Flüchtiges Zuhause: Erzählungen
Von Hermann Rolf
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Über dieses E-Book
Im abgelegenen Bergdorf hingegen, wo die Gassen so eng sind, dass die Kinder quer über die Dächer laufen, lebt einzig noch die Großmutter, die immer von einem anderen Leben träumte und des Nachts Gedichte schrieb. Die Zeiten, da man die Waren über Leitern am steilen Berg transportierte, sind längst vorbei. Heute geht es samstags mit dem Subaru zum Einkauf ins Placette. Als eines Tages der Großvater den Jungen bittet, ihn zum Winterschnitt in die Reben zu begleiten, wissen beide, dass nicht nur deren Tage gezählt sind.
Mit seinem ersten Erzählband betritt Rolf Hermann literarisches Neuland. Er blickt auf Kindheits- und Jugendjahre in einem Tal zurück, um das himmelhoch die Berge stehen. Mit Wärme und Feingespür, in einer bildstarken, präzisen Sprache entfaltet er die Lebenswelt dreier Generationen im Wandel der Zeit. Er erzählt – eine sanfte Melancholie, bisweilen auch einen stechenden Schmerz auslösend – von stillen Sehnsüchten und leisen Abschieden. Und von der Tätigkeit, die den Dingen und Menschen, die man liebt, Dauer verleiht: dem Schreiben.
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Buchvorschau
Flüchtiges Zuhause - Hermann Rolf
Nebel
Klingendes Geröll
In meiner Studienzeit wohnte ich in Bern, in einem Quartier unweit der Aare, die, aus südöstlicher Richtung vom Thunersee kommend, den auf einem Geländesporn errichteten Teil der Altstadt in einer engen Schleife umfließt. Wenn sich sommers die Gelegenheit bot und der Fluss mindestens eine Temperatur von 18 Grad hatte, ging ich in ihm schwimmen. Manchmal mit einem guten Freund. Oft allein.
In Badehosen und T-Shirt, das Badetuch unter den Arm geklemmt, zog ich los. Die Holztür meiner Dachwohnung fiel ins Schloss, und ich stieg die vier Stockwerke hinab, spazierte durch den seltsam echolosen Lärm der Berner Straßen, ging einen mit wildem Gestrüpp bewachsenen Abhang hinunter, querte die Talsohle – an einem ehemaligen Gaswerkareal entlang, den Weg über den löchrigen Asphalt suchend, der von ockergelben Pfützen durchzogen war – und erreichte den Fluss.
Ich erinnere mich, wie ich manchmal minutenlang am Rand eines Fahrradwegs auf die blaugrüne, in Ufernähe vermeintlich träge, in der Flussmitte aber rasant dahingleitende Wasseroberfläche blickend mich plötzlich an das Ufer eines anderen Flusses versetzt sah – an den Fluss meiner Kindheit und Jugend: die Rhone. Sie, die nur ein paar Kilometer Luftlinie von der Quelle der Aare entfernt entspringt und zunächst als Rotten durch den deutschsprachigen Teil des Wallis fließt. In dem Ort, wo der Rotten zum ersten Mal gestaut und ihm ein Teil seines Wassers entnommen und über einen Kanal einem Aluminiumkonzern zur Stromgewinnung zugeführt wird, wuchs ich auf.
Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich auf dem Nachhauseweg mit meinem Vater die Brücke über dem Staubecken passierte und auf einmal, wie aus dem Nichts, ein Helikopter vor der Sommersonne stand und mit dumpfen Schlägen die Luft zerteilte. Aus dem Seitenfenster unseres Subaru sah ich, wie der im tiefen Licht glitzernde Flugkörper einen riesigen, an Metallseilen befestigten Kessel ins Wasser senkte, kurz darauf wieder abhob und einen unseren Blicken verborgenen Zielort anflog.
Zu Hause angekommen, erkannten Vater und ich sogleich den Grund für die Löscharbeiten: Ein paar Kilometer flussaufwärts stand links eine ganze Bergflanke in Flammen. Wir stiegen rasch aus dem Auto und eilten ins Haus, wo Mutter und meine zwei Brüder bereits auf dem Balkon standen und erstaunt und erschrocken zugleich das unheimliche Spektakel beobachteten. Vater, der durch einen Feldstecher auf die fast bis zum Himmel emporragende, gewaltige Woge aus Feuer spähte, begann das Treiben zu kommentieren, ließ uns wissen, wie viele Helikopter am Himmel kreisten, wo genau sich die Feuerwehrkräfte der umliegenden Gemeinden aufhielten und in welchem Gebiet sich die Flammen am unerbittlichsten ausbreiteten. Einmal meinte er sogar, er könne die in alle Richtungen davonstiebenden Tiere erkennen: Füchse, Gämsen, Steinböcke, Hirsche und Rehe. Ein Reh etwa renne gerade Hals über Kopf hangabwärts, überschlage sich öfters, richte sich aber immer wieder auf und hetze weiter, der Talebene, dem Rotten zu, der ihm, wegen des vom vielen Schmelzwasser bedingten Hochstands, wohl kaum Rettung bieten könne.
Wie lange wir an dem Abend auf dem Balkon standen, weiß ich nicht mehr. Umgehend wurde aber das sich über mehrere Wochen hinziehende gemeinsame Beobachten der Löscharbeiten, die im steilen Gelände nur zögerlich zu bewerkstelligen waren, zu einem täglichen Ritual. Während die stets von Neuem auflodernde Glut bis zu zwei Meter tief in den Waldboden hineinkroch, grub sich jene Szene, die Vater durchs Fernglas erblickt hatte, in mich hinein, bis sie des Nachts in meinen Träumen wiederkehrte. Ich stehe am linken Rottenufer und sehe das bellende Reh. Völlig außer sich galoppiert es am gegenüberliegenden Ufer auf und ab, setzt einen Huf ins Wasser, zieht ihn zurück, fängt erneut zu bellen an. Und hinter ihm brennt es lichterloh. Zwischen uns reißt der Rotten immer ungestümer alles mit, was sich ihm entgegenstellt: Baumstämme, Felsblöcke, Brückenpfeiler. Als die Lage immer aussichtsloser wird, es Feuerfunken zu regnen beginnt und ganze Schilfgürtel in Flammen aufgehen, nimmt das Reh weiten Anlauf, bellt ein letztes grelles Mal und springt hinaus in die sich türmenden Wogen. Verzweifelt strecke ich beide Arme aus. Doch ein sanddurchsetzter, schlammiger Schwall hat das Tier bereits erfasst, zerrt es hinweg und hinab.
Es war das Gekläff eines Hundes, der einem Plastikball nachjagte, das mich jäh aus meinem Tagtraum riss. Einige Sekunden vergingen, bis ich die Aareschwimmer, die in meinem Blickfeld auftauchten und verschwanden, nicht mehr als Schwemmholz oder sonstiges Treibgut wahrnahm. Noch immer leicht entrückt legte ich meine Sachen ab, ging flussaufwärts, wo ich, nur noch in Badehosen, in der Nähe des Tierparks, auf das Geländer einer niedrigen Brücke stieg und mich in die Aare fallen ließ.
Ich tauchte ein in das Klirren und Knistern, das Rieseln und Sirren, das Scheppern, Surren und leise Dröhnen, das die von der Fließkraft des Flusses mittransportierten Steine und Kiesel erzeugten. Mir war, als ob in der Tiefe ein tausendstimmiger, elektrisierender Chor erklänge, der alles, was an Unwägbarem geschah, in hellsten Tönen von unmittelbarer Klarheit erlebbar machte.
Seither sind über zwei Jahrzehnte vergangen. Allmählich komme ich mir selber vor wie einer, der klingendes Geröll vor sich herschiebt. Und wenn der Zufall der Beharrlichkeit in die Hand spielt, kommt es auch hier zu Verwerfungen und Aufschichtungen und dazu, dass vielleicht einige Steine aus der Wasseroberfläche ragen und einen imaginären, temporären Fluchtweg bilden, der dem bellenden Reh die Rettung vor dem Inferno ermöglichen könnte.
Wir blickten auf die Schienenstränge
Die Zeit hatte eine Stimme, die nie verstummte, auch dann nicht, wenn alles stillstand: Sie blieb da und summte. Manchmal verzog sich das Summen in den Hintergrund, wurde übertönt vom Knacken in den Lautsprechern, der Ankündigung ferner Destinationen oder der Durchsage einer Verspätung. Und sogleich stellte sich der Summton wieder ein, bis er abermals überstimmt wurde, vom schrillen Schrei einer Lokomotive, vom ohrenbetäubenden Quietschen der Bremsklötze auf blankem Metall, vom Keuchen der zum Stillstand kommenden Wagenkolonne und vom Zischen abrupt aufklappender Türen. Gemurmelte Undeutlichkeit legte sich übers Bahnhofsgelände von Leuk und begleitete die rasch ein- und aussteigenden Passagiere, worauf die Choreografie mit einem Pfiff ihr Ende fand. Der scharfe Stoß in die Trillerpfeife signalisierte dem Zugführer die Abfahrt. Der Stahltross setzte sich wieder in