Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Hoffnung auf das große Glück: Das Leben meiner Oma
Hoffnung auf das große Glück: Das Leben meiner Oma
Hoffnung auf das große Glück: Das Leben meiner Oma
eBook296 Seiten3 Stunden

Hoffnung auf das große Glück: Das Leben meiner Oma

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ingolstadt 1916: Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter wächst die kleine Fanny bei ihren Großeltern auf. Den Ersten Weltkrieg erlebt sie als junges Mädchen im Kreis einer Familie, zu der sie doch nie richtig gehört. Als uneheliches Kind ist sie stets auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit und wird doch immer wieder enttäuscht. Trotzdem verliert sie nie die Hoffnung. Geprägt von Entbehrungen und Schicksalsschlägen geht sie als junge Frau ihren eigenen Weg.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Aug. 2017
ISBN9783475547102
Hoffnung auf das große Glück: Das Leben meiner Oma

Ähnlich wie Hoffnung auf das große Glück

Ähnliche E-Books

Biografien – Frauen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Hoffnung auf das große Glück

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Hoffnung auf das große Glück - Doris Strobl

    Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2017

    © 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

    www.rosenheimer.com

    Titelbild: © Bundesarchiv, Bild 183-17146-0011

    Fotograf: Klein

    Lektorat und Bearbeitung: Stefanie Höfling, Wiesbaden

    Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

    eISBN 978-3-475-54710-2 (epub)

    Worum geht es im Buch?

    Doris Strobl

    Hoffnung auf das große Glück

    Das Leben meiner Oma

    Ingolstadt 1916: Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter wächst die kleine Fanny bei ihren Großeltern auf. Den Ersten Weltkrieg erlebt sie als junges Mädchen im Kreis einer Familie, zu der sie doch nie richtig gehört. Als uneheliches Kind ist sie stets auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit und wird doch immer wieder enttäuscht. Trotzdem verliert sie nie die Hoffnung. Geprägt von Entbehrungen und Schicksalsschlägen geht sie als junge Frau ihren eigenen Weg.

    Vorwort

    »Der General kommt«, flüsterte Oma und lächelte.

    Man hörte laute Schritte auf dem Gang.

    »Klack, klack, klack«, sagte Oma. »Furchtbar, das klingt wie früher bei den Soldaten. Im Krankenhaus sollte man doch wieder gesund werden, oder? Was die Mädchen für Schuhe anhaben! Das weckt unschöne Erinnerungen.«

    Die Zimmertür wurde schwungvoll geöffnet, und eine junge Frau kam herein.

    Betont fröhlich rief sie: »Mund auf bitte, Tabletten gibt’s!«

    Oma zwinkerte mir zu und öffnete den Mund. Die Krankenschwester legte ihr eine Kapsel auf die Zunge. Sie reichte ihr ein Glas Wasser und erklärte mir: »Ich muss so lange stehen bleiben, bis Ihre Oma hinuntergeschluckt hat, manchmal kommt es nämlich vor, dass sie die Pillen wieder ausspuckt.«

    Oma würgte ein bisschen, schluckte und ließ sich melodramatisch in ihr Kopfkissen sinken.

    »Na sehen Sie, geht doch!«, lobte die Schwester und ging hinaus.

    Oma bat um ein Papiertaschentuch und spuckte hinein. »Blöde Pillen«, schimpfte sie.

    »Aber Oma«, versuchte ich zu protestieren.

    Sie grinste und erklärte mir: »Weißt du Kind, dein Ururgroßvater, also mein Großvater, gab mir einen guten Rat: ›Wenn du alt werden willst, nimm bloß keine Medikamente! Ist alles Gift!‹ Er ist trotz der Hungerzeiten nach dem Krieg achtundachtzig Jahre geworden. Ich bin vierundneunzig und bisher ganz gut ohne Tabletten ausgekommen. Wieso sollte ich jetzt damit anfangen? Außerdem sterbe ich sowieso bald.«

    »Ach, Oma«, seufzte ich hilflos.

    Sie tätschelte meinen Arm. »Gutes Kind, es ist eine Tatsache, dass es in Kürze so weit ist. Meine Mutter und mein Onkel Gustl haben mir bereits beide einen Besuch abgestattet. Es heißt, dass einen die abholen, nach denen man sich am meisten sehnt.«

    »Ich würde dich vermissen«, schniefte ich.

    »So ist das Leben.« Oma lächelte leicht. »Den Lauf der Welt kannst du nicht aufhalten. Ich werde dir keine Reichtümer vererben, aber wie ich gut durchs Leben kam, das verrate ich dir. Zufriedenheit ist das höchste Gut. Je mehr man haben will, je mehr man ersehnt, erhofft und wünscht, umso schwieriger wird es. Ich erzähl dir gerne, wie es mir ergangen ist in den letzten vierundneunzig Jahren. Daraus kannst du bestimmt einen Roman machen!«

    Oma gab ihre Erinnerungen preis, und ich fand es erstaunlich, wie stark sich manche Momente aus der Vergangenheit in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.

    Dieser Roman basiert zum Teil auf wahren Begebenheiten. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Geschehnissen und Namensgleichheiten sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt. Meine Oma wohnte zwar in Ingolstadt, aber alle Namen und Ortsangaben sind verändert.

    Oma lebte als Fabrikarbeiterin in bescheidenen Verhältnissen. Hatte sie mehr Geld, teilte sie großzügig mit Kindern und Enkeln, oder sie verreiste. Wenn weniger zur Verfügung stand, schränkte sie sich stets klaglos ein. Sie vertraute auf »Gott, unseren Herrn« und »Maria, die Gottesmutter«.

    Doch nun soll meine Oma – ich nenne sie in meiner Geschichte Franziska – zu Wort kommen.

    Kapitel l

    1914

    Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen geht zurück ins Jahr 1914. Es war ein heißer Sommermorgen im August in Ingolstadt.

    »Na, Fanny, was musterst du mich so eindringlich?«, forschte mein Vater.

    »Du siehst aus wie unser König«, wisperte ich ehrfürchtig. Die Eltern fingen an zu lachen.

    Vater schmunzelte. »Na, ich denke, dessen Uniform ist prächtiger, und es heften gewiss viel mehr Orden daran. Aber wenn ich eine Fotografie für euch anfertigen lasse, will ich das in meiner Ausgehuniform tun. Es kann sein, dass ich bald in den Krieg ziehen muss, man hört einige Gerüchte. In den ersten Kriegswochen wird es wohl wenig Heimaturlaub geben. Dann schaut ihr das Bild an und denkt an mich.«

    Josef, mein kleiner Bruder, stand, abgelenkt durch das Gespräch, fertig angezogen auf dem Küchentisch. Vater hob ihn nun herunter. Mutter reichte mir mein Kleidchen und half mir beim Anziehen.

    »Pass auf Josef auf, damit er keinen Unsinn macht«, befahl sie. »Sobald ich angekleidet bin, gehen wir los. Komm mit, Albert«, sagte sie an Vater gewandt, »ich brauche deine Hilfe.«

    Er zwinkerte mir zu und trug mir auf: »Ihr zwei bleibt in der Küche und rührt euch nicht vom Fleck!«

    Ich nickte und blieb mit Josef zurück.

    Vater hatte als Offiziersstellvertreter im Bayerischen Heer eine gehobene Stellung inne und ein gewaltiges gesellschaftliches Prestige. Dennoch musste Mutter sparsam wirtschaften, denn das Gehalt unseres Vaters entsprach in etwa dem eines Handwerkers. Aber wir wohnten kostenfrei in einem kleinen Häuserl nahe der Glacis. Vater bekam außerdem das sogenannte »Brotgeld« und seine Dienstkleidung gestellt. Für die gesamte Familie übernahm die Armee die Kosten für ärztliche Behandlungen. Die Krankenversicherung befand sich erst noch im Aufbau, und die meisten Menschen mussten die Arztrechnungen aus eigener Tasche bezahlen.

    »Josef!«, schrie ich und erreichte ihn gerade rechtzeitig, bevor er die Hände in den Kohleneimer steckte. Vater nannte ihn manchmal scherzhaft das »Kind der Liebe«. Ja, er liebte meine Mutter, und ich erinnere mich an ein harmonisches Familienleben. Ich hatte nie das Gefühl, schlechter als Josef behandelt zu werden. Nur wenn ich es versäumte, gut auf ihn aufzupassen, wurde Vater ungehalten. Einmal verlor ich Josef aus den Augen, weil ich mit meinen Freundinnen in ein Spiel vertieft war. Eine Stunde schien er unauffindbar. Ich bekam Vaters Hand schmerzhaft zu spüren. Er versohlte mir den Hintern und meinte, dass ich mir auf diese Art und Weise besser merken würde, was Pflichterfüllung bedeutet.

    »Josef, lass das«, schimpfte ich mit ihm und zog ihn vom Kohleneimer weg.

    Ich sah, dass er weinerlich das Gesicht verzog, und fragte: »Wo ist dein Degen? Der muss sicherlich mit auf die Fotografie, oder?«

    Das Ablenkungsmanöver gelang. Er sauste los, um die Spielzeugwaffe zu suchen.

    »Hab ihn gefunden.« Er hielt mir den kleinen Degen hin, den er dieses Jahr unter dem Christbaum vorgefunden hatte. Ich zurrte den Gürtel fest um seinen Bauch. Nachdem er den Degen in den Gürtel geschoben hatte, fing er an, die Waffe aus der Scheide zu ziehen, fuchtelte damit herum und kämpfte gegen einen imaginären Feind. »Nimm das, du französischer Hund!«, krähte er.

    Die Eltern traten in die Küche, Mutter setzte mir den Hut auf. Die langen Bänder, die rechts und links herunterhingen, verknotete sie unter meinem Kinn. Sie fertigte eine hübsche große Schleife und stülpte Josef eine Kappe über die blonden Haare.

    »Auf geht’s«, rief sie fröhlich.

    Viele Jahrzehnte sind inzwischen vergangen. Ich wundere mich darüber, wieso ich ausgerechnet diese Szene in der Küche in Erinnerung behalten habe. Es ist interessant, welche Eindrücke aus unserer frühen Kindheit für immer im Gedächtnis bleiben. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich Mutter, Vater und Josef vor mir. Ich höre ihre Stimmen, als sei es gestern gewesen. Eine Fotografie anfertigen zu lassen, kostete damals eine Menge Geld und galt als absoluter Luxus. Gab das Bildnis seiner Liebsten Vater vielleicht Mut und Halt für den kommenden Kriegseinsatz?

    Als wir beim Fotografen Haug in der Milchstraße ankamen, reihten wir uns in eine lange Schlange ein.

    »Was für ein großes Schild«, staunte Vater und las: »Sonderpreise für Militär!«

    Er entdeckte einige Soldaten seiner Kompanie, die diensteifrig salutierten. Auch sie hatten ihre Frauen und Kinder mitgebracht. Vor der Eingangstüre des Ladens warteten die Kunden. Eine Verkäuferin rief: »Bitte hören Sie auf, zu drängeln, es kommt doch jeder dran! Oder kommen Sie doch morgen wieder!«

    »Da hat der Kaiser vielleicht schon den Krieg erklärt, und wir müssen fort«, schrie jemand aus der Menge. »Wer weiß, was das Attentat auf den österreichischen Thronfolger noch nach sich zieht!«

    »Es gibt nur eine Antwort«, brüllte ein anderer.

    Der Fotograf, ein älterer Herr mit grauen Haaren und Spitzbart, ließ sich von der aufgeheizten Stimmung nicht anstecken. Er gab präzise Anweisungen, wie die Damen und Herren zu sitzen und zu stehen hatten. Ich staunte über das übergroße Hintergrundbild, das einen Wald darstellte. Davor stand ein imposanter Sessel.

    »Nehmen Sie Platz, gute Frau«, sagte Herr Haug zu Mutter, als sie mit uns auf die erhöhte Plattform trat.

    Ich sollte mich neben Mutter stellen und meine Hand auf die Lehne des Sessels legen. Josef erhielt die Anweisung, sich mit gezogenem Degen vor ihr zu platzieren.

    »Brav, da wächst der Soldatennachwuchs heran«, lobte der Fotograf und befahl, während er hinter die auf einem Stativ befestigte Kamera ging: »Bitte stillstehen und freundlich zu mir herschauen, aber nicht übertrieben grinsen oder lachen!«

    Es machte einige Male klick, klack, dann rief der Fotograf: »Fertig! Sie werden sehen, das Bild wird ihnen gefallen.«

    Als Vater vor der Leinwand stand, wurde der Waldhintergrund mit einem schwarzen Tuch verdeckt. Er bekam den Rat: »Blicken Sie dem Feind forsch in die Augen!«

    Eine Woche später brachte Vater die postkartengroßen Fotos, auf stabilen Karton gedruckt, mit nach Hause. Wir staunten, wie schön wir aussahen. Die damals angefertigte Fotografie habe ich gehütet wie einen großen Schatz. Denn es ist das einzige Bild, das ich von meiner Mutter besitze. Es kam ja bald ein unfassbares Unglück über unsere Familie.

    Eines Tages hetzte Vater dann mitten am Nachmittag in unser kleines Häusl. »Es ist so weit!«, rief er aufgewühlt. »König Ludwig hat die Mobilmachung des bayerischen Heeres angeordnet. Wir ziehen in den Krieg! Der Marschbefehl für mein Armeekorps kann jederzeit kommen. Bis dahin muss ich in der Kaserne bleiben. Lasst uns jetzt Abschied nehmen, wer weiß, wie schnell und unvermittelt wir ausrücken werden.«

    Mutter sah ihn erschrocken an, doch sie fasste sich und meinte: »Dann lagst du richtig mit deiner Vermutung, dass der Habsburger den Tod des Sohnes rächen würde.«

    Vater nickte. »Deutschland wird durch den Krieg an Macht und Einfluss gewinnen. Wir sind gut ausgerüstet und haben tapfere Männer in der Armee.«

    Tatsächlich erfolgte kurz darauf die Mobilmachung. König Ludwig III. richtete sich mit einem öffentlichen Aufruf an die Bevölkerung. An meine Bayern stand in dicken Lettern über seiner Botschaft, in der er unter anderem schrieb:

    Unsere wehrhaften Männer scharen sich erfüllt von Gottvertrauen und Zuversicht um die Fahnen. Bewegten Herzens lassen wir unsere Tapferen ins Feld ziehen. Gott segne unser tapferes Deutsches Heer. Er schütze den Kaiser, unser Vaterland und unser geliebtes Bayern.

    Ganz Ingolstadt schien auf den Beinen, als eine Woche später die Soldaten verabschiedet wurden. Aus Angst vor Spionage erfuhren die Armeeangehörigen nicht, wo ihre Einheit zum Einsatz kam. Die festliche, feierliche, heitere, überschwängliche Stimmung dieses Tages war unbeschreiblich. Die Kinder durften von der Schule zu Hause bleiben. Die Kirchenglocken läuteten, als die Regimenter durch die Innenstadt marschierten. Klack, klack, klack.

    Wir drückten den Soldaten Blumen in die Hände, die wir extra zu diesem Zweck gepflückt hatten. Sie zogen singend an uns vorbei zum Centralbahnhof, dem heutigen Hauptbahnhof.

    Josef, Mutter und ich liefen neben Vaters Truppeneinheit her. Eine unübersehbare Menschenmenge hatte sich schon am Bahnhof eingefunden. Mutter schärfte mir und Josef ein, nah bei ihr zu bleiben. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, während Pferde, Gewehre und Kanonen verladen wurden.

    »Das ist die ›Dicke Bertha‹«, rief Josef ganz aufgeregt, und Vater lobte ihn, dass er mit seinen vier Jahren bereits so gut über Kanonen Bescheid wusste. Die Soldaten stiegen in die Zugabteile, verabschiedet von Ehefrauen, Freundinnen, Kindern und Müttern. Tapfer unterdrückte Mutter die Tränen, wie Vater es ihr vorher eingeschärft hatte. Mein Bruder und ich konnten uns überhaupt nicht vorstellen, wie es zuging im Krieg, aber wir waren traurig, dass Vater wegfuhr.

    Unser Lehrer hatte uns im Unterricht erzählt, dass es unbedingt notwendig sei, gegen den Feind zu ziehen. »Ich bin leider zu alt«, sagte er. »Wie sehr beneide ich die jungen Soldaten, die dieses große Abenteuer erleben dürfen!«

    Josef klammerte sich an Vater und schrie: »Ich will mit! Ich habe einen Degen!«

    »Kannst du die Kreide-Aufschriften auf den Bahnwaggons schon lesen?«, fragte mich Vater.

    Ich schüttelte den Kopf.

    »An Weihnachten wieder zu Hause«, sagte er.

    »Dann können wir das Christfest zusammen feiern, wenn das alles so schnell geht. Das stimmt doch, oder?« Mutter sah Vater hoffnungsvoll an.

    »Selbstverständlich, Betti! Der Kaiser befehligt immerhin 800 000 Mann. Die Heeresleitung ist zuversichtlich, dass wir den Feind überrennen werden. Gemeinsam mit Österreich-Ungarn sind wir unbesiegbar.« Zu Josef und mir sagte er: »Ich möchte von Mutter keine Klagen hören. Ihr werdet schön folgsam und brav sein, hört ihr?«

    Wir nickten ehrfurchtsvoll. Dann hieß es, einsteigen. Ich erschrak furchtbar, als die mächtige Dampflok einen Pfiff ausstieß und eine imposante Rauchwolke in die Luft entließ.

    Wir winkten mit unseren Taschentüchern, die Männer schwenkten Blumensträußchen und sangen: »Wir traben in die Weite, das Fähnlein weht im Wind.«

    Wir liefen den drei Kilometer langen Weg vom Centralbahnhof zurück in die Stadt, als die Pferdebahn vorbeifuhr. »Die Tramway«, schrie Josef aufgeregt.

    »Die armen Pferde haben schwer zu schleppen«, stellte ich fest. »Da sitzen sieben Leute drin, und ein furchtbar dicker Mann! Schau Mutter, da sind noch Stehplätze frei!«

    Mutter schimpfte mit mir: »Sei nicht immer so vorlaut, das ist unschicklich für ein Mädchen. Die halbe Stunde wirst in die Stadt laufen können. Mit der Pferdebahn fahren! Das ist was für die Reichen. Für uns ist es zu teuer. Danken wir lieber Gott, dass wir gesunde Füße haben.«

    Sehnsüchtig sah ich der Pferdetram nach. Sie nahm den Weg über die Donaubrücke und Theresienstraße bis zum Münster. Einige Jahre später sang man dann das Lied von der Ingolstädter Pferdbahn. Immer wenn ich es höre, muss ich an diesen Tag denken und daran, wie gerne ich einmal mitgefahren wäre:

    »In Ingolstadt ist es zünftig,

    da gibt’s a Pferdebahn,

    da oane Gaul, der ziagt net,

    der andere ist lahm!

    Da Kutscher hat an Buckel,

    die Radl, die sin krumm,

    und alle fünf Minuten

    da fliegt der Wagen um.«

    Die Pferdebahn wurde bald darauf eingestellt. Ich finde es schade, dass ich nie Gelegenheit hatte, mitzufahren.

    Auf halber Strecke trafen wir Großvater, den Vater unserer Mutter. »Vater, wohin gehst du denn?«, fragte sie ihn erstaunt.

    Er fuhr sie an: »Bestimmt ned zum Verabschieden von den Kriegshelden! Ich muss zum ›Münchner Hof‹ und dem Wirt seine Stiefel bringen.«

    »Jessas, bist du grantig«, gab die Mutter zurück.

    »Weil es wahr ist!«, schimpfte er. »Scho wieda a Kriag. Alle jubeln und freu’n sich. Kann vui a den Bach owa geh’n. Ich hoff, es geht guat aus!«

    »An Weihnachten wieder zu Hause stand auf den Zugwaggons«, gab ich altklug zum Besten.

    Großvater fing an zu lachen, fuhr durch seine grauen Haare und meinte: »Dann schau’n wir mal, Madl, wir werden ja bald wissen, ob das stimmt. Ihr könnt auf mich warten, ich geh mit euch zusammen in die Stadt zurück.«

    Josef und ich ließen uns neben der Mutter auf den Grasstreifen sinken. Bald darauf rief uns Großvater: »Betti, Kinder, kommt her, der Wirt lädt uns ein, damit wir auf die tapferen Soldaten anstoßen können.«

    »Meinst wirklich?«, fragte Mutter zögerlich.

    »Freilich, geh nur mit«, drängte Großvater.

    Der Wirt begrüßte uns persönlich und wies uns einen Tisch im Biergarten zu. Nebenan saßen der Lehrer und der Pfarrer und grüßten freundlich herüber. Eine ungewöhnliche Geste, normalerweise beachteten sie lediglich unseren Vater, aber nicht seinen Anhang und den Großvater.

    »Hast ordentlich gearbeitet, Schuster«, sagte der Wirt zu Großvater. »Heute muss einfach g’feiert werden! Mein Sohn ist auch einberufen worden. Was wollt ihr trinken?«

    Ich musterte die anderen Gäste und sah mich eingeschüchtert um. Ein Wirtshaus oder einen Biergarten hatten wir mit den Eltern noch nie besucht. Ich kannte lediglich die Gassenschänke, bei der ich das Feierabendbier für den Vater holte. An einem kleinen Guckfenster gab ich den mitgebrachten Krug ab, und die Bedienung reichte ihn mir gefüllt heraus.

    Zum ersten Mal in meinem Leben trank ich eine Limonade. Sie schmeckte wirklich köstlich, und ich nahm ganz winzige Schlucke, um den Genuss zu verlängern. Großvater und Mutter ließen sich ein Bier schmecken.

    »Auf den tapferen Soldaten«, sagte Großvater, als er den Maßkrug hob.

    »Ich bete darum, dass er gesund heimkommt«, erwiderte Mutter.

    Sie stießen mit ihren tönernen Bierkrügen an, und plötzlich fing Mutter an, bitterlich zu weinen.

    »Ach, Vater«, schluchzte sie. »Jetzt hätt ich endlich auch mal ein bisserl Glück g’habt im Leben, und nun zieht mir der Albert hinaus auf’s Feld.«

    Wir Kinder schauten erschrocken, und Großvater strich mit der knochigen, abgearbeiteten Hand über den Rücken seiner Tochter.

    »Geh, Madl, ned schwarzseh’n. Beten hilft! Glaub mir’s, der kummt scho wieder heim!«

    Sie wischte mit einem Taschentuch die Tränen fort und sagte: »Ich weiß, dass du mehr für die Sozialisten bist, die gegen den Krieg sind, aber Albert hält die Entscheidung Kaiser Wilhelms für richtig.«

    »Jeder muss es so machen, wie er es verantworten kann«, antwortete der Großvater.

    An diesem Abend stellten wir eine brennende Kerze vor Vaters Fotografie. Bevor wir schlafen gingen, beteten wir von nun an gemeinsam: »Gegrüßet seist du, Maria« und »Vater unser«.

    »Lieber Gott, beschütze Albert! Lass ihn unverletzt zu seiner Familie zurückkehren. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich an einer Wallfahrt nach Altötting teilnehmen werde«, fügte meine Mutter noch hinzu.

    Dazu kam es nicht mehr, denn ein schwerer Schicksalsschlag, der mein Leben gravierend beeinflussen sollte, machte alle Hoffnungen und Pläne zunichte.

    Kapitel 2

    1916

    Mit einem quietschenden Geräusch wurde die Klassenzimmertüre einen Spalt weit geöffnet. Meine Mitschülerinnen und ich schauten neugierig. Lehrer Deinerl war sehr streng und konnte furchtbar schimpfen. Wer traute sich, so früh am Morgen die Schulstunde zu unterbrechen?

    »Bitte, Herr Lehrer, auf ein Wort.« Ich erkannte Großvaters heisere, dunkle Stimme.

    Irritiert stand Herr Deinerl auf und ging hinaus. Als er zurückkam, sagte er zu mir: »Fanny, pack deine Sachen, du darfst heimgehen.«

    Er sah mich eigenartig an. Eilig packte ich die Schulsachen zusammen und steckte sie in den Ranzen.

    Großvater schob seine Hand in meine und erklärte: »Deine Mutter hatte einen Unfall. Sie ist im Garnisonslazarett.«

    »Ist sie hingefallen?«, fragte ich.

    Großvater schüttelte den Kopf. »Sie hat sich verbrannt. Das tut sehr weh. Sie wird wohl eine Weile dortbleiben müssen, wollte dich aber gerne sehen.«

    Mein Herz klopfte wild, als wir auf das Lazarett zugingen. Ein Arzt kam uns entgegen und herrschte Großvater missbilligend an: »Das Kind können Sie unmöglich mitnehmen, das ist kein Aufenthaltsort für ein kleines Mädel!«

    »Ich weiß«, antwortete Großvater. »Elisabeth Kerner ist ihre Mutter.«

    »Verstehe«, knurrte der Mann, der einen weißen Kittel trug, der mit roten Flecken übersät war.

    »Ist das

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1