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Andere Sorgen
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eBook156 Seiten2 Stunden

Andere Sorgen

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Über dieses E-Book

Was tun, wenn das ganz normale Leben zur Zumutung wird? Wenn die Mutter ins Heim muss und das Familienhaus ausgeräumt und neu vermietet werden soll? Wenn alle erwarten, dass sich die Erzählerin endlich einen vernünftigen Job sucht und eine Familie gründet? Gegen die Melancholie des Normalen hilft nur Widerstand. Am besten dort, wo ihn keiner erwartet: Im Altersheim wird ein Streik angezettelt; Jola tritt in ihrem Glitzerkleid auf und schwingt Brandreden; die lokale Clique der "Hauswilderei" bringt das beschauliche Leben im Ort gründlich durcheinander, aus einem Kidnapping wird zur Freude der Heimbewohner ein Kurzurlaub am Meer. Und dann taucht plötzlich Malina auf, die zu fast allem bereit ist und manchmal zu weit geht.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2019
ISBN9783701746026
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    Buchvorschau

    Andere Sorgen - Katharina Pressl

    7

    1

    Die Stadt steht.

    Durch die rechte Fensterscheibe beobachte ich einen, der das parkende Auto vor ihm anhupt. Er macht sich am Lenkrad groß, um weit nach links vorne zu sehen. Er setzt den Blinker und versucht, sich vom Parkstreifen wieder in den Fließverkehr einzuordnen. Um abbiegen zu können, klemme ich das Handy zwischen Wange und Schulter und blicke in den Rückspiegel. Ich sehe erwartungsgemäß aus; passend. Die Nachmittagssonne trifft trotz des Herbsttags gleißend hell auf die schwarzen Gläser der Sonnenbrille, die ich irgendwo im Handschuhfach gefunden habe. Ich sehe aus, als müsste ich Kategorien erfüllen. Ich sehe aus, als wäre ich auf einem bestimmten Weg.

    Fein säuberlich nehme ich mich Telefongespräch für Telefongespräch für die nächste Woche aus dem Leben heraus, sage Termine ab und deute an, dass der Grund meines Ausbleibens privat ist. Ich werde von moralischen Standards geschützt, es werden kaum Fragen gestellt. Ich befreie das Handy aus seiner Klammer zwischen Kinn und Schulter und schiebe es zwischen die CDs und Tankrechnungen ins Handschuhfach.

    Neben dem Schalthebel wackelt ein Kaffeebecher in seiner Vorrichtung hin und her. Eigentlich ist er ungeeignet, um auf diese Weise transportiert zu werden. Der Deckel hängt lose am Becherrand, sodass der Kaffee in jeder Kurve womöglich überschwappt. Beim Abbiegen, und wenn ich in ungerade Gänge schalte, schiele ich hinüber.

    Meine Finger klopfen auf das Lenkrad. Ich versuche mich zu überzeugen, dass die feuchten Fingerkuppen nicht aus Nervosität auf das mit Kunstleder überzogene Lenkrad tippen. Ich versuche mich zu vergewissern, dass das Klopfen nicht Ausdruck einer aufgewühlten Gefühlslage ist, dass ich nicht noch einer Kategorie entspreche: gelassen wirken, es aber nicht sein.

    Ich singe This isn’t a brave face, this isn’t a brave face, this is a mask mit und passe das Trommeln meiner Finger dem Rhythmus der Musik an.

    Ich fahre aufs Land, dort wartet ein Haus. Im Haus warten Gegenstände, die sich formiert haben und bereitstehen, um Vergangenheit zu werden. Die Schränke stehen Habtacht. Die Schubladen salutieren. Stramm warten die Dinge des Lebens, die man angehäuft hat, die man gebraucht hat, und die, die man zu brauchen geglaubt hat. Ich habe die Vermutung, dass sie mich angreifen werden. Sie werden mich ergreifen wollen, mit den an ihren Oberflächen festklebenden Erinnerungen, mit ihrer Aufforderung, man möge sich mit ihnen auseinandersetzen, sich auf sie einlassen. Ich atme für mehr als eine Person aus und wische mir die Haare aus dem Gesicht. Sollen sie doch bitten und betteln, so viel sie wollen.

    Die Straßen haben mich vorangebracht. Sie lassen mich glauben, dass alles ein Wettbewerb sei, dass sich hier im Kleinen das Große zeige. Ich fahre schneller, lasse meine Konkurrenz links und rechts zurück. Wir sind nicht auf der gleichen Spur, aber rücksichtsvoll. Mögen müssen wir uns nicht, aber blinken. Man ist hier zusammen, ist abhängig, kann nicht für sich alleine entscheiden, könnte nicht umdrehen, könnte nicht einfach stehen bleiben. Eine Vollbremsung entspräche einer Massenkarambolage, und wer käme damit zurecht, wer könnte das mit sich vereinbaren.

    Ich fahre durch den Ort zum Haus. Im Ort gibt es eine Trafik, eine Drogerie, zwei Supermärkte, ein Fisch- und ein Fleischgeschäft. Es gibt einen Baumarkt und einen Apfelverkaufsstand in der Vorhalle des Baumarkts. Bei der Autobahnabfahrt gibt es einen McDonald’s und eine Disco mit großen, leuchtenden Lettern auf dem Flachdach: Rossini. In ausreichender Distanz liegt auf einer Anhöhe das Altersheim. Noch weiter hinter der Autobahnauffahrt befindet sich die Hauswilderei. Im Zentrum gibt es zwei Bars, einen Asiaten, einen Italiener und einen Gasthof, dessen Name mit »Zum« beginnt. Es gibt ein Krankenhaus, ein Schulzentrum und »Ilse’s Cafe«. Ein Teppichgeschäft, zwei Juweliere, die Post und die alte Post. Dazwischen liegen Pflastersteine und Zigarettenstummel. Es gibt einen Spielplatz neben der Kirche. Auf der Mauer steht seit Jahren Fuck the church. Zuerst prangte es dort in Rot. Nun hat es fast die Farbe der Mauer angenommen. Im Ort geht niemand zu Fuß, niemand fährt Rad, alle fahren Auto. Der Ort ist eine kleine Stadt, die nie die Hülle eines Dorfes verlassen hat. Sie hat sich nie zu mehr entpuppt als ein Zusammentreffen einiger Häuser, Geschäfte, Hügel, Autos, Wiesen, Straßen und Menschen. Der Ort ist groß genug, um alles bereitzustellen, was man dort für notwendig erachtet. Der Ort ist klein genug, um sich bei jeder Begegnung mit einem anderen Menschen Grüß Gott zuzurufen, auf gut Glück, weil man sich höchstwahrscheinlich kennt.

    Ich steige aus und ertaste mir den richtigen Schlüssel, während ich die Stiegen hinaufstapfe. Obwohl man jedes Auto, das auf dieses Haus zufährt, mindestens zehn Sekunden vor der Ankunft hört, trotz der lautstark zugeschlagenen Autotüren und obwohl ich weiß, wie viel Lärm der Schlüssel im Schlüsselloch und das Herunterdrücken der Türklinke machen, und auch weiß, dass sich niemand im Haus befindet, rufe ich Hallo und räuspere mich, weil meine Stimme nach der langen Autofahrt krächzt.

    Das Haus ist groß. Es besteht aus drei Stockwerken. Eine Seite ist dunkel, sie ist von hohen Bäumen beschattet. An schönen Tagen flutet die Sonne die andere Hälfte. Auf den großen Fenstern und Glastüren sind Spuren von Regentropfen, von Vogeldreck und Handabdrücken. Vor den kleinen Fenstern auf der dunklen Hälfte stehen hohe Tannen und Birken. Die Bäume sind so nah, dass, wenn es stürmt, die Äste gegen das Haus peitschen. Das Haus ächzt nicht, es nimmt die Schläge wortlos hin.

    Die Haustür führt direkt ins Wohnzimmer. Vor der gläsernen Terrassentür und unter dem Fenster rekeln sich Topfpflanzen in Richtung Sonnenlicht. Zwischen ihnen an der Wand steht eine Couch mit unterschiedlichen Polstern. Sie ruft mich, fordert meine Aufmerksamkeit, will mich mit ihrer Vergangenheit in eine Falle locken. Sie bittet, bettelt und jammert, genau so, wie ich es von ihr erwartet habe. Ich werfe ihr einen unbekümmerten Blick zu, gönne ihr kein Zeichen von Schwäche. Verführerisch plustert sie sich auf, will mich gerührt sehen, schwelgend, den alten Zeiten nachsinnend oder wenigstens wütend. Durch eine kleine Tür entfliehe ich in die Küche voller Laden und Türchen, hinter denen sich Keramikgeschirr, Pfannen, Töpfe, Gewürze und zwanzig, fünfzig oder gar hundert Einmachgläser mit Gurken, Paprika und Tomaten verstecken. Ein großer Holztisch steht in der Mitte. Er ist abgenutzt, auf ihm ist ein kleiner schwarzer Brandfleck zu sehen, seit damals, als ich beim Kartenspielen zu Weihnachten eine Kerze umgestoßen habe. Die Aufregung über das Missgeschick hat beinahe die Tatsache überschattet, dass ich mit diesem Zug gewonnen hatte. Würde ich mit der Hand an der Unterseite der Tischplatte entlangfahren, könnte ich den eingravierten Namen meiner Schwester spüren. Ich sehe unzählige Bilder vor mir und atme viele Jahre meines Lebens durch die Nase ein. Der Tisch wird der Couch nichts verraten.

    Eine Stiege führt in den ersten Stock. Bad, Toilette, Mutters altes Zimmer, mein altes Zimmer und das alte Zimmer von Klara drängen sich auf der ersten Etage zusammen. Mein Zimmer ist noch immer dem von damals ähnlich. Die Zimmertür klemmt ein wenig, ein Vorhang fehlt, aber das Bett ist bezogen. Es hängen weniger Bilder an den Wänden und der Großteil meiner Sachen steht im Keller, um das Zimmer für die gelegentlichen Besuche wohnlicher zu machen. Nur Fotos mit Familienmitgliedern und Reiseführer durften bleiben. Die häufigsten Gäste waren meine Schwester Klara oder ihre Kinder. Klara blieb nur selten, meistens, wenn es nach einem ihrer nächtelangen Gespräche mit Mutter zu spät wurde.

    Klaras altes Zimmer ist zu einer Mischung aus Nähzimmer, Spielzimmer und unbenutztem Fitnessraum umgestaltet worden. Kinderzeichnungen hängen an der Wand, aus den Plastikkisten an den Wänden leuchten Legosteine, und in der Ecke steht ein Heimtrainer.

    Ich drehe den Veränderungen, die passiert sind, seit ich nicht mehr hier war, den Rücken zu.

    Über ein paar breite Stufen gelangt man in den zweiten Stock, der aus einem einzigen großen Raum besteht. Ein massiver dunkler Schreibtisch, das schwarze Loch des Zimmers, zieht alle ersten Blicke auf sich. An den Wänden um ihn herum stehen Schränke und Regale Schulter an Schulter, gefüllt mit Büchern, Ordnern, CDs, Platten, Dokumenten und allem, was dem Leben sonst noch zum Aufbewahren beigelegt wird.

    Der Keller ist das Fundament des Hauses und die erste Baustelle meiner Aufräumarbeit. Dort lagern alte Geräte; ein Herd, ein Geschirrspüler und eine, mir und meiner Schwester ins Hirn gebrannte, mintgrüne Couch. Im Keller lagert ein Reserveleben, eine zweite Version von dem, was ist, eine nicht angekreuzte Option, die ich entsorgen muss. Zuerst das Reserveleben, danach das echte.

    Ich bin am leichtesten in meinem Leben zu entbehren, daher ist das Haus meine Aufgabe.

    Die Lebensumstände meiner Schwester sehen dafür keinen Platz vor. Meine Schwester ist ein akzeptiertes Ideal, die Realität stimmt bei ihr mit den geläufigen Vorstellungen, wie sie sein sollte, überein. Meine Schwester erreicht, was man erreichen soll, sie schafft, was sie muss. Ihr eine zusätzliche Aufgabe aufzuhalsen, wäre unfair. Ausgerechnet die Tatsache, dass sie die Dinge auf die Reihe bekommt, spielt ihr nun in die Hände, damit ihr nicht auch noch das Hausausräumen gelingen muss.

    Der einzige Tag, den sich meine Schwester in den nächsten Wochen freinehmen kann, um mit mir zum Bauhof zu fahren, ist morgen. Freitags arbeitet sie nicht, und die Kinder sind mit ihrem Freund unterwegs. Ich habe mehrmals wiederholt, dass es nicht nötig sei, mir zu helfen. Einerseits, um sie zu entlasten, und andererseits, um mir die Möglichkeit zu geben, den Beginn der Aufräumarbeiten hinauszuschieben. Meine Schwester erwiderte, dass ein Anhänger und ein Auto mit entsprechender Kupplung schon ausgeliehen seien, dass das ihr Beitrag sei, und es zu Beginn ohnehin nur um den Keller ginge. Versionen von Sprüchen wie »Erledigt ist erledigt« oder Begriffe wie »Initiativanstoß« fielen häufig, nebenbei erfuhr ich von ihr, dass mein Auto keine Anhängerkupplung besitzt. Ich habe aufgegeben und mir immer wieder in Erinnerung gerufen, wie kurz eine Woche ist. Es funktionierte, nur manchmal schwirrte mir

    on this life that we call home the years go fast and

    the days go so slow,

    the days go so slow

    im Gehörgang herum.

    Ich ignoriere das Haus den restlichen Abend lang, tue so, als wäre ich an einem Ort, für den es nichts Ungewöhnliches ist, dass ich dort bin. Ich gebe mich fasziniert dem Fernsehprogramm hin. Nur manchmal, wenn die Wände, die Pflanzen und die Polster der nicht mehr mintgrünen Nachfolgercouch oder meine hochgezogenen Knie hell beleuchtet werden, weil die Bilder im Fernseher ihre Farbe ändern, begreife ich, wo ich bin und was ich tue. Ich wechsle das Programm, um die Schatten auf meinem Gesicht auszutauschen, um die Gedanken aus dem Kopf zu treiben. Ich rieche unauffällig am Polsterbezug. Ich vertreibe mir die Zeit und die Realität, bis ich wirklich nichts Annehmbares mehr finde und das Gefühl habe, der Couch genug Stärke bewiesen zu haben. In meinem alten Zimmer lege ich mich ins Bett und starre die Holzdecke an. Sie starrt zurück. Sie ist so gut in diesem Spiel, dass sie mich in den Schlaf zwingt, bevor sie auch nur einmal blinzeln muss.

    Am nächsten Vormittag ist der Herd aus dem Keller in einer Situation, die er kennt. Vor Jahren wurde er aus der Wohnung von Klaras Vater gebracht, als zu schade zum Wegwerfen empfunden, und von meiner Mutter aufgenommen. Im Keller könne er auf seine Bestimmung warten. Man solle auch immer an das damals für ihn ausgegebene Geld denken. Dieses Mal eilt dem Herd niemand zu Hilfe.

    Ich weise mich beim Müllhaldenpersonal als Bürgerin des Ortes mit einer Gemeindekarte aus, die anscheinend niemals ihre Gültigkeit verliert. Sie bewahrt mich davor, für die Entsorgung von Sperrmüll bezahlen zu müssen. Meine Schwester steigt aus, öffnet die Verriegelung des

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