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Die zur Hölle fahren: Ein Jesse Trevellian Thriller
Die zur Hölle fahren: Ein Jesse Trevellian Thriller
Die zur Hölle fahren: Ein Jesse Trevellian Thriller
eBook285 Seiten3 Stunden

Die zur Hölle fahren: Ein Jesse Trevellian Thriller

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Über dieses E-Book

Ein neuer Thriller mit dem New Yorker Ermittler Jesse Trevellian. "Dieser Mann ist tot." Judith Aboudhs dunkle Stimme erfüllte den Hörsaal. "Er hieß Fathi Schakaki und war Führer des palästinensischen 'Islamischen Dschihad'. Ein Mossad-Kommando hat ihn im Oktober 1995 erschossen. Eine Aktion, die den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Rabin politisch teuer zu stehen kam. Ich erwähne Schakaki an dieser Stelle, um Ihnen Biographie, Karriere und Arbeitsweise eines typischen Terroristenführers im Nahen Osten zu veranschaulichen..." Trevellian hat es diesmal mit islamistischen Terroristen zu tun. Oder steckt etwas anderes hinter dem Fall? Nichts ist so, wie es zunächst zu sein scheint... In der Serie „Jesse Trevellian“ erschienen bislang folgende Titel (ungeachtet ihrer jeweiligen Lieferbarkeit auf allen Portalen): Alfred Bekker: Killer ohne Namen Alfred Bekker: Killer ohne Skrupel Alfred Bekker: Killer ohne Gnade Alfred Bekker: Killer ohne Reue Alfred Bekker: Killer in New York (Sammelband) Thomas West: Rächer ohne Namen Thomas West: Gangster Rapper Thomas West: Richter und Rächer Thomas West: Die zur Hölle fahren Weitere Titel folgen.
SpracheDeutsch
HerausgeberCassiopeiaPress
Erscheinungsdatum7. Mai 2019
ISBN9783956173462
Die zur Hölle fahren: Ein Jesse Trevellian Thriller

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    Buchvorschau

    Die zur Hölle fahren - Thomas West

    Zeit

    Kairo

    Sie schwebte förmlich über die kleine Bühne, bog ihren Körper im Rhythmus der Musik, ließ ihre Hüften kreisen, stieß ihren Bauch nach vorn, zog ihn ein, ließ ihn pulsieren, warf ihre schlanken Arme in die Luft und drehte sich um sich selbst - eine Schlange hätte sich nicht geschmeidiger gewunden.

    Khaled Bin Assir vergaß sein Bier, vergaß die brennende Zigarette im Aschenbecher vor sich auf dem schwarzen, runden Tischchen, vergaß Raphael neben sich auf der Polsterbank, vergaß die vielen Männer um sich herum in der halbdunklen, verrauchten Bar. Seine Augen klebten an dem tanzenden Frauenkörper, an dem straffen, nackten Fleisch zwischen dem roten Oberteil und dem roten Seidentuch knapp unterhalb ihrer Hüfte.

    Wie er pulsierte, dieser köstliche Bauch, wie er sich wandt und zuckte, wie er kreiste, wie er sich wölbte und einzog - als wäre er ein kleines exotisches Tier. Ein Wildtier, das seine Besitzerin vergeblich zu zähmen versuchte. Die Glöckchen an den Säumen ihres Seidenstoffes klimperten, Schleier und Schwarzhaar flatterten, wenn sie über die Bühne wirbelte, der lange Rock bauschte sich auf, teilte sich, enthüllte für Augenblicke ihre festen Schenkel, und Khaled hielt den Atem an.

    Von der Seite spürte er Raphaels Blick. Er wandte den Kopf - der ältere Freund - ein Palästinenser aus Nablus – und lächelte ihn an. Ein verschwörerisches Lächeln, in dem ein wenig Spott lag - freundlicher Spott. Nur Raphael konnte so lächeln. Anders als Khaled besuchte er nicht zum ersten Mal eine dieser verruchten Bars im Stadtteil Zamalek. Aber zum ersten Mal hatte er Khaled überreden können, ihn zu begleiten. Er beugte sich zu ihm. Und? Gefällt's dir?

    Khaled grinste und nickte. Raphael griff nach den Biergläsern, reichte Khaled seines und stieß mit ihm an. Das kühle Bier schmeckte etwas bitter. Es prickelte angenehm, während es durch Khaleds Kehle rann. Auch Bier und Wein trank er erst, seit er Raphael an der Universität von Kairo wiedergetroffen hatte.

    Die Musik brach ab, die Bauchtänzerin verneigte sich, Applaus brandete durch das Halbdunkel der Bar. Khaled stellte sein Glas ab, um ebenfalls zu klatschen. Zuerst fiel ihm nur auf, dass Raphael sein Glas nicht wegstellte. Dann sah er ihn an - Raphael lächelte nicht mehr. Er hatte auch keinen Blick mehr für die Bauchtänzerin. An Khaled vorbei starrte er mit ausdruckslosem Gesicht nach oben.

    Khaleds Kopf zuckte zur Seite, und dann erst sah er sie. Sie waren zu dritt.

    Die beiden jüngeren Männer kannte Khaled. Den einen, kleineren, aus seiner Heimatstadt im Jemen, den anderen aus der Uni. Der Student hieß Hassan Zakaria. Während der Physikvorlesungen war Khaled der junge Bursche aufgefallen, weil er niemals westliche Kleidung trug und ihn hin und wieder mit stechendem Blick fixiert hatte. Beide waren ungefähr in Khaleds Alter: Ende zwanzig.

    Den dritten Mann hatte Khaled noch nie zuvor gesehen. Er trug ein langes schwarzes Gewand und einen grünen Turban - ein Koranlehrer, ohne Zweifel. Sein rundes Gesicht war von einem grauen Vollbart eingerahmt. Zwei auffällige Falten zogen sich von den Flügeln der Knollennase zu den Mundwinkeln herab. Er mochte Anfang vierzig sein, vielleicht auch älter. Seine samtbraunen Augen ruhten vorwurfsvoll auf Khaled, wanderten dann zu Raphael und nahmen einen feindseligen Ausdruck an.

    Die Bauchtänzerin auf der Bühne verbeugte sich noch immer, Stimmengewirr mischte sich in den nicht enden wollenden Applaus. Verstohlene Blicke trafen die drei neuen Gäste. Khaled bemerkte es nicht.

    Doch die Nervosität der beiden jüngeren Begleiter des Koranlehrers fiel ihm auf. Sie wussten kaum wohin mit ihren Händen, ihre Blicke hetzten scheu durch die Bar, mieden aber die leichtbekleidete Frau auf der Bühne. Der schmächtige Bursche aus Al Hudaydah, Khaleds jemenitischer Heimatstadt, tänzelte nervös von einem Bein auf das andere. Sein Name fiel Khaled wieder ein - Achmed hieß er, Achmed Uthman. Khaleds Vater hatte ihn und seinen älteren Bruder damals für die Organisation angeworben.

    Endlich ließen die feindseligen Augen des Turbanträgers Raphael los. Wie ein Sieger schaute er sich in der Bar um, als würde sie ihm gehören. Als würde ihm die ganze Stadt, die ganze Welt gehören. Die Bauchtänzerin zog sich zum Vorhang hinter der kleinen Bühne zurück, verbeugte sich ein letztes Mal und verschwand. Der Turbanträger sah ihr nach, seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten. Der Applaus legte sich.

    Der Blick des Turbanträgers blieb schließlich an den Biergläsern auf dem Tisch vor Khaled und Raphael hängen. Er beugte sich hinunter und griff nach einem - nach Khaleds Glas. Er roch daran und rümpfte angewidert die Nase. Dein Vater würde weinen, wenn er sehen müsste, wie du das Gesetz des Propheten mit Füßen trittst, murmelte er. Khaled fröstelte.

    Was soll das!, zischte Raphael. Er schüttelte sich, als würde er aus lähmender Erstarrung erwachen. Was haben wir mit euch noch zu schaffen?! Wir sind hier und amüsieren uns wie jeder andere auch! Na und?

    Die Augen des Turbanträgers verengten sich zu Schlitzen. Kalt musterte er den jungen Mann. Du kennst die Worte des Propheten: 'Der Gläubige sieht seine Sünde wie einen großen Berg, von dem er fürchtet begraben zu werden. Der Heuchler sieht seine Sünde wie eine Fliege, die vor seiner Nase herumfliegt, und die er verscheucht.' Er knallte das Glas zurück auf den Tisch und richtete sich auf. Kommt heraus aus dieser Lasterhöhle. Wir warten auf der Straße. Er drehte sich um und schritt an den Tischen vorbei zum Ausgang zurück. Seine beiden Begleiter folgten ihm.

    Raphael fluchte. Sie lassen dich nicht in Ruhe. Er leerte sein Glas. Bis ans Ende der Welt verfolgen sie dich... glauben, du wärst ihr Eigentum... glauben, du müsstest wie dein Vater sein...

    Khaled hörte nicht mehr zu. Er starrte auf seine Hände. Ein Kloß schwoll in seinem Hals. Wut, Angst und Schuldgefühle zerrten an ihm. Wut auf die Organisation, Angst vor ihren Henkern, Schuldgefühle seinem toten Vater gegenüber.

    Männer der Organisation...?, krächzte er heiser. Meinst du wirklich? So unerwartet waren die Drei aufgetaucht, als hätte das Nichts sie ausgespuckt. Oder die Vergangenheit. Khaleds Verstand sträubte sich gegen die Wirklichkeit. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

    Sei kein Dummkopf, Khaled!, zischte Raphael. Natürlich waren das Männer von Al Quaidah - was glaubst du denn? Khaled sah das Flackern in den Augen seines Freundes. Wie ein in die Enge getriebenes Beutetier beäugte er die Männer an den Tischen in ihrer Umgebung. Er hat Angst, schoss es Khaled durch den Kopf. Selbst mein tapferer Freund Raphael hat Angst...

    Khaleds eigene Angst steigerte sich zur Panik. Er stand auf. Sein Blick flog zum Ausgang. Ein Schwarm junger Männer strömte polternd und lachend in die Bar. Von den drei Al-Qaida-Leuten keine Spur mehr. Wir warten auf der Straße... Auf Khaleds innerer Bühne die samtbraunen Augen des Koranlehrers. Augen, die keinen Widerspruch duldeten. Nur ein Wunsch beseelte Khaled plötzlich: Der Wunsch nie mehr in diese Augen sehen zu müssen.

    An den vollbesetzten Tischen vorbei steuerte er die Toiletten an. He, Khaled! Wohin willst du? Raphael stemmte sich aus der niedrigen Polsterbank und lief seinem Freund hinterher.

    Erinnerungen überfluteten Khaleds Sinne, Bilder aus den Jahren, als sein Vater noch lebte: Die geheimen Versammlungen in seinem Elternhaus in Al Hudaydah, die flammenden Reden des Scheichs, er Seite an Seite mit Raphael bei Schießübungen am Strand, sein Vater und sein Onkel am Tag der Abreise nach Riad. Die Bilder schoben sich zwischen ihn und die Wirklichkeit, wie ein Traum erschien ihm die Bar plötzlich, er nahm sie nicht mehr wahr, die plaudernden Männer an den Tischen.

    Kein Mensch in der Toilette. Khaled stützte sich aufs Waschbecken und blickte in das Gesicht seines Spiegelbildes. Ein bronzefarbenes Gesicht, glattrasiert und von dunkelbraunen, mandelförmigen Augen dominiert. Die Nase wie gemeißelt, der Mund breit und schmallippig, die glattrasierte Kinnpartie scharfgeschnitten. Ein männliches, ein schönes Gesicht.

    Jetzt aber stand die Angst in seinen Zügen. Khaled schloss die Augen. Hinter ihm drückte Raphael die Tür zu und lehnte mit dem Rücken dagegen. Wir haben ihnen nichts getan, sagte er, wir gehen jetzt aus der Bar, nehmen ein Taxi und fahren nach Hause. Sie werden uns in Ruhe lassen. Seine belegte Stimme verriet mehr als seine hastig hervorgestoßenen Worte: Raphael glaubte selbst nicht, was er sagte.

    Khaled seufzte tief und fuhr sich mit beiden Händen durch seine langen, störrischen Locken. Sie werden uns niemals in Ruhe lassen. Er drehte sich um und sah seinen Freund an. Wir haben die Organisation verlassen. Für sie sind wir Verräter.

    Als wäre es gestern gewesen, stand ihm plötzlich der kleine dunkle Raum im Bazar des Hafenviertels von Al Hudaydah vor Augen. Wochenlang hatten er und Raphael sich dort mit dem alten Imam der jemenitischen Küstenstadt getroffen, um über Glaubensfragen zu diskutieren. 1995 war es gewesen, in den Monaten nach dem Tod seines Vaters und der Verhaftung seines Onkels durch die Amerikaner. Khaled und Raphael wollten nach Afghanistan, um in einem Ausbildungslager der Organisation den Umgang mit Sprengstoff zu lernen.

    Wir können den Ausgang nicht benutzen. Khaled stieß sich vom Waschbecken ab und öffnete eines der Fenster über den Pissoirs. Es führte in einen dunklen Hinterhof.

    Der Imam von Al Hudaydah wollte sie damals davon abhalten, Kämpfer der Organisation zu werden. An unzähligen Abenden las er ihnen die Worte des Propheten vor. In der Religion gibt es keinen Zwang, war ein Satz, der Khaled damals mitten ins Herz getroffen hatte. Und: Ruf die Menschen mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art.

    Khaled schob sich durch das enge Fenster und sprang auf den Hof hinaus. Nur schummriges Licht aus ein paar Fenstern in der Hausfassade beleuchteten ihn. Sie sind nicht hinter mir her, keuchte Raphael, während er durch die Fensteröffnung kroch. Sie sind hinter dir her!

    Diese Koranverse hatten schließlich den Ausschlag gegeben: Khaled widerstand dem Druck seiner Familie den Vater zu rächen und ging nach London, um zu studieren. Raphael tauchte in Kairo unter.

    Sie lauschten in die Nacht. Verkehrslärm und Stimmen drangen durch ein enges Portal in der Hausfassade. Es führte auf die Straße hinaus. Wir klettern über die Mauer. Vielleicht finden wir einen Hof, der zu einer Seitengasse führt.

    Khaled huschte zur Mauer. Raphael hinter her. Ich hätte keinen Kontakt zu dir aufnehmen sollen, zischte er. Sie verfolgen dich durch die ganze Welt. Sie können es nicht akzeptieren, dass der Sohn eines Märtyrers nicht in die Fußstapfen tritt...

    Khaled antwortete nicht. Er wusste, dass Raphael Recht hatte. Sie schwangen sich über die Mauer, schlichen durch den angrenzenden Hof und gelangten zum Hintereingang eines kleinen Restaurants. Durch das Restaurant hindurch erreichten sie eine Seitengasse. Und wenige Minuten später den Tahrir-Platz.

    Ein Taxi näherte sich, ein alter Fiat Kleinbus. Der Wagen hielt. Ein graubärtiger Fahrer in schwarzem Jackett musterte sie neugierig. El Muayyad. Dort, im Süden der Stadt hatte Khaled Freunde. Er hielt es für besser, nicht gleich zu seinem Zimmer im Studentenwohnheim zu fahren.

    Inscha'allah, brummte der Chauffeur gleichgültig. Khaled und Raphael kletterten auf die mittlere Sitzbank.

    Und dann ging alles sehr schnell: Aus dem Halbdunkel der engen Seitengasse tauchten die Männer auf. Einer warf sich neben den Fahrer auf den Beifahrersitz, vier drängten sich in den Fahrgastraum des Kleinbusses. Khaled sah in die Mündungen von Pistolen. Der letzte der Männer zog die Tür zu. Los!, blaffte der auf dem Beifahrersitz. Fahr zu...!

    *

    Umsonst hat man euch die Worte des Korans gelehrt! Der Turbanträger saß mit gekreuzten Beinen vor ihnen. Umsonst hat man eure jungen Herzen für den Heiligen Krieg gewonnen! Er sprach ruhig, fast leise, und ohne die Stimme zu heben - als würde er aus einem Buch vorlesen. Seine samtbraunen Augen musterten Khaled. Fast nie sah er Raphael an. Abtrünnige seid ihr, Verräter. Er nickte langsam, wie um seine eigenen Worte vor sich selbst zu bekräftigen.

    Eine nackte Glühbirne hing an der Decke des Stalls. Die jungen Männer, die um den Turbanträger herumstanden, waren allesamt bewaffnet. Sie sprachen ihn mit Mufti an. Khaled erkannte Hassan Zakaria, den Studenten aus den Physikvorlesungen. Und Achmed Uthman aus Al Hudaydah. Sie hatten als kleine Jungen miteinander am Hafen gespielt. Jetzt musterte der Altersgenosse ihn mit unverhohlener Verachtung.

    Es roch nach Kamel. Und tatsächlich sah Khaled hinter einem Holzverschlag die Höcker und manchmal auch den Kopf eines Kamels. Die Männer hatten sie in ein Dorf nördlich von Kairo gebracht. Nicht in das Wohnhaus des Fellachenhofes, sondern in die Stallungen. Gefesselt kauerten sie an der Stallwand.

    Berauschende Getränke... Der Mufti schnaubte verächtlich. Unzüchtige Tänze und lose Weiber... als hättet ihr die Worte des Propheten nie gehört. Er beugte sich vor. 'Haltet euch von den Todsünden fern' - habt ihr vergessen, dass der Prophet so gesprochen hat? Sieben nennt er an einer Stelle der Hadith-Bücher. 'Andere Götter neben Allah stellen. Magie. Das Töten einer Seele, es sei denn, dass die Gerechtigkeit es erlaubt...

    Khaleds Herz klopfte. Er fühlte die Nähe des Todes. Natürlich kannte er Die Bücher der Überlieferung - die Hadith-Bücher - Reden und Taten des Propheten Mohammeds, aufgezeichnet von seinen Gefährten. Khaleds Vater hatte oft daraus vorgelesen. Der Imam von Al Hudaydah aber wollte sie nie auf gleiche Stufe mit dem Koran stellen.

    ...und Rückzug vom Kampf im gerechten Krieg.' Der Mufti lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Rückzug vom Kampf im gerechten Krieg, wiederholte er leise.

    Die ganze Welt schien erfüllt von der ruhigen Stimme des Muftis. Seine Worte bohrten sich in Khaleds Brust. Wie ein Todesurteil klangen sie. Neben sich spürte er die Wärme von Raphaels Körper. Sie werden uns doch nicht töten, dachte er, das werden sie doch nicht tun... Er stemmte seine Füße in den strohbedeckten Lehmboden und drängte sich näher an Raphael heran. Dessen Leib fühlte sich verkrampft und steif an, als wäre er schon tot.

    Der Mufti stützte die Hände auf seine Knie und beugte sich wieder nach vorn. Als wollte er Khaled mit seinem Blick durchbohren, fixierte er ihn. Seine Augen wurden merkwürdig dunkel plötzlich. Nichts Samtenes hatten sie mehr. Jetzt fiel Khaled auch auf, dass die Skleren um die Iris gelblich verfärbt waren. Die Lider des Mannes verengten sich und seine Kaumuskeln traten hervor, bevor er weitersprach. Und von einer weiteren Todsünde spricht er. Kannst du sie mir nennen, Khaled Bin Assir?

    Khaled schluckte. Wider Willen suchte er nach einer Antwort. Dutzende von Koranversen rauschten durch seinen Kopf. Er hörte die Stimme seines Vater die Heiligen Suren vorlesen, er sah sein ernstes, hartes Gesicht. Hastig schüttelte er den Kopf.

    Du kannst sie nicht nennen, Khaled Bin Assir? Der Mufti verzog seine vollen Lippen, als wollte er lächeln. Aber das war kein Lächeln, was seine Miene verzerrte, es war der Blick eines Scharfrichters - ein bitterer Blick voller Verachtung. Es wundert mich, dass du sie nicht nennen kannst, Khaled Bin Assir! Seine Stimme wurde jetzt lauter und schärfer. Kann doch jeder Wissende diese Todsünde aus deinem Leben ablesen! 'Widerspenstigkeit gegen die Eltern'! Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. In der Pose eines Kalifen, der über Tod und Leben zu Gericht sitzt, betrachtete er Khaled. Nicht Raphael, wieder nur Khaled.

    Er schwieg. Quälend lange Minuten schleppten sich zäh dahin. Khaleds Mund fühlte sich an wie ausgedörrter Kameldung. Raphael neben ihm begann unruhig hin und her zu rutschen.

    Irgendwann hob der Turbanträger die rechte Hand. Hassan und Achmed traten vor. Der Jemenit packte Raphael, der Physikstudent Khaled. Sie zerrten die Gefesselten hoch.

    Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes, hob der Mufti an. Als Gelehrter der Sharia und der Worte des Propheten, und als ein Führer von Al-Qaida steht es mir zu das Urteil über euch zu sprechen. Sehr langsam und laut sprach der Mufti plötzlich. Und ich verurteile euch zu der einzigen Strafe, die Verrätern und Todsündern zukommt! Er betonte jedes einzelne Wort. Im Namen Allahs, der am Tage des Gerichts regiert, verurteile ich euch zum Tode!

    Khaled blieb der Atem weg. Er hatte längst geahnt, worauf alles hinauslaufen würde. Seitdem er vor Stunden zum ersten Mal in die Augen dieses Mannes blickte, hatte er es geahnt. Aber es jetzt zu hören, jetzt Raphael neben sich aufschreien zu hören, jetzt zu sehen, wie zwei der der Gefolgsleute des Muftis unter ihre Gewänder griffen, Schalldämpfer herausholten und sie auf die Läufe ihrer Pistolen schraubten - das raubte ihm schier die Sinne. Nein, flüsterte er. Nein, nein...

    Raphael und er wurden auseinander gerissen. Zwei weitere Männer eilten herbei und halfen, sie in eine leere Kamelbox zu zerren. Vor dem offenen Verschlag der Box blieben sie mit Khaled stehen. Bitte nicht, flüsterte er. Bitte nicht...

    Kaum vier Schritte vor ihm stießen sie

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