen gibt, die unter sich selbst und ihrer Situation leiden, während andere ihre Konflikte projektiv abwehren, indem sie andere leiden lassen, was wiederum den gegenwärtigen Zustand unserer sozialen und ökonomischen Lebenswirklichkeit prägt. Das vorliegende Buch, das die schicksalhafte Bedeutung der Erziehung zum Thema hat, soll Eltern an die Verantwortung erinnern, die sie mit der Elternschaft und dem damit verbundenen Erziehungsauftrag übernommen haben, – trotz oder gerade wegen des derzeit beklagenswerten Zustandes der Gesellschaft.

    Dieses Buch ist kein Rezeptbuch. Es soll vielmehr Grundlagenwissen vermitteln über die Entwicklungsabläufe, die schon in frühkindlicher Zeit die Persönlichkeit prägen und deren mögliche Störungsbilder, die für viele Eltern nicht erkennbar sind, oft aber schwerwiegende Folgen haben. Es soll Eltern zu Eigeninitiative anregen mit dem Ziel, die Erziehungswirklichkeit in diesem Lande zu verbessern und zu der Einsicht führen, dass nur reife Erziehungsleistungen die reifen Persönlichkeiten in die Gemeinschaft einbringen können, die imstande sind, jene maßlosen zu ersetzen, die derzeit die Gesellschaft prägen. Es bedarf reifer Persönlichkeiten in großer Zahl, um den schon längst fälligen Wandel dieser rein materiell ausgerichteten Gesellschaft in eine humane, dem Menschen besser dienliche herbeizuführen.

    Der Autor zeigt in diesem Buch einerseits Einflussfaktoren auf, die ursächlich für das Missverhältnis zwischen biologischer und psychischer Entwicklung sind, und beschreibt andererseits in Gegenmodellen, wie kindgerechte und ungestörte Entwicklungs- und Wachstumsprozesse möglich werden. Auch möchte er zum Nachdenken darüber anregen, weshalb es trotz aller pädagogischen Aufklärungsversuche noch immer nicht gelingen konnte, die Erziehung insgesamt zu verbessern!

    –––

    Gestatten wir uns nun einen Einblick in die körperlich-seelischen Zusammenhänge, die unserer individuellen Situiertheit wie auch den gesellschaftlichen Umständen zugrunde liegen. Dazu müssen wir uns zunächst mit unserem zentralen Regelsystem vertraut machen, das auf natürliche Weise alle psychophysischen Abläufe steuert, das unser Verhalten und unser Lebensschicksal beeinflusst. – Es ist das Regelsystem Angst! Wir setzen uns auseinander mit dem Wirkmechanismus „seelische Balance", mit der Bedeutung der Entwicklungsphasen und möglichen Störungen und Turbulenzen, mit dessen Folgen und den Versuchen, sie zu therapieren. Wir betrachten aber auch die heutigen gesellschaftlichen Umstände genauer und fragen, auf welche Weise sie die psychophysischen Abläufe aber auch die Erziehung im Elternhaus beeinflussen.


    ¹ Lüscher, Max: Das Harmoniegesetz in uns. Berlin (Ullstein) 2003.

    ANGST – GEFAHR ODER

    SCHUTZENGEL?

    Die Fehleinschätzung der Angst

    Hast du etwa Angst? Jeder Mensch kennt diese Frage, die stets mit einem mitleidigen Unterton gestellt wird. Die meisten unserer Mitmenschen beantworten die Frage selbstverständlich mit nein! Angst haben Feiglinge, und die sind nicht gesellschaftsfähig. Wer Angst hat, gilt als Schwächling; wer keine hat, dem wird Persönlichkeitsstärke attestiert. So einfach scheint das mit der Angst zu sein. Jedenfalls hat diese ebenso naive wie unsinnige Ansicht bis heute Bestand und beeinflusst das Verhalten der meisten Menschen. So muss man, um von der Außenwelt akzeptiert zu werden, die Angst verleugnen oder kaschieren, wenn sie sich denn zeigt.

    Angst macht depressiv, vermindert die Leistungsfähigkeit, macht krank. Auch das hören wir allerorten. Und so steht die Angst auch im Verruf, eine Gefahr für unsere Gesundheit zu sein, obwohl sich der Mensch in Wahrheit selbst in diese Gefahr bringt und sie aufgrund seines gestörten Verhältnisses zur Angst selbst zu verantworten hat. Wir haben die Angst nicht, damit sie uns krank macht. Mit ihrem Erscheinen in unserem Wachbewusstsein weist sie lediglich auf aktuelle wie auch auf verdrängte Konflikt- oder Gefahrensituationen hin und zeigt uns Fehlverhalten auf. Angst meldet sich, wenn wir uns in realen Gefahrensituationen befinden. Sie meldet sich aber auch dann, wenn wir Gefahr nur vermuten. Wenn sie erwartet wird, also lediglich in der Vorstellung existiert. Ob Angst aufgrund ihrer Funktionsweise der Gesundheit schadet oder nicht, das hängt ganz allein davon ab, wie wir gelernt haben, mit ihr umzugehen.

    „Wer keine Angst hat, der glänzt mit aggressivem Verhalten. Und dessen Intensität ist das Maß für Persönlichkeitsstärke, die man aggressiv auftretenden Menschen tatsächlich einräumt!" Diese Ansicht ist noch immer Teil eines absurden Angstverständnisses, das in den Köpfen vieler Menschen verankert ist. Vernunftbezogenes Verhalten, das von der Bereitschaft zum Kompromiss geprägt ist – von Einsicht und Rücksichtnahme, wird allgemein als Eingeständnis von Schwäche abqualifiziert. Und so geschieht es, dass viele Menschen, die in Angstproblematik verstrickt sind, die Angst mit betont aggressivem Verhalten nach außen kaschieren und sie auch so auszuleben suchen.

    Infolge der sich mehrenden allgegenwärtigen Angst, sind in unserer Lebensrealität auch die zwischenmenschlichen Beziehungen zunehmend von Aggressivität geprägt. Die Palette reicht von Unhöflichkeit bis zu Gewaltanwendung, – mit deutlicher Tendenz zu extremen Formen, weil die Hemmschwelle der Täter immer niedriger wird. Und die Konzepte, die den Politikern dagegen einfallen, offenbaren bestenfalls deren Hilflosigkeit gegenüber dieser Entwicklung. Anstatt die Ursache der steigenden Angst in der Gesellschaft zu beseitigen und parallel dazu die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wird das getan, was am einfachsten ist: Der Druck auf die Allgemeinheit wird verstärkt und damit noch mehr Angst in die Gesellschaft eingebracht.

    Entgegen der allgemeinen Annahme, Angst sei lediglich in den unterschiedlichen Varianten von Fluchtverhalten erkennbar, zeigt sie sich also auch in jeglicher Art von Aggressivität. Und das in zwei grundlegenden Formen: zum einen in Eigenbestrafung – in Aggressivität, die sich gegen die eigene Persönlichkeit richtet, – zum anderen zeigt sie sich in nach außen gerichteter Aggressivität. Und eben diese Form des Angstverhaltens – die nach außen gerichtete Aggressivität – bekommen wir heute weltweit in eindrucksvoller Weise zu spüren.

    –––

    Angst wird in unserer Gesellschaft allgemein falsch beurteilt. Viele Menschen sehen in der Angst eine Gefahr und fühlen sich mit ihrem Erscheinen durch sie bedroht. Diese irrige Ansicht treibt Betroffene, aber auch viele Therapeuten in den sinnlosen Kampf gegen die Angst.

    Glücklicherweise wird es niemandem jemals gelingen, die Angst zu besiegen. Könnten wir das und täten wir es auch, dann würden wir unser perfekt funktionierendes Alarmsystem zerstören, das Gefahren verlässlich meldet, das in uns die Energie bereitstellt, die uns befähigt, diese Gefahren zu beseitigen. Wir würden das Alarmsystem zerstören, das uns bei allen Herausforderungen, vor die wir im Leben gestellt werden, zur Seite steht, uns Fehler im Umgang mit den Alltagsereignissen signalisiert und Defizite in unserer Persönlichkeitsentwicklung aufzeigt. Wir würden uns eines Alarmsystems berauben, das uns durch alle Entwicklungsstufen des Lebens begleitet. Durch alle Höhen und Tiefen. Wir würden uns des Teils unserer Seele berauben, welcher das Wachstum unserer Persönlichkeit ermöglicht, uns sowohl vor Torheit als auch vor ernstem Schaden warnt und schlussendlich unser Leben in dieser Welt möglich macht. Allein schon die Vorstellung, ein Signal bekämpfen und überwältigen zu wollen, das uns vor Gefahren warnt, ist absurd. Niemand käme auf die Idee, einer Feuerwehr zu applaudieren, die, anstatt den Brand zu löschen, das Feuermeldesystem zerstört. Glücklicherweise löscht sie aber den Brand! Und auch bei einem blinden Alarm richtet sich der Zorn des Feuerwehrhauptmanns nicht gegen das Alarmsystem! – Sinnvollerweise bestraft man den Täter.

    Die Wirkungsweise der Angst

    Zum Glück haben wir alle Angst. Sie ist unverzichtbar für die Existenz des Menschen. Als wesentlicher Teil der menschlichen Persönlichkeit begleitet die Angst uns ein Leben lang, obwohl uns das nicht ständig bewusst ist. Sie begleitet uns, weil dieses Leben – neben der Pflicht, es zu erhalten – von uns fordert, die Persönlichkeit optimal zu entfalten. Denn das Leben erschöpft sich nicht nur in der Bewahrung von Vorhandenem und Erreichtem. Es fordert auch das Bekenntnis zu Wandlung und Vergänglichkeit – ermuntert uns deshalb oft zu neuer, sinnvoller Zielsetzung. In diesem Kontext reflektiert Angst das im Unterbewusstsein gespeicherte Wissen um all die Unwägbarkeiten, Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten, die der Mensch im Laufe seines Lebens zu meistern hat. Sie reflektiert aber auch unsere Verletzbarkeit und Endlichkeit.

    Im Normalfall nehmen wir die Angst nicht ständig wahr, denn sie ist im unbewussten Bereich unseres Bewusstseinssystems angesiedelt und dort in ständiger Bereitschaft. Wahrnehmbar ist Angst für uns nur dann, wenn sie das Wachbewusstsein erreicht. Angst begleitet uns bei allen biologischen, seelischen und geistigen Entwicklungsschritten. Sie hilft Triebwünsche zu kontrollieren und warnt davor, sich zu viel auf einmal zuzumuten. Sie warnt aber auch bei Untätigkeit. Das geschieht dann, wenn wir untätig sind, obwohl Handlungsbedarf besteht. Sie begleitet uns, damit wir ein Persönlichkeitsprofil entwickeln, das wir der Welt, in die wir hineingeboren sind, entgegenstellen können. Als Teil einer unserer seelischen Zentralfunktionen steuert sie Meinungsbildungsprozesse, Entscheidungen, Aktivitäten. Sie beeinflusst Verhalten und Körpersprache, Denken und Handeln und zeigt sich in unseren Eitelkeiten. Sie beeinflusst das gesamte Erscheinungsbild des Menschen in seinem Umfeld. Über das vegetative System steuert sie die Körperfunktionen und beeinflusst die Befindlichkeit. Sie dient uns in dieser Welt als Orientierungshilfe und fordert uns stets neu auf, uns mit ihr in realistischer Weise auseinanderzusetzen, egal in welcher Maske sie sich zeigt. Angst ist Alarmsignal und zugleich auch Steuerimpuls eines perfekten Überlebenssystems. Sie meldet sich in unserem Wachbewusstsein stets dann, wenn wir uns in realen Gefahrensituationen befinden und diese als solche erkennen, aber auch, wenn wir uns in Problemsituationen verstricken. Angst erreicht das Wachbewusstsein ebenfalls, wenn wir uns in Situationen befinden, die nicht oder noch nicht überschaubar sind oder wenn wir im Umgang mit diesen noch keine Erfahrung haben.

    So, wie sie jede Gefahrensituation anzeigt, fordert die Angst von uns, die Ursache ihres Erscheinens unverzüglich zu beseitigen. Bis das geschehen ist, erleben wir sie seelisch und körperlich als Anspannung. Dieser Zustand hält so lange an, wie die bedrohliche Situation besteht. Die Angst verschwindet wieder und mit ihr auch die innere Anspannung, wenn ihre Botschaft erkannt und die Ursache ihres Erscheinens beseitigt ist. Die Angst zieht sich zurück, wenn sie nicht mehr nötig ist. Sie verschwindet sodann aus unserem Wachbewusstsein und tritt wieder ihren „Bereitschaftsdienst" im unbewussten Bereich unseres Bewusstseinssystems an. Das geschieht ohne die Notwendigkeit, gegen die Angst kämpfen zu müssen! Mit der Aufforderung an uns, die von ihr gemeldete Konfliktsituation oder Gefahrenursache unverzüglich zu beseitigen, verweist die Angst auf die hohe Anforderung, die das Leben an unsere Persönlichkeit stellt. So, wie die Angst in ihrer Funktion, die sie erfüllt, uns häufig die Grenzen des aktuellen Entwicklungsstandes unserer Persönlichkeit aufzeigt, fordert sie uns zugleich auf, mangelnde Überschaubarkeit einer noch nicht bekannten Situation mit einem entsprechenden Wachstumsschritt auszugleichen. Egal ob wir uns dazu in der Lage fühlen oder nicht.

    Wer das Glück hatte, aus den frühkindlichen Entwicklungsphasen heraus, über Pubertäts- und Adoleszenzphase einigermaßen unbeschadet ins Erwachsenenalter hinein gewachsen zu sein, dem gelingt es normalerweise, einen realen Bezug zu den Anforderungen aufzubauen, die das Leben an uns stellt. Ein solcher Mensch stellt sich diesen Anforderungen und trifft Entscheidungen zu ihrer Erfüllung. Ihm gelingt der in jeder neuen Herausforderung enthaltene Lernprozess, er wird reicher an Erfahrung und lernt den problemlosen Umgang mit der Angst. Damit gelingt ihm auch, in Übereinstimmung mit dem biologischen Reifeprozess, der Reifeprozess von Seele und Geist. Solche Frauen und Männer erwerben ein ausgewogenes Selbstwertempfinden. Das bringt ihnen Sicherheit und Gelassenheit, Eigenschaften, die es ermöglichen, Chancen wahrzunehmen und Lebensvorgänge optimal zu organisieren. Sie sind die Basis für Erfolgserlebnisse, die dann das weitere Wachstum der Persönlichkeit möglich machen. Wer dieses Glück nicht hatte, wer hingegen lernte, die Botschaft der Angst falsch zu interpretieren oder die sie auslösenden Vorgänge zu verdrängen, der wird in seinem seelisch-geistigen Reifeprozess stagnieren. Der wird auch als Erwachsener die Herausforderungen des Lebens mit mehr oder weniger ausgeprägten kindlichen Verhaltensmustern beantworten.

    –––

    Angst fordert einerseits Aktivität, zum anderen kann sie aber auch lähmen. Sie treibt uns zum Handeln, wenn Nichtstun uns schadet. Sie gebietet Einhalt, wenn Aktivität schaden würde. Auch dieser Aspekt verweist auf unsere Pflicht, mit der Angst richtig umzugehen, sie zu verstehen und ihr Wirken zu respektieren. Angst kennt keine Sprache. Sie vermittelt uns ihre Botschaft über die Gefühle, über Lust oder Unlust, Unbehagen und Aggression. Und mit all diesen Empfindungen verbunden ist das entsprechende Maß an körperlicher und seelischer Spannung.

    Angst gebietet Einhalt, wenn wir Situationen meistern wollen, die nicht zu bewältigen sind. Würde in solchen Situationen Leichtsinn mit Mut verwechselt, würde die Angst missachtet und die Blockade, die sie auslöst, gewaltsam überwunden, dann würden wir Schaden erleiden. Wären wir als Ungeübte so dreist und wollten z.B. über ein in fünf Meter Höhe gespanntes Drahtseil laufen, dann würden wir schon auf dem Weg zu diesem Seil von Unlust geplagt. Würden wir es dennoch wagen, einen Fuß auf das Seil zu setzen, dann würden wir vor Angst erstarren. Die Angst würde uns mit einer so hohen körperlichen und seelischen Anspannung belasten, dass wir vernünftigerweise das Vorhaben abbrechen. Würden wir aber, wider jegliche Vernunft, hier die Angst überwinden, dann würde uns das Schicksal des gefallenen Helden ereilen. Ein in der Disziplin des Seillaufens geübter Artist hingegen vollzieht dieses Vorhaben mit Gelassenheit, so als absolviere er einen normalen Spaziergang. Der Artist hat nämlich vordem schon Entwicklungsschritte vollzogen, die ihn zu diesem extremen Tun befähigen. Wenn er über das Seil läuft, dann hat die Angst keinen Anlass, sich zu melden.

    Angst bremst eben nur dann, wenn wir uns Situationen stellen, denen wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Mit dem Verstand haben wir allerdings zu prüfen, ob es für uns erstrebenswert ist, beispielsweise über ein Seil laufen zu können oder nicht. Auch das ist Teil der Botschaft, die in der Angst verborgen ist.

    Als annehmbare Herausforderung sind Situationen oder auch Vorhaben stets nur dann tauglich,

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