30 Jahre Leben mit MS
Von Bernd Ringel
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Über dieses E-Book
Bernd Ringel
Ich bin in Dresden geboren, bin dort ausgebildet und war als Gebrauchsgrafiker im VBK organisiert. 1970 heiratete ich Ingrid Böttcher, Herrenschneiderin. Im gleichen Jahr wurde unser Sohn Andre geboren. 1985 durften wir die DDR verlassen, wir wohnten im Kreis Ludwigsburg. 2006 kehrte ich mit meiner Frau nach Dresden zurück. Als Autor bin ich seit 2008 tätig, 2 Bücher.
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Buchvorschau
30 Jahre Leben mit MS - Bernd Ringel
Inhalt
Vorwort
Das Beben von Warschau
Station Sehnsucht
Ist heut der Tag?
Hoffnungsträger Dr. Fratzer
Selbständigkeit
Freizeit
Innehalten auf der Strecke
Betaferon
Hoffnung Avonex
Ich werde Betaferon-Spritzenassistent
Wechseljahre
Hoffnung für Millionen oder auf Millionen?
Die MS wird sichtbar
Ein Blick auf alternative Therapien
Urlaubsreisen ohne Rollstuhl: Sardinien
Urlaubsreisen ohne Rollstuhl: Elba
Abschied vom Reihenhaus
Ein Falt-Rollstuhl
Leben wie ein „Rollstuhl-Gott" in Frankreich
Die Pflege klopft an
Ländle adé
Die Pflege ist eingetreten
Das Sonderabteil: Für Spastiker
Das Finanzabteil: Für Pflegegeld-Antragsteller
Im MS-Zentrum Dresden
Pflegeprotokoll
Ich engagiere eine Putzfrau und einen Pflegedienst
Der Kampf um die höhere Pflegestufe
Sieg des Widerspruchs
2010
Hirnschwund, der Teelöffelvergleich
Wie erholt sich ein Pflegender?
Logopädie
Eine Pflegewoche
Die Wahl zwischen Pest und Cholera
Pflegeheimsuche
Hoffnungsreserven
Das Cultus-Pflegeheim
Das erste Weinachten im Heim
Rollstuhlausflüge
Gewicht und Gesamtsituation
Der Logopädiereport
Weihnachtscafé und Pflegerollstuhl
Die Cortison-Bremse wird langsam gelöst
Das Abteil Abschiednahme
Endstation
Anhang: Gesundheitsvollmacht und Patientenverfügung
VORWORT
Die Ätiologie (Ursache) der Multiplen Sklerose ist nach wie vor ungeklärt.
Man liest diesen Satz nicht allzu häufig. Weil er ein Eingeständnis höchst kontroverser Meinungen der Fachwelt ist. Aber er könnte auch der nüchterne Schlusssatz aus einem Tagungsprotokoll der DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) sein.
Wie ist der derzeitige Stand:
Es gibt eine Schubtherapie und eine Basistherapie. Je nach Verlaufsform (es gibt zwei verschiedene Verlaufsformen) wird vom Neurologen mit der einen oder anderen therapiert. Dass die therapeutische Kommunikation dabei optimistisch eingefärbt ist, versteht sich von selbst. Eine Tönung die silbrig-schwarz wie ein Rollstuhl wäre.... „Nein, denken Sie gar nicht daran!! Rollstuhlfahrer, das sind zumeist Schlaganfallpatienten, glauben Sie mir. Oder Querschnitts-Gelähmte."
Aber weder Schub- noch Basistherapie sind in der Lage eine Heilung auszulösen. Aber: die Beschwerden können gelindert und das Fortschreiten der Krankheit verzögert werden. Ein Zyniker würde jetzt rufen „Bravo!". Aber so zynisch will ja niemand sein.
Einige Sätze zu mir und wie sich mein Standpunkt zur MS gebildet hat. Der erste große MS-Schub trat bei meiner Frau mit 31 Jahren auf; er traf uns wie ein Erdbeben. Das war 1976. Aber das Erdbeben dauerte nur etwa fünfzehn Minuten. Im 1.Kapitel habe ich den Schub beschrieben.
Es schlossen sich 13 Jahre Krankheitsschlaf an. Unterbrochen von einigen Sichtirritationen und zunehmend schweren Beinen (Krampfadern?), bis 1989 eine MRT (Magnetresonanz-Tomografie) im Stuttgarter Bürgerhospital ein klares und eindeutiges Ergebnis brachte: Multiple Sklerose.
Verlaufsform: sekundär-chronisch progredient (nach einem ersten Schub fortschreitend). Es folgten wieder Jahre zwischen Stillstand und Fortschreiten. Alle MS-Therapieversuche zwischen 1990 und 2014 habe ich in ihren wichtigsten Phasen bis zum Tod 2015 beschrieben.
Als die Krankheit aggressiver wurde, und die silbrig-schwarze Farbe bekam, rückte die Pflege mehr und mehr in das Zentrum meines Lebens. Erfahrungen dieser Jahre mit der Pflegekasse, mit Ärzten, Kliniken und alternativen Therapien; Lebenssituationen, wie Arbeit, Beruf, Urlaub und Partnerschaft möchte ich Menschen in der gleichen Lage hier wiedergeben. Dieses Buch soll für sie eine Orientierung sein. Pflege mit Herz und Hirn, das Pflegeheim als letzte Option. Aber die eigenen Grenzen auch erkennen!
Die Multiple Sklerose ist durch die Tatsache der vielgestaltigen Verläufe eine der rätselhaftesten Krankheiten. Es ist hilfreich, den Hintergrund mit Pflege-Literatur aufzuhellen.
Und noch etwas: Dieses Buch ist aus der Perspektive des Pflegenden niedergeschrieben. Positive wie negative Erlebniselemente stehen im Vordergrund, Medizindeutsch im Hintergrund.
Und zwar gerade soviel, um den Krankheitsprozess sachlich zu beleuchten.
Das Beben von Warschau
Was waren das für herrliche zwei Tage! Die Plakatbiennale Warschau in der ehrwürdigen „Zacheta", einem schlossähnlichem Bau, hatte ihre Pforten geöffnet und wir waren angereist. Nicht allein, dass in Warschau die europäische Elite der Plakatkünstler ihre letzten Produktionen ausstellte. Es waren Trends zu sehen, die mir, dem Gebrauchsgrafiker aus dem Nachbarland, Anregungen und feine Impulse gaben. Das war mir das eigentlich Wichtige, wenn man einmal davon absah, dass Warschau schon 1976 eine europäische City mit blühenden Geschäften war.
Ich hatte mit meinem Berufskollegen Peter K. auch ein Plakat eingereicht, wir waren in den geweihten Räumen zu sehen, und das löste natürlich ein Gefühl der Freude aus. Wie wird sich das Plakat (A0), inmitten der anderen Arbeiten behaupten? Das war für mich die spannende Frage.
1976 war das ausgeschriebene Gestaltungsthema „Habitat (Wohnen). Also alles, was in dem riesigen Thema drinsteckt, konnte gestaltet werden, kritische Positionen dominierten natürlich. Unser Entwurf zeigte einen realen DDR Wohnungstyp-Plan in strengem schwarz-weiß, auf dem verkippt und fast überlappend 3 Paar bunte Schuhe, nämlich die meiner kleinen Familie standen. Das Plakat war natürlich ein Seitenhieb auf das Neubau-Programm der DDR, so wie sich da die Slingpumps mit den anderen Schuhen hakelten, und schließlich war unübersehbar, das der „Menschenraum
sich nicht in die Grenzen vom „Planungsraum" einfügen ließ.
Nun stand ich davor und war erfreut, wie mein gestalterisches Konzept aufgegangen war. Das Plakat behauptete sich. Am Nachmittag brachen wir zum Warschauer Kulturpalast auf. Ein fataler Entschluss. Denn das war das andere Warschau: ein Schreckens-Szenario kommunistischer Architektur. Die ungeheuer hohen Räume sollten sakral wirken, verströmten aber nur Eiseskälte... Enttäuscht fuhren wir ins Hotel zurück. Der nächste Tag: Ich schoss noch einige Fotos. Wir besichtigten das zweite Themenspektrum der Biennale: Wirtschaftsplakate, soziale- und Kulturplakate. Einige davon hoch beeindruckend, andere ließen mich ratlos zurück.
Voller Freude über das Gesehene hatten wir im Hotel ausgecheckt. Nun lag noch eine achtstündige Zugfahrt vor uns. Die konnte uns aber nicht schrecken, wir hatten reservierte Plätze. Wer von der City zum Warschauer Hauptbahnhof wollte, musste durch einen langen Fußgängertunnel. Während ich den großen Koffer trug, lief Ingrid mit dem Handgepäck neben mir. Plötzlich sagte sie: „du, ich spüre meine Beine nicht mehr... und blieb stehen. Völlig konsterniert stoppte ich ab. Wenn sie gesagt hätte, „du ich spüre ein Erdbeben
, wäre es dasselbe gewesen. Schon brach sie seitlich um. Reflexartig schob ich ihr meinen Koffer als Sitz unter und fragte: „wo? Ihre Handflächen strichen vom Knie abwärts. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, als horche sie in sich hinein. Nach etwa 15 endlosen Minuten sagte sie: „… ich glaube, es geht wieder, ja…
Ich hatte meine Hände auf ihre Schultern gelegt. Jetzt nahm ich ihre Hand und legte sie um meinen Hals. „Zieh dich hoch" sagte ich leise.
Es ging! Sie stand vorsichtig auf und lief langsam los. Was war das eben? War das Wirklichkeit? Hatte ich geträumt? Niemand fand Worte, oder eine Erklärung. Stumm gingen wir nebeneinander. Ihr Schritt wurde immer sicherer. Wir saßen im Zug. Ich fragte „und? Sie schaute mich an und atmete tief durch: „ Gut
sagte sie. Seit dem Warschauer Beben saß ich mit Ingrid in einem Schicksalszug. Der gläserne Zug hieß MS-live und trug uns durch durch unser Leben. Das Tempo war sehr unterschiedlich: Jahrelang nahm der Zug kaum Fahrt auf. Ein sanftes Dahinschweben machte uns glauben, er bewege sich nicht. Aber das war ein Irrglauben.
Mein Blick ging in den Zug: Still und seltsam leer schien er. Merkwürdig, nicht ein einziges Mal hatten wir in den Jahren danach über das „Beben" gesprochen – so rätselhaft war es gewesen. Warum hatten wir so wenig nachgehakt? Wohl, weil es nicht einmal ansatzweise eine Wiederholung gab. Das Beben war Vergangenheit. Keine Nachbeben.
Wieder ging mein Blick nach draußen. Wir fuhren durch eine graue und von baulichem Verfall gezeichnete Landschaft. Es ist die DDR der frühen Achtziger Jahre. Die