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Berührte Blüten
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eBook423 Seiten5 Stunden

Berührte Blüten

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Über dieses E-Book

Am Ende des Romans "Ein arabischer Sommer" fliegen die Übersetzerin Elena und der Sprachlehrer und Poet Qais frisch verheiratet und bis über beide Ohren verliebt von Zürich nach Tunis, wo sie zusammen ihren gemeinsamen Traum, eine Sprachschule zu gründen, verwirklichen wollen. Was aber erwartet die beiden im Januar 2013, zwei Jahre nach der Jasminrevolution in Tunis? Wie kommt Elena mit der Familie von Qais, dem Leben in der tunesischen Hauptstadt und der muslimischen Kultur zurecht? Kann sie ihre geliebte Alp auf dem Brünig und ihr Robinsonleben einfach so vergessen? Schaffen die beiden es, ihr Projekt zu verwirklichen und dabei ihre leidenschaftliche Liebe auch im Alltag weiterblühen zu lassen? Und wie geht es dem Algerier Sabri, der als abgewiesener Asylsuchender nun in Tunis statt in der Schweiz ein Papierloser ist? Findet er in Tunis sein Glück?

Anja Siouda, Schriftstellerin und diplomierte Übersetzerin, schreibt für gegenseitiges Verständnis unter den Menschen, setzt in diesem Roman aber den Akzent auf Selbstbestimmung und Emanzipation.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Okt. 2018
ISBN9783748113805
Berührte Blüten
Autor

Anja Siouda

Anja Siouda kam 1968 in Zürich zur Welt, wuchs in Luzern auf, heiratete neunzehn Jahre später in Sursee, zog darauf mit ihrem Mann in die Westschweiz und schloss 1995 an der Universität Genf ihr Studium der Arabistik, Germanistik und allgemeinen Linguistik ab. 1995 und 1997 gebar sie ihre zwei Söhne. 2007 begann sie ein Zweitstudium an der ETI der Universität Genf, das sie 2010 mit einem Master in Übersetzungswissenschaft abschloss. 2010 und 2013 erschienen die zwei ersten Teile ihrer spannenden interkulturellen, sozialkritischen Romantrilogie: "Steine auf dem Weg zum Pass" und "Ein arabischer Sommer". 2016 wurde "Tuttifrutti-Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack publiziert". 2017 erschien der Roman Erdbeerzeit. 2018 kam "Berührte Blüten", der dritte Teil ihrer Trilogie, auf den Markt. Auch die beiden ersten Teile erschienen gleichzeitig in einer Neuauflage. 2019 erscheint "Tuttifrutti-Humoristische Erzählungen für jeden Geschmack" in einer Neuauflage als Buch und Ebook. Seit 2001 lebt die Autorin mit ihrer Familie in Frankreich, reist aber seit Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit regelmässig für Lesungen in die Deutschschweiz. www.anjasiouda.com

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    Buchvorschau

    Berührte Blüten - Anja Siouda

    «Jede Frau wird von frühester Jugend an

    erzogen in dem Glauben, das Ideal eines

    weiblichen Charakters sei ein solcher,

    welcher sich im geraden Gegensatz zu dem

    des Mannes befindet; kein eigener Wille,

    keine Herrschaft über sich durch Selbstbestimmung,

    sondern Unterwerfung, Fügsamkeit

    und die Bestimmung durch andere.»

    John Stuart Mill 1806 – 1873

    «Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen

    leichter, als gut handeln ist?»

    Gotthold Ephraim Lessing

    Nathan der Weise 1779

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    La Soukra, April 2013

    Duftender Frühlingsschnee

    La Goulette, April 2013

    La Soukra, April 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, April 2013

    Tunis, Parc du Belvedère, Mai 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, Mai 2013

    La Soukra, Juni 2013

    La Manouba, Juni 2013

    La Soukra, Juni 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, Juni 2013

    La Soukra, Juni 2013

    La Soukra, Juli 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, Ramadan 2013

    La Soukra, Ramadan 2013

    La Soukra, Ramadan 2013

    Tunis, Rue Jamaa Ez-Zitouna, Ramadan 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, Ramadan 2013

    La Soukra, Ramadan 2013

    Tunis, Rue d’Iran, 25. Juli, Ramadan 2013

    Tunis, Rue d’Iran, 25. Juli, Ramadan 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, Ramadan 2013

    La Soukra, Ramadan 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, Ramadan 2013

    La Soukra, Leylat al-Qadr, Ramadan 2013

    Tunis, Rue Jamaa Ez-Zitouna, Aid el-Fitr 2013

    Tunis, Bardo-Museum, August 2013

    Tunis, Avenue de la Liberté, August 2013

    La Soukra, August 2013

    Tunis, Rue d’Iran, August 2013

    La Marsa, 1. September 2013

    Tunis, Aid el-Adha, 15. Oktober 2013

    La Soukra, 19. Oktober 2013

    La Marsa, 19. Oktober 2013

    Flughafen Tunis-Carthage, 21. Oktober 2013

    La Marsa, 22. Oktober 2013

    Hammamet, Oktober 2013

    La Marsa, Oktober 2013

    Metlaoui, Oktober 2013

    Flughafen Tunis-Carthage, 31. Oktober 2013

    Tunis, Lafayette, 5. November 2013

    La Marsa, November 2013

    La Soukra, Dezember 2013

    La Marsa, Weihnachten 2013

    La Marsa, 1. Januar 2014

    Karthago, Januar 2014

    La Marsa, März 2014

    La Marsa, April 2014

    La Manouba, April 2014

    Flughafen Tunis-Carthage, Mai 2014

    Thun, Mai 2014

    Brünig, Mai 2014

    Brünig, Mai 2014

    Brünig, Mai 2014

    Brünig, Mai 2014

    Brünig, Juni 2014

    Lungern, Juni 2014

    Brünig, Juni 2014

    Sarnen, Juni 2014

    Brünig, Juni 2014

    Brünig, Juni 2014

    Brünig, Juni 2014 Ramadan

    Brünig, Juli 2014

    Lungern, Juli 2014, Ramadan

    Brünig, Juli 2014, Ramadan

    Brünig, Juli 2014, Ramadan

    Sousse, August 2014

    Brünig, August 2014

    Brünig, 8. August 2014

    Brünig, August 2014

    Brünig, 12. September 2014

    Vom Brünig nach Tunis-Carthage, September 2014

    Erklärung der Ausdrücke und Namen im klassischen Arabisch und im tunesischen Dialekt

    Literaturnachweise

    Das arabische Alphabet

    Prolog

    Ihr Schleier loderte lichterloh und das Feuer wand sich bereits um ihren ganzen Körper. Eine lebende Fackel. Kein Schrei aus ihrem weit aufgerissenen Mund, nur blankes, stilles Entsetzen. Niemand half ihr, niemand versuchte, mit Decken oder Jacken das Feuer zu löschen, niemand. Sie brannte, eine einzige Feuersäule, aufrecht, bis sie schliesslich doch wankte und zu Boden stürzte.

    Elena wachte zitternd auf, tappte in der Dunkelheit nach Qais, fand ihn nicht, und schreckte einen Augenblick zurück, als sie die spitzigen Halme unter ihrer Handfläche spürte. Erst jetzt realisierte sie, wo sie wirklich war, tauchte richtig aus ihrem Alptraum auf und griff nach links, wo ein ruhiges Atmen zu hören war. Daphne reckte ihren Kopf in die Höhe, als sie Elenas Streicheln spürte und blökte leise. Dann schnupperte sie neugierig an Elena und leckte die salzigen Tränen von ihrem Gesicht, während Penelope ihren Kopf ebenfalls zu Elena hinüberbeugte.

    «Ach Daphne», seufzte Elena und vergrub ihr Gesicht in der warmen Wolle, deren Geruch sie vollends zum Bewusstsein ihrer Situation brachte. Sie konnte es in diesem Moment nicht glauben, dass sie diesen Schritt gemacht, dass sie ihn nochmals Hals über Kopf verlassen hatte. Ihn und seine Gesellschaft. Und diesmal gab es kein unseliges Missverständnis zwischen ihnen wie 1989. Diesmal hatte sie eine Auszeit – so hiess das seltsame Modewort hierzulande – von ihm genommen, obwohl sie ihn doch mit jeder Faser ihres Körpers und jeder Schwingung ihrer Seele liebte. Wie konnte sie sich denn nur so vehement gegen ihre eigenen Gefühle stellen? Wie konnte sie ihm denn Dinge vorwerfen, für die er im Grunde rein gar nichts konnte? Was wollte sie denn jetzt noch hier auf der Alp, die ihr nicht mehr gehörte und in diesem Stall-Neubau, dessen blanke helle Balken so gar nichts mehr gemeinsam hatten mit dem ihr früher so vertrauten alten Holz, dessen Astlöcher sie alle auswendig gekannt hatte? Was konnte sie denn hier ausser einer gewissen vorübergehenden Routine von früher noch finden? Den vertrauten Alltag mit einer jetzt richtigen Herde Milchschafe und … Ruhe natürlich, ja absolute Ruhe und Zeit zum Nachdenken, zum Vergessen – die hatte sie aber bereits in der Gummizelle im Razi in Manouba gehabt –, aber keine Geborgenheit, keine Zärtlichkeit und keine Leidenschaft! Die warme Wolle der Schafe, ihre rauen Zungen, ihr würziger Duft und ihre sahnige Milch reichten dafür längst nicht mehr, waren nur ein kleiner, bitterer Trost. Zudem widerstrebten Elena die Aufzuchtmethoden des Milchschafbesitzers Toni, der von ihr verlangte, dass sie die armen Lämmer über Nacht mit Kordeln um den Hals an den Ringen der Stallmauern festband, damit sie ihre Mütter nicht leer tranken und somit morgens mehr Milch für die Käseherstellung zur Verfügung stand.

    Elena verstand Toni in dieser Hinsicht nicht. Eine kleine Schranke aus Haselnussstauden, um die Jungtiere von den prallen Eutern ihrer Mütter fernzuhalten, wäre schnell gezimmert gewesen. Er aber wollte dies offenbar nicht und so zerrten die Lämmer fast die ganze Nacht hindurch wie verzweifelt an ihren Stricken und blökten herzerweichend zu ihren Müttern herüber, bis sie ganz heiser klangen. Die Mütter näherten sich zwar, um die Jungen zu beschnuppern und um sie trinken zu lassen, aber die Stricke waren zu kurz dafür. Elena beeilte sich deshalb, noch bevor sie sich an diesem ersten offiziellen Arbeitstag mit den Schafen um ihre eigene Morgentoilette kümmerte, im Stall Licht zu machen und mit dem Melken der zwanzig Muttertiere zu beginnen, um danach die Jungen endlich wieder befreien zu können.

    Nach kurzer Zeit schäumte die warme Milch Daphnes, die Elena natürlich zuallererst molk, im Aluminiumeimer. Das heimelig vertraute Geräusch des Melkens und der Anblick des dicken, sämigen Schaumes aber, der sie an die Schaumkronen des wogenden Meers erinnerte, wollten sie in diesem Moment innerlich fast zerreissen. Denn wenn sie wirklich ehrlich mit sich selbst war, wenn sie ihr Innerstes bis auf den Grund erforschte, ihre Gefühle akribisch zerpflückte und zerlegte, dann wusste sie es: Ihr Platz war nicht mehr auf dieser Alp auf dem Brünig, sondern in La Marsa, in ihrer kleinen Wohnung direkt am Meer, wo sie am Morgen das rhythmische Geräusch der Wellen weckte und wo sie abends in den Armen von Qais einschlief. Qais, flüsterte sie und seufzte. Sie brauchte ihn und er brauchte sie. Und – auch Momo brauchte sie! Sie beide.

    La Soukra, April 2013

    «Ja schau, bei den Bäumen hat es Gott so wunderbar gemacht mit den Hummeln und den Blüten, aber beim Menschen machte er es so ekelhaft!»

    Elena blickte die beleibte alte Frau vor ihr, auf deren runzligem und teilweise tätowierten Gesicht einen Moment lang der ganzen Ekel zu lesen war, der in ihren Worten gelegen hatte, überrascht, aber auch entsetzt an. Diesen Satz hatte sie wirklich nicht erwartet, nachdem sie versucht hatte, der schon sehr betagten Fatma, die nie in der Schule gewesen war, anhand der Befruchtung der Blüten durch die Hummeln ein kleines Stückchen Botanik beizubringen. Ihre Schwiegermutter, die Mutter von Qais, die zehn Kinder geboren hatte – acht davon waren längst erwachsen, zwei Buben, Zwillinge, waren kurz nach der Frühgeburt gestorben – und welcher alle verheirateten Kinder, mit Ausnahme von Qais, eine ganze Schar Enkelkinder, zu Fatmas grossem Bedauern waren es alles nur Mädchen, geschenkt hatten, war nun im sehr respektablen Alter von achtundsiebzig Jahren und hatte wie alle Frauen ihrer Generation als Kind natürlich nicht zur Schule gekonnt, das war früher sowieso das Privileg der Knaben gewesen, wenn überhaupt, und damals beschränkte sich der Unterricht auch bei den Jungen meist auf die Koranschulen. Als Erwachsene dann verspürte sie offenbar nie wirklich das Verlangen, Lesen und Schreiben zu lernen. Zumal ihr ein alter Imam und Freund ihres Gatten mehrmals mit Nachdruck sagte, der Prophet Mohammed habe das ja auch nicht gekonnt. Sie realisierte natürlich auch nicht, welche Welt ihr dadurch wirklich entging und in welcher Unmündigkeit sie deshalb in ihrem fremdbestimmten Leben auf immer blieb. Sie kannte es nicht anders und war es gewohnt, ständig überallhin begleitet zu werden, auch als sie noch bei Kräften war und problemlos grössere Strecken gehen konnte, anfänglich von ihrem Ehemann, danach von ihrem einzigen Sohn und ihren sieben Töchtern, die selbstverständlich alle zur Schule gingen, und von denen fünf es auch zu einem Universitätsstudium schafften. Natürlich versuchten ihre Kinder, ihrer eigenen Mutter immerhin ein bisschen Lesen und Schreiben beizubringen, aber die Mutter brachte es nur bis zum Abschreiben und Auswendiglernen der eigenen Unterschrift in ziemlich krakeligen Buchstaben. So konnte sie wenigstens, im jeweils blinden Vertrauen auf ihre Familie, ein ihr vorgelegtes administratives Papier unterzeichnen, wenn es absolut nötig war.

    Die kleine Botanik-Lektion hatte sich geradezu angeboten. Sie war Elena wegen ihrer Begeisterung für die Natur und für diesen wirklich herrlichen Garten ihrer Schwiegereltern hier in La Soukra, einem Vorort von Tunis zwischen Ariana und La Marsa, einfach spontan eingefallen und die Erklärung der Befruchtung durch Bienen und Hummeln in einfachen Worten, sozusagen halal, die Früchte seien ja eigentlich die Kinder, die später aus der Vereinigung von Insekt und Blüte entstünden, die fand sie sehr anschaulich für jemanden, der keine Ahnung von Blütenstempeln und pollenübertragenden Insekten hatte. Ausserdem konnte sich Elena jetzt, etwas mehr als dreieinhalb Monate nach ihrer Ankunft in Tunis, schon wieder recht gut im tunesischen Dialekt ausdrücken, obwohl sie und Qais, wenn sie nur zu zweit waren, zumeist im klassischen Arabisch miteinander sprachen, einfach aus Freude am Fusha, und hie und da redeten sie sogar auf Hochdeutsch. Trotzdem bemühte sich Elena darum, den tunesischen Dialekt möglichst schnell zu lernen. Auf der Strasse fielen sie nämlich sofort auf, wenn sie Fusha sprachen, deshalb vermieden sie es dort oder wechselten auch mal ins Französische. Auch mit Qais‘ Eltern und seinen Schwestern und deren Männern funktionierte die Kommunikation am besten im tunesischen Dialekt. Französisch konnten die Schwestern zwar auch, aber unter sich sprachen sie doch meistens ihren Dialekt.

    Überhaupt hatte sich die Verständigung zwischen Elena und Qais‘ Familie, vor allem zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter, in den wenigen Monaten seit ihrer Ankunft Anfang Jahr in mancher Hinsicht verbessert. Trotzdem zog Elena es in diesem Moment vor, auf den Ausruf ihrer Schwiegermutter nichts zu erwidern, denn sie war sich natürlich bewusst, dass direktes Sprechen über sexuelle Angelegenheiten hier, in diesem Kulturkreis, völlig tabu war. Elena konnte aber nicht umhin, ein gewisses Mitleid mit ihrer Schwiegermutter zu empfinden, nicht nur weil Sex offenbar lediglich eklige Pflicht und nie mit einem geliebten Menschen gemeinsam geteiltes Glück für sie bedeutet hatte, sondern auch weil Elena in der Zeit, seit sie mit Qais bei seinen Eltern wohnte, festgestellt hatte, dass die Schwiegermutter an einem extremen Putzfimmel litt und dass sie deshalb ihre eigenen Kleider, darunter besonders viele synthetische Röcke, glänzend und in allen Farben, wie auch zahlreiche baumwollene Unterröcke in Pastelltönen, schweisstriefend und stöhnend stets selber von Hand wusch, trotz ihres Alters und trotz der vorhandenen Waschmaschine. Einzig deshalb, weil allein der Gedanke sie anekelte, dass ihre Wäsche mit der Schmutzwäsche der anderen Familienmitglieder in Berührung kommen könnte. Elena spazierte also eine Weile weiter durch den Garten mit Fatma und begab sich dabei bewusst auf ein harmloseres sprachliches Terrain, indem sie die wunderbare Anlage der Steinobst- und Zitrusbäume in den höchsten Tönen lobte. Die Schwiegermutter freute sich über das Lob, wies dann aber auf ihre geschwollenen, schmerzenden Beine hin, liess Elena alleine weiter durch den Garten spazieren und kehrte ins schattige Innere des Hauses zurück.

    Elena aber drückte ihre Nase in die zarten, süssen Blüten des einzigen Kirschbaums, der inmitten von Orangen- und Mandarinen-, Aprikosen- und Mandelbäumen, fast ein bisschen wie ein Exot, gerade in voller Blüte stand. Sie schloss die Augen und dachte an ihre Ankunft in Tunis am 2. Januar 2013 zurück, genau zwölf Tage bevor sich die Jasminrevolution vom 14. Januar 2011 zum zweiten Mal jährte. Damals wurden Qais und sie von seiner Familie und von ihrem gemeinsamen Freund Sabri natürlich voller Neugierde erwartet. Auch Elena hatte dem Ereignis mit einiger Anspannung entgegengesehen, aber es klappte dann ganz gut. Qais, der Sohn, den die Familie für mehrere Jahre an Europa verloren hatte, wurde mit offenen Armen und Yu-Yu-Rufen empfangen und Elena gegenüber benahmen sich alle sehr respektvoll. Im geräumigen, schmucken Salon mit den im offenen Rechteck angeordneten, langen Sofas, den vielen Sitzkissen aus glänzendem Stoff und den schweren Vorhängen im Elternhaus von Qais wurden sie beide wie Könige aufgenommen, verköstigt und bestaunt, so kam es Elena jedenfalls vor. Ihr eigener Aufenthalt in Tunis in der Cité Universitaire in Mutuelleville im Sommer 1989 und ihre Erinnerungen an das spartanische Interieur in jenem Studentenheim waren natürlich längst verblasst und so richtig bei einer tunesischen Familie war sie damals sowieso nicht eingeladen gewesen, da sie wegen ihres verbissenen Lerneifers ausser zu ihrem Lehrer Qais kaum Kontakt zu anderen Tunesiern gehabt hatte.

    Die ganze Verwandtschaft scharte sich also um sie, sämtliche sieben Schwestern von Qais, die teilweise mit ihren Familien von Sfax und Gabes angereist waren, aber auch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen und so standen sie beide, Qais und Elena, als frischverheiratetes Paar, Qais zudem als der zurückgekehrte, verlorene Sohn, total im Mittelpunkt. Vor allem Elenas Kenntnisse des klassischen Arabisch und auch ihre Versuche im tunesischen Dialekt beeindruckten die Familie schwer, hingegen packten sie die drei schweren Extrakoffer voller Geschenke, die Qais in der Schweiz erworben hatte, zu Elenas Erstaunen nicht aus. Die Mutter würde sich später um die gerechte Verteilung aller Handys, Markenparfüme, Kleider, Schuhe und Kilos Schweizer Schokolade kümmern, flüsterte Qais ihr einmal kurz auf Deutsch zu, als die anderen sie beide einen Moment lang nicht mit Fragen bestürmten.

    Als beim Empfang aber alle so gastfreundlich und respektvoll waren, fragte sich Elena insgeheim, ob Qais seiner Familie per Skype überhaupt von ihr erzählt und ob er sie jemals darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass Elena diejenige war, die ihn im Sommer 1989 so abrupt verlassen und ihn damit in tiefste Melancholie gestürzt hatte. Etwas seltsam musste es der Familie doch schon vorkommen, dachte Elena, dass ihr einziger Sohn zuerst von einer Schweizerin verlassen wurde, dann Jahre später mit einer anderen Schweizerin nach Bern zog, um sie dort am 11. September 2001 zu heiraten und nach vielen Jahren von dieser geschieden, aber bereits wieder frisch verheiratet, eine andere Schweizerin nach Tunis zurückbrachte. Die Familie liess sich jedenfalls nichts anmerken und geschiedene, wiederverheiratete tunesische Männer waren im Grunde auch gar nichts Aussergewöhnliches, das wusste Elena, im Gegensatz zu wiederverheirateten tunesischen Frauen. Geschiedene muslimische Frauen waren allgemein Heiratskandidatinnen zweiter Klasse.

    Qais und Elena konnten fürs Erste selbstverständlich im einfachen, aber geräumigen Haus der alten Eltern wohnen, das ihnen schon seit Jahrzehnten gehörte, genau wie der herrliche umliegende Garten und wo auch noch die zwei jüngsten Schwestern von Qais, Batul und Safia, lebten. Die beiden kamen Elena vom Aussehen her, das heisst vor allem in Bezug auf Körpergrösse, -umfang und Kleiderstil wie altersmässige Miniaturen von Qais‘ Mutter vor. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer sehr demonstrativen Religiosität waren sie noch unverheiratet, was in Tunesien unüblich war, und schauten schon seit Jahren, mit einem beträchtlichen Beitrag von Qais und kleinen Beträgen seiner verheirateten Schwestern unterstützt, nach ihren Eltern, die gesundheitlich ziemlich angeschlagen waren. Die Mutter, daran erinnerte sich Elena bei ihrer Ankunft, litt schon seit der Zeit, als Elena Qais in Tunis kennengelernt hatte, an Diabetes und sein Vater Hassan war in den letzten Jahren körperlich wie geistig immer schwächer und auch schweigsamer geworden, erklärte ihr Qais. An Diskussionen in der Familie beteiligte er sich kaum noch – abgesehen von seinem lauten Schmatzen beim Essen hörte man fast nie etwas von ihm, das bemerkte Elena gleich bei ihrer Ankunft – nur fürs tägliche Gebet und den Gang zur Moschee reichte seine Energie erstaunlich gut, wie Elena nach Kurzem feststellte. Er ging stets um die gleiche Zeit aus dem Haus und liess die Frauen unter sich.

    In den wunderschönen Garten setzte er offenbar auch keinen Fuss, dachte Elena, als sie aus ihren Erinnerungen auftauchte und ihre Augen wieder öffnete. Dabei war er einfach eine Pracht! Und der Kirschbaum war eine besondere Augenweide, an der sich Elena hier schon seit den ersten, fast wie Popcorn geplatzten Knospen täglich ergötzte. Sie, das Naturkind aus den Schweizer Bergen oder – besser gesagt – die Übersetzerin mit ausgeprägten Robinson-Allüren, wie sie sich selbst ironischerweise aber mit realistischem Blick auf ihre Vergangenheit manchmal bezeichnete, konnte sich wirklich fast nicht daran sattsehen oder sattriechen.

    Ganz zu Beginn der diesjährigen Blüte war sie sogar so hin und weg gewesen von dieser atemberaubenden Pracht gleich vor der Haustür ihrer Schwiegereltern, dass sie es fertigbrachte, das mulmige Gefühl zu verdrängen, das sie seit dem sechsten Februar beherrschte, als mutmassliche Islamisten in El Menzah, nicht weit von La Soukra, den politischen Mord am Juristen und linken Oppositionspolitiker Choukri Belaïd begingen. Ebenso erfolgreich blendete sie auch die dadurch aufkeimenden Zweifel, ob ihr Entscheid, mit Qais nach Tunesien zu kommen, richtig gewesen war, aus ihrem Bewusstsein und feilte über mehrere Tage hin an einem Gedicht, das sie später Qais vorlas, der zwar seine eigenen Gedichte selbstverständlich nur im geschliffenen Hocharabisch schrieb, ihre ersten dichterischen Gehversuche auf Deutsch aber durchaus verstehen konnte, da er bei seinem mehrjährigen Aufenthalt in der Schweiz, als er noch mit Larissa verheiratet gewesen war und in Bern in der Sprachschule Arabisch unterrichtet hatte, zu recht guten Deutschkenntnissen gekommen war.

    «Komm setz dich», sagte Elena fröhlich lachend zu Qais, der gerade in ihr gemeinsames Gästezimmer im ersten Stock seines Elternhauses getreten war, nachdem er am Nachmittag mit einem Immobilienvertreter über ihren Bedarf an Schulungsraum gesprochen und bereits einige in Frage kommende Objekte angeschaut hatte. Er war vorerst extra allein hingegangen, denn er fürchtete, Elenas Präsenz als Ausländerin würde den Immobilienhändler womöglich dazu verleiten, den Preis jedes Objekts unverschämt in die Höhe zu treiben.

    Qais wollte sich nicht setzen, sondern umschlang sie heftig und küsste sie. Elena aber wand sich aus seiner Umarmung und sagte neckend:

    «Na, haben wir schon Grund zum Feiern? Hast du unser Traumobjekt gefunden?»

    «Nein, aber ich bin sicher, wir sind auf dem besten Weg dazu!»

    «So, ja dann kann ich mir die Zeit bis zur Erledigung aller Gründungsformalitäten für die Eröffnung unserer Schule weiterhin mit Dichten vertreiben!», scherzte Elena.

    «Mit Dichten? Du?», rief Qais lachend. «Mein schönes Tunesien und der Paradiesgarten meiner Eltern inspirieren dich nun auch zum Dichten? Ich bekomme also Konkurrenz? Na, dann schiess mal los!»

    Elena liess sich nicht zweimal bitten, zwinkterte ihm zu und las ihm mit sichtlicher Freude und hochkonzentriert vor:

    Duftender Frühlingsschnee

    Riesenhummeln tummeln sich wie eh

    Um die Hymen meines Kirschbaums

    Bräutigame in gelbschwarzer Tracht

    Versinken im Frühlingsschnee

    Des unberührten Blütentraums

    Jede zartweisse Jungfrau lacht

    Ob dem summenden Brummer

    Der zitternd kommt und geht

    Immer wieder, von einer zur andern

    Unermüdlich, berauscht

    Sanft und zart

    Wird gepaart

    Wind bauscht

    Natur lauscht

    Blütenstaub

    Überpudert

    Getauscht

    Stempelnd

    Gestreichelt

    Still, sacht

    Liebe

    Gemacht

    «Hübsch», sagte Qais anerkennend. «Wirklich hübsch und so lautmalerisch! Und die Bilder kann ich mir richtig vorstellen!»

    «Es gefällt mir selber», gestand Elena lachend. «Ich wusste gar nicht, dass ich das kann!»

    «Die Liebe ist es, unsere Liebe, die dich beflügelt, ya Habibati!»

    «Bestimmt ist es das, ya Hanani», pflichtete Elena ihm bei und schlang ihre Arme um ihn. «Und weisst du, als ich es dichtete, hörte ich nicht einmal mehr den Lärm der Flugzeuge, wenn sie hier über die Dächer fliegen.»

    Qais lachte, warf noch einmal einen Blick auf das Gedicht und meinte dann augenzwinkernd:

    «Tja, also so ganz sicher bin ich mir da nicht. für das Wort ‹Brummer› haben dich die Flieger vielleicht doch inspiriert, meinst du nicht?»

    Elena hatte wieder gelacht, ihn übermütig geküsst und sich erneut in seine starken Arme gekuschelt.

    Allein bei dem Gedanken an Qais überkam Elena auch jetzt wieder eine wohlige Wärme und sie pflückte sich übermütig ein paar Kirschblüten und steckte sie sich ins Haar und in den Ausschnitt. Ja, sie fühlte sich, obwohl die Dinge in Tunesien, insbesondere das provisorische Zusammenleben mit Qais‘ Familie, bei weitem nicht so einfach waren, wie sie beide es sich im vergangenen Herbst auf dem Brünig und in Thun ausgemalt hatten, immer ganz glücklich und geborgen, wenn sie mit ihm allein zusammen war. Manchmal musste sie sich auch fast ungläubig die Augen reiben, denn so schnell war am Ende alles gegangen, nachdem Qais wieder aus dem Spital in Interlaken entlassen worden war, wo er wegen seiner lebensgefährlichen Rauchvergiftung längere Zeit auf der Intensivstation gelegen hatte. Sabri, sein Lebensretter, reiste ihnen schon voraus nach Tunis, während Elena und Qais in der Schweiz noch in aller Eile alle jene Papiere besorgten, die für ihre standesamtliche Heirat nach Schweizer Recht nötig waren. Da Qais nach seiner Scheidung von der Schweizerin Larissa immer noch über einen völlig legalen Aufenthaltsstatus verfügte, war es für beide naheliegend, die Formalität noch in der Schweiz zu erledigen. Ende Dezember 2012, knapp vier Monate nach Qais‘ schrecklichem Unfall auf ihrer Alp auf dem Brünig und vor allem nach all diesen langen Jahren, nach denen sie sich in der Schweiz endlich wiedergefunden hatten, heirateten sie in Thun, wobei die Ehe in Tunis nachträglich auch noch registriert werden musste.

    Elena entschloss sich bei der Schweizer Administration ohne Zögern für Qais‘ wohlklingenden Familiennamen Essabra, obwohl sie vor ihrer zweiten Hochzeit auch die Möglichkeit gehabt hätte, wieder ihren früheren Mädchennamen Erb – auf Arabisch transkribiert wäre daraus vielleicht sogar ein carab geworden – anzunehmen und diesen gemäss dem neuen Schweizer Namensrecht zu behalten. Den Namen «Bruderer» ihres Ex-Mannes Claude wollte sie nicht mehr, obwohl er ihr früher, wie sie sich nicht ganz ohne Scham eingestehen musste, sehr gelegen gekommen war. Eine neue, glückversprechende Ära begann schliesslich in ihrem Leben und in dieser war sie die Elena – in manchen zärtlichen Nächten mit Qais auch die Eleyla – Essabra in Tunis. Ihr neuer Name schien ihr – obwohl die Frauen in Tunesien in offiziellen Dokumenten stets ihren Mädchennamen behielten –, perfekt zu ihrer neuen Heimat zu passen, in welcher aber alles natürlich ein bisschen weniger perfekt als in der Schweiz war, was sie gleich bei ihrer Ankunft schon am Flughafen Tunis-Carthage an den blauen, teilweise erloschenen Leuchtziffern auf dem Flughafendach erkannte. Schweizer Perfektionismus war aber völlig fehl am Platz, sagte sie sich gleich, denn natürlich gab es im Lande, zwei Jahre nach der Revolution und nachdem der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi allein in Tunesien, aber auch in der übrigen arabischen Welt, über hundert abgrundtief verzweifelte Nachahmer gefunden hatte, die nicht in die Geschichte (und in Wikipedia) eingingen, viel dringendere Probleme zu lösen, als Buchstaben leuchten zu lassen oder beispielsweise auch lodernde, zum Himmel stinkende Abfallhaufen zu löschen, die man da und dort in ärmlicheren Quartieren sah und welche, wie Elena später in den Nachrichten erfuhr, sich vor allem im Süden des Landes zu einem ernsthaften Problem entwickelten.

    La Goulette, April 2013

    Weil das Baby im entscheidenden Moment wie am Spiess schrie, konnte sie es nicht tun. Am ganzen Körper zitternd drückte sie das weinende kleine Wesen an sich, setzte sich auf den Boden, gut versteckt hinter dem Gebüsch, und entblösste ihre rechte Brust, aus der die Milch bereits tropfte. Sofort suchte das Kind die volle Brustwarze, schmatzte etwas und saugte dann zufrieden. Sie hörte, wie es die warme Milch – ihre Milch – schluckte. Das Einzige und Beste, was sie ihm geben konnte. Etwas, das ihr eigener Körper hervorbrachte, etwas, wofür sie sich für einmal nicht schuldig fühlen musste, etwas, worauf sie manchmal sogar eine Sekunde lang stolz war. Dass das nicht allzu oft passierte, dafür hatte man bereits im Spital gesorgt, wo sie ihr Kind vor knapp zwei Wochen unter grossen Schmerzen geboren hatte. Die Ärzte und Hebammen kümmerten sich aus medizinischer Sicht zwar korrekt um sie und ihr Neugeborenes, gaben ihr aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit unmissverständlich zu spüren, wie schuldig sie an ihrem Fehltritt war.

    Auch der Beamte, der kurze Zeit nach der Geburt bei ihr erschien und sie zuerst eine Weile lang vernichtend anschaute, sie als Abschaum der Menschheit bezeichnete und dann fragte, seit wann und wo sie sich für gewöhnlich prostituiere und ob sie denn für eine allfällige DNA-Analyse einen Schimmer von den Namen ihrer Klienten habe, schien an der demütigenden Befragung Spass zu haben.

    Amina, geschwächt wie sie von der langen Geburt war, brachte trotzdem noch die Kraft auf zu protestieren. Sie sei keine solche, wie er meine und natürlich wisse sie den Namen des Vaters, aber es sei völlig zwecklos, nach ihm zu suchen. Er sei fort, über alle Berge, irgendwo ins Ausland verreist, unerreichbar für eine erzwungene Vaterschaftsanalyse! Der Angestellte des Innenministeriums aber blieb hartnäckig, betonte, das Kind brauche den Namen seines Vaters, der Name der Mutter reiche nicht für eine offizielle Existenz! Sie solle ihm nun, wenn sie also keine verdammte Hure sei, genau beschreiben, wann, wie und mit wem das Kind entstanden sei.

    Amina erstarrte damals und sie brachte eine Weile keinen Ton heraus, bis sie schliesslich stotternd einen Namen und eine Adresse nannte, die der Angestellte des Innenministeriums mit Siegeslächeln notierte. Er hatte endlich, womit er recherchieren konnte! Der Bastard an ihrer Brust bekäme also wenigstens eine Chance, den Namen seines richtigen Vaters zu erhalten, statt eines Patronyms, das die Behörden für das gesellschaftliche Wohl des Kindes erfinden würden, erklärte er ihr triumphierend.

    Amina war erleichtert gewesen, dass sie im letzten Moment einen fiktiven Namen hatte hervorstottern können, aber als der Funktionär des Innenministeriums endlich verschwunden war, überkam es sie heiss, dass sie das Spital nun schnellstens verlassen musste, bevor er es herausfinden, zurückkehren und weitere Fragen stellen würde. Gleich am anderen Tag verliess sie das Spital und versprach, sich sofort bei dem Hilfsverein für ledige Mütter und Kinder im Zentrum von Tunis zu melden, dessen Adresskarte man ihr zugesteckt hatte. Sie solle ihr neues Domizil dann auch ihren Eltern in Sousse mitteilen, damit diese Kontakt mit ihr aufnehmen konnten, auch wenn sie sich seit der Geburt des Kindes verständlicherweise – wie man es gerne betonte – nicht hatten blicken lassen.

    Seither irrte Amina mit ihrem Kind in den Strassen von Tunis herum, spürte, wie sie mit jedem zusätzlichen Tag erschöpfter und orientierungsloser wurde und wie sogar die Erinnerung an Youssef, ihren Professor für arabische Literatur an der Universität La Manouba, der ihr in einem ihrer letzten vertrauten, intimen Momente im vergangenen Sommer stolz von seiner kommenden mehrjährigen Gastprofessur im Ausland erzählt hatte, allmählich verblasste.

    Amina schluckte ihre Tränen hinunter. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Manchmal fragte sie sich sogar, ob sie wirklich Amina sei oder ob womöglich irgendein Geist, ein Dschinn, von ihr Besitz ergriffen habe – oder zumindest ein abgespaltener, bis

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