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Tim lebt!: Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.
Tim lebt!: Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.
Tim lebt!: Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.
eBook320 Seiten2 Stunden

Tim lebt!: Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.

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Über dieses E-Book

"Als wir damals an seinem Bettchen standen und er uns mit seinen blauen Augen anschaute, stand unsere Entscheidung eigentlich gleich fest: Wir nehmen ihn auf. Und wir haben es nie bereut. Er hat unser Leben reich gemacht, trotz aller Probleme.

Tim war nicht gewollt, seine Mutter hat ihn in der 25. Schwangerschaftswoche abtreiben lassen, weil er das Down-Syndrom hatte. Aber er wollte nicht sterben. Stundenlang lag er unversorgt im Kreißsaal und wurde schließlich nach einem Schichtwechsel gerettet. Sein Gehirn hat dabei schweren Schaden genommen, außerdem ist er Autist. Als 'Oldenburger Baby' hat er Medizingeschichte geschrieben und wurde zum Symbol einer Debatte um späte Schwangerschaftsabbrüche und ihre rechtlichen und ethischen Konsequenzen.

Aber dieses Buch ist kein Buch gegen Abtreibung - sondern ein Buch für das Leben. Es ist unser Geschenk zu Tims 18. Geburtstag."

Simone und Bernhard Guido

Nachtrag des Verlags: Ende 2018 ist Tim überraschend verstorben. Für Familie Guido bleibt das Gedenken an Tim so, wie es Rainer Maria Rilke formulierte: "Wenn ihr mich sucht, sucht mich in euren Herzen. Habe ich dort eine Bleibe gefunden, lebe ich in euch weiter." - Tim lebt.
SpracheDeutsch
Herausgeberadeo
Erscheinungsdatum16. Juni 2015
ISBN9783863347499
Tim lebt!: Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.

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    Buchvorschau

    Tim lebt! - Simone Guido

    Inhalt

    • Ein Ende mit Anfang

    1. Zwischen Verdacht und Diagnose

    2. Augen und Blicke

    3. Diagnose: Down-Syndrom

    4. Tim

    5. Ende

    6. Hilfe

    7. Neun Stunden

    8. Familie

    9. Die Schuldfrage

    10. Erziehung und Therapie

    11. Ein Anruf

    12. Neustart

    Ein Anfang ohne Ende •

    Danksagung

    Anmerkung

    Quellen

    Bildteil

    Für Tim.

    Dieses Buch ist unser Geschenk für dich, lieber Tim, und eine Möglichkeit, dir zu danken.

    Mach so weiter, bereichere unser Leben durch deine Fröhlichkeit und deinen Lebenswillen.

    Du bist ein ganz besonderer Mensch.

    • Ein Ende mit Anfang

    Im Korridor der Frauenklinik huscht um die Ecke ein weißes Kaninchen. Es hält für einen Moment inne, schaut auf seine goldene Taschenuhr – ticktack –, steckt sie zurück in die knopflose Westentasche. „Keine Zeit, keine Zeit. Wir haben keine Zeit!", hoppelt das weiße Kaninchen eilig davon, zurück in seine Wunderwelt. Ein Schatten an der Wand der Klinik. Eine runde Uhr. Ihre Sekundenzeiger bewegen sich nicht ohne Geräusch. Zeit wird hier für ein Kind dreimal im Leben entscheidend:

    25 Wochen

    9 Stunden

    6 Monate

    Zeit spielt auch sonst eine besondere Rolle. Denn das Kind zählt die Minuten nicht. Es lebt ganz ohne Taschenuhr, in seiner eigenen Wunderwelt. Ticktack.

    1. Zwischen Verdacht und Diagnose

    Für die meisten Paare ist die Ankunft eines neuen Familienmitglieds ein freudiges Ereignis: Letzte Einkäufe werden erledigt, eine Klinik gesucht, Vorsorgetermine wahrgenommen. Voller Vorfreude schaut eine werdende Mutter, vielleicht begleitet vom Vater, bei den Untersuchungen auf das Ultraschallbild: Ist das Kind gewachsen? Kann ich mehr als beim letzten Mal erkennen?

    Nur der Bruchteil eines Moments kann für immer alles verändern.

    Es ist die Art, wie sich Arzt und Krankenschwester ansehen.

    Wie alles still wird im Raum.

    Wie sich die Untersuchungsliege plötzlich eiskalt anfühlt.

    Der Körper zu frösteln beginnt.

    Wie der Herzschlag einem den Atem raubt.

    Das Rauschen des eigenen Blutes die Ohren betäubt.

    Wie alle im Raum in einem gemeinsamen Augenblick erkennen, dass etwas nicht stimmt.

    Hoffen und Bangen

    In der 20. Schwangerschaftswoche trat in ihre Welt wieder die Angst. Ihr erstes Kind wurde gesund geboren. Ihr zweites hatte sie kurz vor der Geburt verloren. Grund genug, um bei diesem dritten Kind genauer hinzusehen, um Probleme rechtzeitig zu erkennen. Am Ende des fünften Schwangerschaftsmonats entdeckte der Arzt 1997 eine Auffälligkeit.

    Enno Heine (Gynäkologe und Geburtshelfer) Die Frau, die das betraf, hatte einen Termin, um die vorangegangenen Vermutungen durch eine Fruchtwasseruntersuchung verlässlich bestätigen zu lassen. Sie hatte das Ganze etwas hinausgeschoben, vielleicht ein bisschen verdrängt, nach zwei Wochen dann aber doch durchführen lassen.

    Bei einer Fruchtwasseruntersuchung wird eine dünne Hohlnadel durch die Bauchdecke und Gebärmutter bis in die Fruchtblase eingeführt und von dort Fruchtwasser entnommen, um genetische Tests durchführen zu lassen.

    Diese Form der Pränataldiagnostik wurde schon damals, vor fast 20 Jahren, angewandt. Mittlerweile sind viele vorgeburtliche Untersuchungsmethoden hinzugekommen, die längst Standard geworden sind. Schwangere und Kind werden von Beginn an genau unter die Lupe genommen.

    Vielen werdenden Eltern ist bei der Entscheidung für solche Untersuchungen nicht klar, was sie für ihre Familie bedeuten könnten. Sie werden heutzutage nun mal gemacht. Welche Emotionen dabei auf sie zukommen, sollten sie unerwartete Ergebnisse erhalten, überblicken die meisten nicht: Was werden sie tun, wenn ihr Kind behindert ist? Haben sie diese Möglichkeit wirklich durchdacht? Brauchen sie all diese Untersuchungen, um es annehmen zu können? Und ist ihnen bewusst, dass eine solche Botschaft sie von ihrem vielleicht herbeigesehnten Kind meilenweit emotional entfernen kann?

    Die wenigsten stellen sich diese Fragen, wenn sie den Untersuchungen zustimmen. Sie werden dann von ihnen überrascht, wenn eintritt, wovon zunächst einmal niemand ausgeht. Manche Paare wissen später nicht einmal mehr, warum sie den Untersuchungen überhaupt zugestimmt hatten, da sie sich danach mit den Konsequenzen allein gefühlt haben. Sie beklagen, dass in unserer Gesellschaft technischer Fortschritt in den Vordergrund gestellt wird, statt einfach Mensch sein zu dürfen in all seinen Facetten. Und sie fragen sich im Nachhinein, was ihre sogenannte Risikoschwangerschaft letztlich bedeutet hat: Ein Risiko für die werdende Mutter oder für die Gesellschaft?¹

    Im Fall dieser schwangeren Frau ging es darum, kein Risiko für das Kind einzugehen. Nachdem sie kurz vor dem Geburtstermin ihr zweites Kind durch eine Komplikation verloren hatte, wollten die Ärzte durch engmaschigere Kontrollen sicherstellen, dass so etwas nicht bei ihrem dritten Kind passiert. Mit einem auffälligen Befund hatte zunächst einmal keiner gerechnet.

    Manche Diagnosen sind dabei eindeutig: Ihr Kind wird mit einer Behinderung leben. Oder: Ihr Kind wird sterben. Andere sind keine, weil die Ärzte anhand des Befundes nur Rätsel raten können. Weil die Pränataldiagnostik so fortschrittlich ist, dass sie etwas findet, wenn sie erst einmal zu suchen beginnt, aber manchmal nicht weiß, was. Immer wieder verwischen hier die Grenzen, werden selbst gesunde Kinder auffällig.

    Wie weit möchten werdende Eltern gehen? Und wo sollten sie eine Grenze ziehen? All diese Fragen beschäftigen sie meist erst, nachdem etwas entdeckt wurde, und platzen dann mitten in den Schock hinein. In dieser Zeit zwischen Verdacht und Diagnose bewegen sich Mütter wie in einer undurchdringlichen Albtraumblase. Sie versuchen, ihren Alltag fortzuführen, und pendeln zwischen Hoffen und Bangen. Dazwischen immer wieder der Impuls, aus der Situation flüchten zu wollen, und das Scheitern an der Erkenntnis, dass das Problem, vor dem sie weglaufen möchten, in ihnen festgewachsen ist. Der Herzschlag im Hals, wenn das Ultraschallgerät eingeschaltet wird, die aufsteigende Panik, wenn der Arzt wieder kein Wort sagt. Der ständige Kampf gegen die Angst, immerhin gilt zu diesem Zeitpunkt noch, ein Kind zu schützen, das erste Signale sendet und den Kontakt zur Außenwelt aufnimmt. Die seelische Belastung in diesen Wochen kann nur der nachvollziehen, der eine ähnliche Situation erlebt hat. Oder weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren.

    Diese schwangere Frau hatte beides erlebt: Ein Kind erst kurze Zeit vorher verloren und nun unendliche Angst um ihr Ungeborenes. Zwei Wochen, vierzehn Tage lang, musste sie mit ihrer Familie auf die Untersuchungsergebnisse warten.

    2. Augen und Blicke

    Nur drei Wochen mussten Bernhard und Simone Guido warten, bis am Morgen des 30. Dezembers 1997 in aller Früh durch ihr Haus das Telefon schrillte. Während die Sonne in den noch stillen Räumen ihre ersten Spuren legte und die Kinder der Guidos, Pablo und Marco, unter ihren Decken hervorkrochen, lagen Simone, Bernhard und ihr Besuch noch im Bett. Zu den Silvestertagen waren Bernhards Bruder Andreas und seine Frau Kordula angereist, um gemeinsam das Jahresende sowie Andreas’ Geburtstag zu feiern. Marco war als Erster am Hörer und brachte seiner Mutter das Telefon.

    Simone Guido Und wer war dran? Ausgerechnet der Leiter des Jugendamts, der fragen wollte, ob das Kind jetzt bei uns leben würde oder nicht. Kordula sagte neulich noch scherzhaft: „Im nüchternen Zustand hättest du bestimmt nicht Ja gesagt!"

    Andreas Neumann muss schmunzeln, wenn er sich an diesen Morgen erinnert. Die Ähnlichkeit zu seinem Bruder ist unübersehbar: Dreitagebart, eine prägnante Nase, nur das lichter werdende Haar hat die hellen Grautöne Bernhards noch nicht erreicht.

    Andreas Neumann (Bernhards Bruder) Meine Frau und ich haben den beiden so eine Verantwortung auf jeden Fall immer zugetraut.

    Erste Begegnung

    Auch heute sind die Neumanns bei den Guidos zu Besuch. Es ist ein wichtiger Tag für alle. Gemeinsam sitzen sie am Frühstückstisch, auf dem ein Geburtstagskuchen und eine Brötchenpyramide stehen. Die aufeinandergestapelten Brötchenhälften sind mit Käse und Wurst belegt. Melissa angelt sich ihre zweite Hälfte und beißt herzhaft in die Schinkenwurst. Simone beobachtet ihre Tochter und zählt im Kopf mit. Es reicht ein Blick in Simones blaue Augen, um zu wissen, dass ihr ganzes Gesicht strahlt. Das ist das Erstaunliche an ihr. Sie strahlt zu jeder Zeit und der Außenstehende kommt nicht umhin, sich irgendwann zu fragen, woher dieses unerschütterliche Strahlen gespeist wird.

    Simone und Bernhard Guido Wir erinnern uns immer an die Szene, als wir ihn das erste Mal gesehen haben. Seine blauen Augen, die uns sofort beeindruckt haben. Eigentlich wollten wir nur einen vorweihnachtlichen Besuch abstatten, um unser Gewissen zu beruhigen. Aber als wir vor ihm standen und er uns angeschaut hat, war eigentlich alles klar.

    Es war kurz vor Weihnachten, in diesem großen, altehrwürdigen Krankenhaus. Er lag auf der Intensivstation – daran hatten wir gar nicht gedacht, als wir hingefahren sind und unsere beiden Söhne Marco und Pablo mitgenommen haben. Die durften natürlich nicht mit auf die Station und wir wussten erst gar nicht wohin mit denen. Im Eingangsbereich des Krankenhauses stand ein großes Holzspielschiff, wo wir die beiden dann spielen ließen. Sie waren zu dem Zeitpunkt ja auch noch ganz klein, Marco war sechs und Pablo nicht einmal vier. Aber wir wollten ihn unbedingt zusammen als Paar sehen. Das war uns ganz wichtig.

    Die erste Begegnung war dementsprechend kurz. Im Vorraum mussten wir uns Schutzanzüge anziehen, Haube, Mundschutz, alles steril. Nur so durften wir überhaupt erst den Gang der Intensivstation betreten. Dort mussten wir Bescheid geben, damit sie ihn für uns aus dem Bett holen und uns hinter der Glasscheibe zeigen, wir durften ihn also auch gar nicht berühren. Von dort hat er uns dann mit seinen großen blauen Augen angeschaut. Er sah ziemlich lädiert aus, aber seine Augen blitzten. Es heißt doch, ein Kind sucht sich seine Eltern aus, so war das auch bei uns: Er hat sich uns ausgesucht.

    Marco und Pablo, die unterdessen auf dem Holzschiff gespielt und den Jungen nicht gesehen hatten, kommentieren die Rückkehr ihrer Eltern verwundert mit den Worten: „Wo ist er denn jetzt? Nehmen wir ihn nicht gleich mit?" Scheinbar hatten alle schon eine Entscheidung getroffen.

    Bernhard Guido Später wurde die Klinik abgerissen. Aber das Spielschiff hat irgendwer in den Neubau verlegt. Dadurch wurde zum Glück auch ein Stück unserer Erinnerung an diese erste entscheidende Begegnung bewahrt.

    * * *

    Simone und Bernhard sehen sich über die dampfenden Kaffeetassen hinweg an. Zwischen ihnen existiert eine stille Übereinkunft, die auch schon damals, 1997, ihr Geheimnis gewesen sein muss. Simones Finger liegen auf der Kette über ihrer Brust, als würde sie von dort die Erinnerung hervorkramen: „Wir fuhren zurück nach Hause und sprachen mit Familienmitgliedern, mit Experten und Freunden. Die meisten waren dagegen. ,Ein behindertes Kind, seid ihr wahnsinnig.‘" So etwas zerstöre die Familie, die Ehe, die Söhne Marco und Pablo. Viele laute Stimmen, wenige zarte dazwischen leuchteten wie Sterne.

    Andreas und Kordula Neumann (Bernhards Bruder und Schwägerin) Wir konnten das gar nicht wirklich beurteilen. Wir finden es schwierig, als Außenstehende zu sagen: „Macht das bloß nicht! Oder: „Finden wir toll, macht das! Wir blieben relativ neutral. Aber es war schon so, dass wir fast die Einzigen waren, die ermutigt statt abgeraten haben. In der Familie herrschte sehr viel Skepsis. Ein Familienmitglied, soweit wir uns erinnern, drohte sogar damit, den Kontakt abzubrechen, falls sie diesen Schritt tatsächlich gehen würden.

    Melissa leckt sich die Finger und fragt ihre Mutter nach einer dritten Brötchenhälfte. Die schüttelt den Kopf. Melissa fragt ein zweites Mal. Simone schüttelt abermals den Kopf, diesmal springen ihre blonden Locken.

    Über dem Küchentisch hängt ein groß aufgezogenes Foto. Simone und Bernhard stehen vor gigantischer Bergkulisse: über ihren Köpfen azurblauer Himmel, um sie herum ist die Welt ausnahmslos schneefarben. Beide stecken in dicken Skianzügen im Stile der Achtzigerjahre. Bernhard mit verspiegelter Sonnenbrille, die Beine fest in den Hang gestemmt, um Simone sicher im Arm zu halten. Simones Bein ist leicht angewinkelt, als würde sie gegenüber der Naturgewalt einen höflichen Knicks machen, ihr Kopf ist an Bernhards Schulter gelehnt. Zwei kleine Figuren in einer übermächtigen Landschaft, 1984, frisch verliebt und noch weit entfernt von eigenen Kindern, sehen sie schon damals aus, als könnte sie in diesem Leben nichts aus dem Gleichgewicht bringen.

    Simone und Bernhard In Deutschland herrscht das Bild, dass mit einem behinderten Kind kein glückliches Leben möglich ist. Dass alles vorbei ist für denjenigen, der ein solches Kind annimmt. Bei den allermeisten ist das so in den Köpfen. Und trotzdem hatten wir diese Bedenken komischerweise nie. Das haben einem immer nur die Leute gesagt. Es gab wirklich nur sehr wenige, die das direkt positiv fanden. Die meisten hatten uns abgeraten und sehr starke Ängste. Die schlimmsten Szenarien wurden gezeichnet. Alle haben auf uns eingeredet, unser Telefon stand nicht mehr still.

    Melissa beugt sich betont unauffällig zu Bernhard. „Papa. Darf ich noch ein Brötchen?", flüstert sie. Bernhard wiederholt, was Simone gerade verboten hat. Darüber denkt Melissa einen Moment lang nach. Dann fragt sie Bernhard noch einmal. Als der die Stirn runzelt, schlägt sie im selben Atemzug vor, einen Apfel zu essen. Mit dieser Entscheidung sind alle zufrieden.

    Kordula Neumann (Bernhards Schwägerin) Wir haben das erste Mal von dem Kind erfahren, als Simone und Bernhard bei uns zu Besuch waren. Simone sagte noch zum Abschied, kurz bevor sie ins Auto stieg: „Ach, stimmt, ich habe auch noch ein Foto." Sie zeigte uns ein richtiges Babyfoto, ein hilfloser, zarter Säugling mit diesen großen blauen Augen. Von da an konnte ich verstehen, warum die beiden so fasziniert von ihm waren.

    Was Simone und Bernhard von Anfang an gespürt hatten, kristallisierte sich zu einer Entscheidung: Ihre beiden Söhne Marco und Pablo würden einen Bruder bekommen. Einen Bruder mit Down-Syndrom.

    Dagmar Schönfeld (Ärztin und Freundin der Guidos) Ein behindertes Kind ist erst mal immer eine größere Herausforderung, egal, was es hat. Mir war klar, das würde nicht einfach werden und Schwierigkeiten mit der Betreuung mit sich bringen. Außerdem weiß niemand, wie behinderte Kinder sich im Laufe der Zeit entwickeln. Und wer sich so ein Kind anguckt, klar, der sieht zunächst einmal nur einen Säugling, der immer süß und niedlich ist. Hinzu kommt das Mitleid. Deshalb hatte ich die beiden gewarnt, ihn sich nicht anzuschauen, weil sie ihn dann sowieso nehmen würden.

    Über die Schwere seiner Behinderung wussten wir zudem überhaupt nichts. Wie ist sein Geisteszustand? Wie sein körperlicher? Zu diesem frühen Zeitpunkt kann grundsätzlich noch nicht viel prognostiziert werden. Und eine Frühgeburt, die er ja auch noch war, bringt außerdem immer Probleme mit sich.

    Dagmar Schönfeld sitzt Simone gegenüber, sie trägt einen türkisfarbenen dünnen Pullover mit V-Ausschnitt, hat kurze schwarze Haare und ein entwaffnendes, offenes Lachen. Sie ist eine lebendige Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie sei eher der pragmatische Typ, sagt Simone, Naturheilmittel seien nicht ihr Ding. Weswegen sie sich auch gerne mal kabbeln würden, fügt Simone scherzend hinzu. Dagmar Schönfeld sei aber ein herzensguter Mensch, der Tim sehr mögen würde.

    Blaue Augen

    Bernhard steht auf, um noch einmal Kaffee zu machen. Ein Milchschäumer plustert warme Milch auf, frisches Teewasser blubbert in einem Kocher. Mit einem prüfenden Blick auf den Tisch stellt Bernhard sicher, dass jeder hat, was er braucht, während er Melissa zum Zähneputzen schickt.

    Bernhard Wenn ich für jede Entscheidung, die ich treffe, erst mal einen riesigen Entscheidungsbaum erstelle und alle Für und Wider aufliste, hilft das zumindest mir nicht weiter. Natürlich war es eine Bauchentscheidung, bei rationaler Betrachtung hätten eindeutig die Kontra-Argumente überwogen.

    Blauäugig waren wir vielleicht darin, dass wir uns auf etwas eingelassen haben, dessen Folgen wir nicht abschätzen konnten. Aber auf der anderen Seite war alles zunächst auf bestimmte Zeit begrenzt. Wie hieß das früher beim Fußball? Eine kontrollierte Offensive.

    Vom Wintergarten tönt ein Scheppern, Knurren und Brummen in die Küche. Es folgt ein Lachen und Klatschen. Simone scheint den Lärm nicht zu hören. Er gehört so sehr zu ihrem Alltag, dass sie ihn längst nicht mehr wahrnimmt. Melissa ist auf dem Weg zurück vom Zähneputzen ebenfalls zu hören. Die Treppe vom ersten Stock geht sie nicht, sie rutscht sie auf dem Po Stufe um Stufe abwärts nach unten. Das helle Holz erzählt von mehreren Kindheiten, die hier treppauf, treppab, rennend, stolpernd oder rutschend die letzten zwanzig Jahren gelebt wurden. Die Vorderkanten der Stufen sind ausgetreten und dunkel abgewetzt. Melissa nimmt mit einem Ruck die letzte Stufe. Das tue überhaupt nicht weh, versichert sie. „Na ja", schiebt sie hinterher und reibt sich dabei ihr Gesäß, als sie zurück in die Küche kommt.

    Sie hat den Schlafanzug gegen ihren Lieblingspullover getauscht. Er ist leuchtend orange, auf der Brust prangt ein schwarzes, haariges Gesicht. „Die wilden Kerle" steht darüber. Mit ihrer neuen Frisur, den raspelkurzen, pechschwarzen Haaren, bleibt kein Zweifel offen, dass sie einer der wilden Kerle ist.

    Andreas und Kordula Neumann (Bernhards Bruder und Schwägerin) Wir glauben nicht, dass Simone und Bernhard blauäugig waren. Sie sind mit viel Optimismus an die Geschichte herangetreten. Aber blauäugig bedeutet ja, dass jemand in eine Situation geht, ohne darüber nachgedacht zu haben. Das war mit Sicherheit nicht der Fall. Klar, als sie ihn das erste Mal gesehen haben, war die Entscheidung für sie schnell getroffen. Aber damals hieß es auch noch, das Kind bliebe nur ein Jahr. Es war also zeitlich begrenzt, so differenziert ist das zu sehen. Und in diesen Monaten konnten sie etwas für ihn tun: Er würde ein Jahr lang Liebe bekommen und kein Heimkind sein. Hätten die beiden gesagt, er bleibt für immer, hätten wir vielleicht nicht so positiv und ermutigend reagiert. Dann wären auch wir vielleicht ein bisschen skeptischer gewesen. Aber es war trotzdem keine leichtfertige Entscheidung. Auch die komplette Tragweite war zu dem Zeitpunkt noch nicht klar, wie pflegebedürftig das Kind sein würde und wie lange Krankenhausaufenthalte ihm bevorstünden, wie oft Simone an seinem Bett sitzen und sein Leben am seidenen Faden hängen würde.

    Ein Känguru im Krankenhaus

    Simone Wie schwer er tatsächlich behindert war, haben wir erst später erfahren. Auch, wie er in diese Welt gekommen ist. Das war lange nachdem am 30. Dezember das Jugendamt angerufen und wir zunächst einmal für dieses eine Jahr zugesagt hatten. Wir wussten nur, im Krankenhaus liegt ein kleiner Junge mit Down-Syndrom, und dass die Mutter zurzeit psychisch nicht in der Lage war, ihn anzunehmen. Nach und nach haben wir dann von seiner Geburt erfahren. Wir haben uns also für ihn entschieden, ohne seine Vorgeschichte zu kennen. Und dabei hatten wir damals beim Jugendamt als Wunsch im Pflegekindformular angegeben: „nicht behindert und „Mädchen.

    Als uns das Jugendamt dann schon drei Wochen nach unserer Pflegeelternausbildung ein behindertes Kind angeboten hat, haben wir selbst erst einmal gedacht: „Puh, das hatten wir doch eigentlich ausgeschlossen." Aber wir waren sofort in ihn verliebt und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es bei ihm genauso war.

    Daraufhin fingen die Kontaktfahrten in die Kinderklinik nach Oldenburg an. Ich musste zunächst zwei Monate lang lernen, wie ein solches Kind gepflegt wird. Die erste Zeit habe ich eigentlich gar nichts gemacht, nur zugeschaut, was die Krankenschwestern mir gezeigt und erklärt haben, was das alles für Geräte sind und was er für Krankheiten hat. Auch, um überhaupt mit ihm warm zu werden.

    Am Anfang bin ich zweimal die Woche ins Krankenhaus gefahren, am Wochenende zusammen mit Bernhard und den Kindern, und zum Schluss schließlich täglich. Für mich war alles neu, ich bin vorher noch nie auf einer Frühchenstation gewesen.

    Dort reihen sich Inkubatoren und Wärmebettchen aneinander. Nach Schweregrad der Fälle wird auf unterschiedliche Zimmer aufgeteilt: in Lebensgefahr, stabil, aus dem Gröbsten heraus. Das Personal bewegt sich angenehm still. Dennoch herrscht ein ununterbrochener Geräuschpegel, die Beatmungsgeräte heben und senken zischend die Körper ihrer Abnehmer, die nur mit taschentuchgroßen Windeln bekleidet in ihren Betten liegen. Die Schwestern scheinen von einem zum nächsten Bett zu schweben, wechseln Verbände, säubern Nähte, geben tröpfchenweise Milch in Kinder, manchmal nicht schwerer als zwei Pfund Butter. Diese sind an Kabel und Apparate angeschlossen, als müssten sie erst einmal aufgeladen werden, um später am Leben teilnehmen zu können. Dazwischen geistern erschöpfte Gesichter mancher Eltern, die nicht mehr tun können, als stundenlang neben den Inkubatoren auszuharren. Es erstaunt, wie klein ein menschliches Wesen sein kann und dennoch am Leben.

    Simone Er war mit sechs Monaten immer noch kleiner als ein normales Neugeborenes. Dazu lag er in diesem Bettchen, einem Inkubator, in das nur die Hände gesteckt werden können. Nur mit einer Windel bekleidet, die kleinste Frühchenwindel, die es gab. Ein paar Wochen später wurde er im Krankenhaus dann in ein normales Wärmebettchen verlegt und durfte auch mit seinen ganzen Gerätschaften am Körper gehalten werden. Wir haben daraufhin sofort mit der Kängurumethode angefangen, ihn Haut an Haut auf meine Brust gelegt und warm zugedeckt. Die erste Zeit habe ich dann auch nichts anderes gemacht. Er hat sehr positiv darauf reagiert, das hat er wirklich gebraucht.

    Für Frühchen ist es das Beste, sie so viele Stunden wie möglich in direktem Körperkontakt zu tragen. Eigentlich wechseln sich dabei die Eltern 24 Stunden am Tag ab. In seinem Fall kam die erste Zeit seines Lebens zum Glück eine Dame vom Besuchsdienst, sooft es ging für ein paar Stunden. Es gab ab und zu wohl auch Krankenschwestern, die sich mit

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