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Bunkerrepublik Deutschland: Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs
Bunkerrepublik Deutschland: Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs
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eBook362 Seiten4 Stunden

Bunkerrepublik Deutschland: Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs

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Über dieses E-Book

Führende westdeutsche Militärs, Ingenieure und Zivilverteidiger waren im Kalten Krieg der 1950er- und 1960er-Jahre von einer Idee umgetrieben: Geopolitische Fragen müssen im dreidimensionalen Raum ausgefochten werden! Doch wie wurde diese Idee umgesetzt und was genau bedeutete das für die Bundesrepublik und ihre Bevölkerung?
Mit Hilfe der kritischen Sozialtheorie und der Analyse eines weit gefassten Spektrums von Quellen untersucht Ian Klinke insbesondere die zwei komplementären architektonischen Strukturen unter der Erde, die das Leben im Atomkrieg sowohl schützen als auch vernichten sollten: den Atombunker und das taktische Atomwaffenlager. Die Konsequenz daraus ist eine notwendige Neubewertung der Geschichte der Geo- und auch der Biopolitik.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Apr. 2019
ISBN9783732844548
Bunkerrepublik Deutschland: Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs
Autor

Ian Klinke

Ian Klinke ist Associate Professor für Human Geography an der University of Oxford und Fellow am St John's College, Oxford. Seine Forschung befasst sich mit den Relikten des Kalten Krieges und Fragen der Geopolitik.

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    Buchvorschau

    Bunkerrepublik Deutschland - Ian Klinke

    Kapitel 1 – Die Erde und das politische Leben

    DER TOD DER DEUTSCHEN GEOPOLITIK

    Erstmalig befassten sich deutsche Geographen wie Friedrich Ratzel (1844-1904) und Karl Haushofer (1869-1946) im späten 19. Jahrhundert mit der Frage, welchen Einfluss die geographische Lage, das Klima oder der Zugang zu Bodenschätzen auf den Aufstieg und Niedergang einer Nation haben. Aufbauend auf populären, naturwissenschaftlichen Ideen und Konzepten wurde die deutsche Geopolitik bekannt für die Entwicklung einer politischen Theorie, die sowohl die territoriale Konfiguration der Weltpolitik als auch das Phänomen zwischenstaatlicher Kriege naturalisierte. Während auch anderswo geopolitische Traditionen wie Pilze aus der Erde schossen, stach die deutsche Geopolitik durch ihr Verständnis vom Staat als organischer, politischer Lebensform heraus; der Staat erschien so als ein Organismus, der sein Überleben durch die Eroberung und Verteidigung von Lebensraum absichern müsse. In dem Sinne, dass sie eine Theorie des Zusammenspiels von Leben und Raum artikulierten, waren diese Ideen sowohl biopolitisch als auch geopolitisch. Tatsächlich verdanken wir die beiden Begriffe ‚Geopolitik‘ und ‚Biopolitik‘ Rudolf Kjellén (1864-1922), einem anderen Anhänger Ratzels (Kjellén 1920: 94).

    Ähnlich wie Halford Mackinders britische Geopolitik (siehe insbesondere Kearns 2009; Mackinder 1904), starrte die deutsche Geopolitik wie gebannt auf das, was sie als ewigen Kampf zwischen Land- und Seemacht sah. Tatsächlich plädierte Haushofer angesichts der von ihm so verstandenen Vorherrschaft der angloamerikanischen Seemächte für eine Allianz der Kontinentalmächte Deutschland und Russland. Haushofer und seine Zeitgenossen trieb zudem eine malthusianische Sorge vor Übervölkerung um und sie wünschten, dass Deutschland aus einer ungünstigen Zentrallage in Europa ausbrechen und ein alle Deutschen umfassendes Großdeutschland werden solle (Haushofer 1926: 532). Ausgehend von dem Wunsch nach Autarkie erhoffte sich die deutsche Geopolitik eine vom Außenhandel unabhängige Wirtschaft. Kjellén vertrat die Meinung, ein Nationalstaat müsse, „wenn nötig, in der Lage sein, völlig autonom zu agieren, „hinter geschlossenen Türen (Kjellén 1917: 162).

    Die Vertreter der deutschen Geopolitik sollten sich schon bald durch ihre Werbung für ihre Sicht vom Staat als Organismus einen Namen machen, einem Organismus, der wachsen und schrumpfen konnte und der in dem ‚Boden‘ verwurzelt war, auf dem er stand. In der Auseinandersetzung mit den darwinistischen Ideen seiner Zeit beschrieb Ratzel das Verhalten eines Staates als Kampf ums Dasein, den er tatsächlich aber als Kampf um Raum verstand (Ratzel 1901). Um zu überleben, musste Deutschland seiner Meinung nach diesen Lebensraum ausweiten. Dies führte zu einer Betonung des Raumes als Gradmesser des Gesundheitszustandes eines Staates. Rudolf Kjellén erschienen Bevölkerungsverluste für einen Staat sogar weniger problematisch als Gebietsverluste (Kjellén 1917: 57). Schließlich war die Geopolitik besessen von den Fragen nach Tod, Untergang und Zerstörung, Leitmotiven also, die ihren Ursprung in der sozialdarwinistischen Beschäftigung mit Überleben und Aussterben/Ausrottung und in einem zyklischen Verständnis von Geschichte hatten. Schlüsselmedium für die Verbreitung geopolitischer Ideen in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieges war die von Karl Haushofer und Kurt Vowinckel 1924 gegründete Zeitschrift für Geopolitik.

    Die deutsche Geopolitik wäre vielleicht nicht viel mehr als eine Fußnote der Weltgeschichte geblieben, wäre Karl Haushofer nicht 1924 einem noch relativ unbekannten, in Österreich geborenen Politiker vorgestellt worden, Adolf Hitler, der damals gerade sein Buch Mein Kampf schrieb. Angesichts der geopolitischen Einfärbung wesentlicher Teile dieses Buches wurde Haushofer in den Vereinigten Staaten als der Vordenker hinter der nationalsozialistischen Außenpolitik angesehen (Ó Tuathail 1996). Diese Vorstellung von Haushofer als Grauer Eminenz, dessen (fiktives) Institut für Geopolitik die nationalsozialistische Außenpolitik entwickelt habe, hat sich als Mythos erwiesen (Murphy 2014; siehe nächstes Kapitel). Tatsächlich war Haushofers Theorie „schon lange in Hitlers sich immer weiter beschleunigenden diplomatischen Krisen und Kriegen untergegangen (Herwig 1999: 236; siehe auch Murphy 1997: 244). Auch wenn nationalsozialistische Ideologen bis weit in die Kriegszeit hinein Texte zum Thema Lebensraum veröffentlichten (Daitz 1943), standen Haushofers und Ratzels geopolitische Ansichten durchaus im Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie, weil sie zur biologisch begründeten Rassentheorie des Dritten Reichs ambivalent blieben (Bassin 1987a). Trotz dieser entscheidenden ideologischen Spannung und der Tatsache, dass Haushofer bei den Nationalsozialisten sogar in Ungnade gefallen war, wurde er schon während des und verschärft nach dem Krieg für seine Ideen angegriffen und beging 1946 Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief forderte er, „vergessen und vergessen zu werden (Haushofer 1946).

    Die Geschichte dieses „Teufelspaktes" von deutscher Geopolitik und Nationalsozialismus ist in der Geschichte der Geopolitik bis heute ein bestimmendes Phänomen (Barnes & Abrahamsson 2015: 64).¹ Diese Geschichte der Geopolitik wird fast immer gleich erzählt, nämlich als die einer begrenzten Epoche, die mit der Veröffentlichung von Ratzels „Politische Geographie" 1897 begann und 1946 mit Haushofers Selbstmord endete (Agnew 2003; Dodds 2007; Dittmer & Sharp 2014; Mamadouh 2005; Ó Tuathail 1996). Natürlich bedeutet das nicht, dass auch die Geschichte der Geopolitik 1946 endete, denn diese spielte während des Kalten Krieges eine zentrale Rolle, wie von führenden politischen Geographen bezeugt wird (Dalby 1988; 1990a; 1990b; Dodds 2003; Ó Tuathail 1996). Allerdings tendiert die Literatur dazu, das Überleben der Geopolitik nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Ablehnung ihrer deutschen Variante zurückzuführen. In dieser Lesart scheint Geopolitik im Kalten Krieg, so wie sie sich in den USA und anderen Ländern artikulierte, ohne die düsteren, biopolitischen Komponenten Ratzel’scher oder Haushofer’scher Provenienz auszukommen (Werber 2014: 143). Dies allerdings stimmt keinesfalls, wie wir sehen werden.

    Selbst in Werken derer, die gezielt nach Überresten der deutschen Geopolitik nach 1945 gesucht haben, wird die Geopolitik überwiegend als mundtot angesehen – sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). In diesem Sinne sprechen deutsche Nachkriegsgeographen wie Troll (1949: 135) und Boesler (1983: 44) wie selbstverständlich vom Kollaps der deutschen Geopolitik (vgl. auch Michel 2016: 137). Andere betrachteten die Sub-Disziplin der Politischen Geographie als marginalisiert (Kost 1988: 2), wobei der gesamte Diskurs der Geopolitik stigmatisiert worden sei (Kost 1989: 369). In jüngerer Zeit klagte der Historiker Karl Schlögel (2011: 12) über eine „verschwundene Tradition räumlichen Denkens in Deutschland und der Geograph Paul Reuber (2009: 90) sprach von „Jahrzehnten fast völligen Stillschweigens der Geopolitik in der deutschsprachigen Wissenschaft. Wieder andere gingen so weit zu erklären, die Bundesrepublik habe nach 1945 ihre Geopolitik „zivilisiert" und die Kampfstiefel gegen Birkenstock-Sandalen eingetauscht (Bachmann 2009).² Ein Echo dieser Denkungsart findet sich in der Idee, im frühen 21. Jahrhundert sei die sogenannte „Deutsche Frage lediglich in geo-ökonomischer und nicht in geopolitischer Form wieder aufgeworfen worden (Kundnani 2014) oder in der kruden Behauptung, die Bundesrepublik sei heute eine „quasi-pazifistische Macht (Kaplan 2012: 11).

    Die Formulierung einer Idee des ‚Schweigens‘ zu geopolitischen Konzepten und Ideen wirkt so, als ob die Deutschen sich dem Wunsch Haushofers fügten, ihn intellektuell zu vergessen. So wurde etwa sein politisches Testament als „Begräbnis bezeichnet, das den „Abgang der deutschen Geopolitik nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg beschrieben habe (Giles 1990: 13). Aber wir sollten Haushofer – oder seinen Gegnern – nicht den Gefallen tun, die Ideen der deutschen Geopolitik generell als mit ihm zusammen verschwunden zu betrachten. Auch wenn politische Geographie in Deutschland nur noch eine Randerscheinung der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin war und die Terminologie der Geopolitik in der deutschen Politik tatsächlich mit einem Tabu belegt wurde, so sollte man das doch nicht als Beleg dafür verstehen, dass alles, was zum Thema Geopolitik in Deutschland geschrieben wurde, tatsächlich tabuisiert war. So haben z.B. Bach und Peters (2002: 1) angemerkt, dass Geopolitik „in der bundesdeutschen Politik immer ein Faktor geblieben war". Sprengel stellte jedoch bereits 1996 fest, solche Thesen müssten noch im Detail überprüft werden (Sprengel 1996: 36).

    So hat dieses Buch die Aufgabe zu ergründen, was aus dieser Politik der Erde und des Lebens nach 1945 geworden ist. Es verfolgt die These, dass im Deutschland des 20. Jahrhunderts ein zweiter Versuch unternommen wurde, Geo- und Biopolitik in die Praxis umzusetzen. Ausgelöst durch das ebenfalls geopolitische Projekt des Kalten Krieges beschäftigte sich in den 50er und 60er Jahren die Bundesrepublik Deutschland erneut und geradezu zwanghaft enthusiastisch mit Fragen des nationalen Überlebens und des Raumes. Wie das Dritte Reich drückte auch der Kalte Krieg seine Logik von Überleben und Vernichtung in materieller Form aus. Dieses – paradoxerweise subterrane – Wiederauftauchen der Geo- und Biopolitik in architektonischer Form ist besonders rätselhaft, wenn man die Stigmatisierung von Geo- und Biopolitik im Deutschland der Nachkriegszeit bedenkt. Nationalsozialistischer Imperialismus und die medikalisierende Logik der Vernichtung wurde zuerst von den Alliierten und dann auch von der Mehrheit der Deutschen als die Wurzel einer nicht nur nationalen, sondern globalen Katastrophe gesehen.

    Wenn wir das Paradoxon erklären wollen, wie das spezifische Amalgam von Geo- und Biopolitik sein eigenes Begräbnis überleben konnte, müssen wir nicht nur den intellektuellen Diskurs berücksichtigen, in dem Ratzels und Haushofers Konzepte in den 50er Jahren zögerlich wieder in Erscheinung traten, sondern auch die militärischen Hinterlassenschaften des Kalten Krieges über und unter der Erde. Denn genau hier können wir ein Gespür dafür gewinnen, wie diese Fixierung auf Räume des nationalen Überlebens selbst überleben konnte. Wie ich weiter unten ausführen werde, verwandelte der Kalte Krieg die nationalsozialistische Vorstellung der Eroberung von neuem Lebensraum in die etwas bescheidenere, allerdings ebenfalls bio- und geopolitische Idee, Überlebensräume finden zu müssen.

    WESTDEUTSCHLAND UND DIE BOMBE

    Nach dem Untergang des Dritten Reichs verschwand Deutschland als Großmacht von der europäischen Landkarte. Angesichts des Ausmaßes der Niederlage und der deutschen Kriegsverbrechen mussten die beiden Nachfolgestaaten international vorsichtig auftreten. Nach ihrer Gründung 1949, nur drei Jahre nach Haushofers Tod, lehnten die Bundesrepublik und die DDR nicht nur die Vernichtungspolitik des Dritten Reichs ab, sondern auch die geopolitischen Traditionen, die jetzt als die treibende Kraft hinter der nationalsozialistischen Expansion gesehen wurden. Der Terminus Geopolitik wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg im westdeutschen politischen Diskurs kaum jemals benutzt, es sei denn, man wollte einen politischen Gegner diskreditieren.

    Man sollte sich jedoch von diesem Tabu, mit dem die Geopolitik als Denkmodell in Westdeutschland belegt war, nicht täuschen lassen, denn Geopolitik als Diskurs über globale Machtkämpfe war weiterhin sehr lebendig. In seiner Abhängigkeit von seinen westlichen Alliierten nahm der junge westdeutsche Staat sehr schnell eine recht radikale neue Variante der Geopolitik des Kalten Krieges an. Von den frühen 50er Jahren an schoben sich wieder antisowjetische Stimmungen in den Vordergrund, die von früheren Wehrmachtsgenerälen und auch von Teilen der politischen Elite des jungen Staates getragen wurden. Einige dieser neuen Geopolitiker wurden kurz danach zu Beratern der neuen westdeutschen Armee, der Bundeswehr, und ihre Ideen waren durchaus auch kongruent mit den politischen Vorstellungen Konrad Adenauers (Bundeskanzler von 1949-1963). Als überzeugter Antikommunist war Adenauer schon bald für seine ‚Politik der Stärke‘ gegenüber der Sowjetunion und für die klare ‚Westbindung‘ der bundesdeutschen Außenpolitik bekannt. Bis in die 70er Jahre und vielleicht sogar noch länger waren beides wichtige Vektoren des außenpolitischen Narrativs der Bundesrepublik.

    Adenauer vermied sorgfältig jeden Anklang an die nun diskreditierte Terminologie des Lebensraums, seine Lebensanschauung war jedoch geopolitisch geprägt. 1954, im selben Jahr, in dem ihn das Time Magazin zum „Mann des Jahres" erklärte, erschien bei Life eine Sonderausgabe über den neuen westdeutschen Alliierten, in der Adenauer seine Sicht der Dinge darlegte. In geopolitischer Manier erklärte er seinen amerikanischen Lesern, ein Atlas der Weltgeschichte zeige „viel unmittelbarer, als jedes Geschichtsbuch es könne, dass „das noch freiheitliche Gebiet der europäisch-asiatischen Landmasse in Europa erschreckend klein geworden sei, „seitdem Russland die Elbe erreicht" habe (Adenauer 1954: 26). Für Adenauer war die Elbe, damals Teil des Eisernen Vorhangs, nichts weniger als die Grenze zwischen westlicher Zivilisation und östlicher Barbarei. Schon 1946 warnte er, „Asien steht an der Elbe, eine Formulierung, die mit bekannten, xenophoben Assoziationen der Sowjetunion gegenüber spielte (Adenauer 1946). Adenauer erklärte, „die Bundesrepublik ist von dem aggressiven Imperialismus Sowjetrusslands bedroht und vertrat die Meinung, die Sowjetunion werde einfach den Rest Europas überrennen, sollte sie zum Rhein vorstoßen (Adenauer 1949) und damit die Vereinigten Staaten aus Westeuropa hinaustreiben (Adenauer 1951). Angesichts der westdeutschen ideologischen Kompatibilität im Kampf der Westalliierten gegen die UdSSR und der strategischen Position, die die Bundesrepublik in Mitteleuropa einnahm, durfte Adenauers Bundesrepublik 1955 dem Nordatlantikpakt (NATO) beitreten.

    Abb. 1.1 Wahlplakat der CDU (1949). Abb. 1.2 Konrad Adenauer bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten (1961).

    Abb. 1.3 Parade taktischer Atomwaffen auf dem Nürburgring (1969).

    Während Westdeutschland sich in eine Militärallianz integrierte, die sich auf einen Krieg mit der Sowjetunion vorbereitete, hatte es ein Interesse daran, den Ausbruch eines solchen Krieges zu verhindern. Ein dritter Weltkrieg hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Atomkrieg entwickelt und hätte das zweite Mal innerhalb weniger Jahre die völlige Zerstörung des Landes bedeutet. Als halbsouveräner Staat an vorderster Front waren die strategischen Möglichkeiten Westdeutschlands naturgemäß begrenzt. Anstatt sich auf das Experiment einer Neutralitätspolitik einzulassen, waren die frühen, CDU-geführten Bundesregierungen überzeugt, man könne die Unabhängigkeit von der Sowjetunion nur durch die Anbindung an den Nordatlantikpakt und dessen Politik atomarer Abschreckung garantieren.

    Tatsächlich lehnte Adenauer mehrfach die Idee einer deutschen Neutralität mit dem Argument ab, „[i]n einem großen Atomkrieg würden die radioaktiven Wolken, vom Winde, den wir doch wahrhaftig nicht aufhalten können, getrieben, auch über ein neutralisiertes oder sich für neutral erklärendes Deutschland hinweggehen" (Adenauer 1957). Die Regierung in Bonn, der neuen westdeutschen Hauptstadt, stand daher hinter der atomaren Aufrüstung der NATO-Staaten, denn die Irrationalität eines Atomkrieges schien die einzige Chance, einen konventionellen Krieg auf ‚deutschem Boden‘ zu verhindern. Deshalb setzte sich Bonn nach dem Beitritt zur NATO 1955 für eine kompromisslose Politik nuklearer Abschreckung ein. Der junge halbsouveräne Staat war sogar bereit, sein eigenes Atomwaffenprogramm zu entwickeln, wurde aber frühzeitig gezwungen, auf alle Ambitionen zu verzichten, atomare, biologische oder chemische Waffen zu erwerben. Zu brisant war die Vorstellung, Bonn könne erreichen, woran das Dritte Reich gescheitert war. Allerdings entwickelte der Nordatlantikpakt schon bald einen Kompromiss in Form des Konzeptes der nuklearen Teilhabe, der es Nicht-Nuklearmächten wie Deutschland ermöglichte, sich im Sinne der nuklearen Planung an der Stationierung und dem Einsatz von Atomwaffen zu beteiligen. In der Konsequenz konnten die Westdeutschen einen nuklearen Status so zumindest simulieren.

    In gewisser Hinsicht erlaubte diese Politik Bonn die Teilhabe lediglich an dem, was im Grunde bereits begonnen hatte, nämlich der Aufrüstung des westdeutschen Staatsgebietes mit US-amerikanischen taktischen Atomwaffen. Solche Kurzstreckenraketen und -bomben waren vor allen Dingen für den Einsatz in der Schlacht entwickelt worden und erbrachten deshalb eine geringe Zerstörungsleistung als sogenannte strategische Atomwaffen, welche von Flugzeugen aus eingesetzt oder später von Atomwaffensilos oder Atom-U-Booten aus abgeschossen wurden und als Ziel die Vernichtung großer militärischer Anlagen oder ganzer Städte hatten. Zwar sollten taktische Nuklearwaffen die militärische Schwäche der westeuropäischen Länder bei den konventionellen Waffen gegenüber der Sowjetarmee ausgleichen, ihr „tatsächlicher militärischer Wert konnte jedoch nie überzeugend dargelegt" werden (Freedman 2013: 171). Bedenkt man, dass taktische Atomwaffen häufig mobil eingesetzt werden konnten, so waren sie einem feindlichen Angriff viel weniger ausgesetzt als unbewegliche Atomraketensilos. Damit waren sie in ihrer tatsächlichen Wirkung nur schwer einzuschätzen, konnten aber einen konventionellen Krieg eskalieren lassen und ihn in ein nukleares Armageddon verwandeln.

    Seit ihrem Beginn in den 50er Jahren war die Stationierung von Atomwaffen bei der politischen Führung in Bonn auf wenig Widerstand gestoßen. Um jedoch einen Konsens innerhalb der Bevölkerung zu erreichen, musste die Regierung die Gefährlichkeit dieser neuen Waffensysteme verharmlosen. So erklärte Bundeskanzler Adenauer 1957, „die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie (Der Spiegel 1957a). Von Historikern wurde in den späten 80er Jahren darauf hingewiesen, dass man den an der Grenze zum Warschauer Pakt stationierten deutschen Bundeswehrsoldaten „die Aufgabe, einen sowjetischen Angriff so lange aufzuhalten, bis die NATO ihre Atomsprengköpfe über ihnen zur Explosion bringen konnte, gegeben und sie so „in einem zukünftigen Krieg zum Kanonenfutter degradiert habe (Cioc 1988: 9). Früh in den 80er Jahren argumentierte die wachsende Anti-Atomwaffen-Bewegung, dass die Erstschlagsdoktrin der NATO zerstören würde, was sie schützen solle und so „in Europa zur Zerstörung dessen, was verteidigt werden soll, führe (Afheldt 1983: 13).

    Diese selbstmörderische Politik beschränkte sich nicht nur auf die Bundesrepublik, wie Paul Virilio zu dem Verhältnis von modernem Krieg und modernem Staat darlegte:

    Als die Zerstörung eine Form der Produktion geworden ist, dehnt sich der Krieg jetzt nicht mehr nur auf die Dimension des Raumes, sondern auf die Gesamtheit der Realität aus. Die militärische Auseinandersetzung hat keine Grenzen und folglich kein Ziel. Sie wird nicht mehr enden, und im Jahre 1945 wird die nukleare Situation ihn perpetuieren: Der Staat ist selbstmörderisch geworden. (VIRILIO (1975[2011]): 101)

    Wenn wir diese paradox suizidale Politik verstehen wollen, die sich im Westdeutschland der 50er Jahre herauskristallisiert hatte – allerdings auch zu einem gewissen Grade den Kalten Krieg generell charakterisierte –, dann müssen wir Virilios Statement vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte zur Biopolitik sehen. So legt Michel Foucault dar: „Wenn der Völkermord der Traum der modernen Mächte ist, so nicht auf Grund der Wiederkehr des alten Rechts zum Töten, sondern eben weil sich die Macht auf der Ebene des Lebens, der Gattung, der Rasse und der Massenphänomene der Bevölkerung abspielt" (Foucault (1978[1983]: 164).

    BIOPOLITIK UND KALTER KRIEG

    Getragen von seiner Rolle als Erklärungsversuch zum globalen Krieg gegen den Terror im frühen 21. Jahrhunderts, konnte sich die Biopolitik als Fokus für Debatten im Bereich der Humangeographie etablieren und hat so Untersuchungen zu so diversen Themen wie Migration, HIV, Flughäfen, Klimawandel und Nahrungsmittelversorgung inspiriert (einen Überblick bieten Rutherford und Rutherford 2013). Das Konzept der Biopolitik zielt darauf ab, die Vereinbarkeit der Förderung des Lebens mit der Proliferation des Todes und des Tötens zu erfassen. Biopolitik ist der Moment, in dem Politik an der Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen interveniert, also am Leben selbst (Lemke 2011). Besonders die Politische Geographie hat mit ihren Untersuchungen zur Renaissance des Internierungslagers im Krieg gegen den Terror (siehe insbesondere das Gefangenenlager Guantanamo) und dem von den USA angeführten Krieg im Irak (2003-) wiederholt auf biopolitische Erklärungsansätze zurückgegriffen (Diken und Laustsen 2006; Gregory 2007; Minca 2005; 2006; 2015); dies geschah auch bezogen auf den arabisch-israelischen Konflikt (Ramadan 2009) und neue Grenzkontrollregimes nach den Anschlägen auf die USA im September 2001 (Amoore 2006; Sparke 2006; Vaughan-Williams 2015). Dadurch hat die Politische Geographie eine kraftvolle Verbindung zwischen der Biopolitik des frühen 20. Jahrhunderts und dem gegenwärtigen Sicherheitsstaat hergestellt.

    Geographen haben sich üblicherweise der Biopolitik über die Werke zweier Sozialtheoretiker angenähert, über Michel Foucault und Giorgio Agamben. Foucault begann in den späten 80er Jahren zu verstehen, wie das Leben selbst zum Objekt moderner Regierungsarbeit geworden war. Er erklärte, das alte Recht des Souveräns über Leben und Tod habe zunehmend einer neuen Macht Platz gemacht, der Macht das Leben zu hegen und zu verlängern bis hin zu dem Punkt, es auch aufgeben zu dürfen. In seinen Worten: „Das alte Recht, sterben zu machen und leben zu lassen" wurde ersetzt durch „das Recht, Leben zu machen oder in den Tod zu stoßen (Foucault 1978[1983]: 165). Statt Biopolitik als Antwort auf und Heilmittel gegen Gewalt und Krieg verstand er Biopolitik und militärische Gewalt als kompatibel. Der Untergang niederer Lebensformen mache das Leben der Bevölkerung gesünder, so die Logik der Biopolitik. Foucault verkündete, das Prinzip „Töten um zu leben sei „zum Prinzip der Strategie zwischen Staaten" geworden (ebd.: 164). In einer häufig zitierten Passage schreibt Foucault:

    Kriege werden nicht mehr im Namen eines Souveräns geführt, der zu verteidigen ist, sondern im Namen der Existenz aller. Man stellt ganze Völker auf, damit sie sich im Namen der Notwendigkeit ihres Lebens und Überlebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden. Gerade als Verwalter des Lebens und des Überlebens, der Körper und der Rasse, haben so viele Regierungen in so vielen Kriegen so viele Menschen töten lassen. (1983: 163)

    Wird diese Passage aus dem Kontext gerissen, wird jedoch oft übersehen, dass Foucault tatsächlich über den Atomkrieg sprach. Denn er fährt fort:

    Und in einer Rückwendung schließt sich der Kreis: je mehr Kriegstechnologie die Kriege auf den Weg zur restlosen Vernichtung geführt hat, desto stärker ist die Entscheidung zur Erklärung wie zur Beendigung eines Krieges zur nackten Überlebensfrage geworden. Die atomare Situation ist heute der Endpunkt dieses Prozesses: die Macht, eine Bevölkerung dem allgemeinen Tod auszusetzen, ist die Kehrseite der Macht, einer anderen Bevölkerung ihr Überleben zu sichern. (EBD.)

    Selbst der Atomkrieg, so Foucault, werde nicht im Namen eines Souveräns geführt, sondern für das Überleben der Bevölkerung – wobei paradoxerweise dabei auch deren möglicher Untergang in Kauf genommen werde (Foucault 1976[1999]).

    Auf dieser geistigen Pionierleistung hat etwas später Giorgio Agamben aufgebaut, dabei aber in Abweichung von Foucault die Biopolitik neu auf die Fragen der Souveränität und des Rechts fokussiert. Wenn man sich mit der gleichzeitig legalen und extra-legalen Logik des Ausnahmezustands befasse, einem von Carl Schmitt (1922[2005]) übernommenen Konzept, dann, so stellt Agamben dar, konstituiere sich souveräne Macht und ihr Gegenteil, „das nackte Leben", paradoxerweise in und durch rechtsfreie Räume. Einem bekannten Argumentationsgang folgend führt Agamben (1998) diese Schaffung nackten Lebens auf eine aus dem alten Griechenland bekannte Unterscheidung zwischen politischem (bios) und natürlichem oder nacktem Leben (zoé) zurück. Biopolitik findet sich nach Agamben in der Preisgabe der zoé, allerdings auf eine Art und Weise, durch die diese gerade durch ihre explizite Ausschließung in den souveränen Akt doch eingeschlossen wird. Diese Aufgabe nackten Lebens findet sich wieder in der Gestalt des homo sacer im römischen Recht, einem aus der menschlichen Gemeinschaft Verbannten, der nicht sinnstiftend geopfert werden könne (da er nach römischem Recht z.B. als Eidbrüchiger dem Gott gehörte, in dessen Namen er geschworen hatte) und deshalb (da vogelfrei) ungestraft getötet werden dürfe (Agamben 1998: 102). Homo sacer stellt eine Form menschlicher Existenz dar, der ihre Rechte und ihre politische Stimme genommen worden seien – ein Leben, das dem Tod ausgeliefert ist. Durch einen Prozess progressiver Normalisierung, so Agamben, habe der Ausnahmezustand die Tendenz,

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