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Extremely Cold Water
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eBook315 Seiten4 Stunden

Extremely Cold Water

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Über dieses E-Book

Eugen Thomas macht irgendwas mit Medien. Doch dann steigt er plötzlich aus: aus seinem Sportwagen, aus seinem halbdigitalen Social-Network-Leben in Berlin. Und nur eine Stunde später besitzt er Wanderstiefel aus einem Schuhdiscounter und ein Flugticket in die Sierra Nevada, ausgestellt auf den kommenden Tag. Eugen steigt ein: ins Flugzeug, ins Glücksspiel in Nevada und in ein Ferienhaus am Lake Tahoe. Dort findet ihn ein neues soziales Netzwerk: Joshua, das Schlüsselkind von nebenan, und Phil, ein schwuler Callboy aus L.A. In dessen betagtem Toyota namens "Madonna" begeben sich die drei auf eine familiäre Rettungsmission nach Oregon: Es gilt, Joshuas Schwester vor ihrem Freund zu schützen.

Volker Surmanns zweiter Roman ist locker erzählt, spannend und humorvoll, berührt aber zwei existenzielle Fragen: Wie will man eigentlich leben? Was ist wirklich wichtig?
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum7. Jan. 2015
ISBN9783863911072
Extremely Cold Water

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    Buchvorschau

    Extremely Cold Water - Volker Surmann

    Teil 1

    1. Kreuzung

    »Jetzt fahr endlich, du blöde Fotze!«

    Eugen Thomas saß am Steuer seines schwarzen Seat Leon und erschrak. Dann wurde ihm gewahr, dass es heiß war im Auto, dass ihm Schweiß auf der Stirn stand und sein Gesicht vermutlich gerötet war. Er linste in den Rückspiegel. Ja, stimmte. Stress, einfach zu viel Stress.

    Dann erst wurde ihm gewahr, dass das Fenster seines schwarzen Seat Leon weit offen stand und ihm vom Gehweg zwei junge Frauen so mitleidig wie kopfschüttelnd anschauten. Er musste sehr laut geschrien haben.

    Als Nächstes bemerkte er, dass ihn die Frau im Polo vor ihm über den Rückspiegel sehr böse anfunkelte. Offensichtlich hatte auch sie ihre Scheiben weit heruntergedreht. Verdammt, der Polo besaß sogar ein Schiebedach.

    Zuletzt sah Eugen Thomas, dass die Frau im Polo allenfalls auf den Fußgängerüberweg auf der anderen Seite der Kreuzung hätte hinüberfahren können, denn der Verkehr staute sich noch viel weiter dreispurig durch die Stadt.

    Nicht gewahr wurde Eugen Thomas, dass sein iPhone schon wieder etwas von ihm wollte. SMS, Twitter-Benachrichtigung, Anruf, Facebook-Alert. Irgendwas in der Art. Irgendeine App wollte immer irgendwas von ihm.

    Dennoch griff Eugen Thomas nach dem iPhone, nach der Tasche mit Unterlagen und zog den Autoschlüssel ab. Das Radio, das gerade noch von einem Krieg in einem fernen Land und einem Streit in der Koalition (oder umgekehrt) gesprochen hatte, verstummte. Dann stieg Eugen Thomas aus.

    Die Frau vor ihm schaute verwundert aus ihrem Rückspiegel. Eugen überlegte, etwas wie »Entschuldigung« zu murmeln, aber es wollte ihm nicht recht über die Lippen kommen. Er zog die Augenbrauen hilflos hoch, die Nase kurz kraus und hoffte, die Frau möge irgendwas hineininterpretieren, wenn er auch selbst nicht wusste, was genau.

    »Wat wird’n ditte?«, brüllte der Taxifahrer hinter ihm und steckte seinen hitzeroten Kopf aus dem offenen Fenster.

    »Es wird, was es wird«, sagte Eugen Thomas und ließ das Taxi und sein Auto hinter sich, schlängelte sich schnell zwischen Stoßstangen hindurch zum Gehweg. Der Verkehr stand nach wie vor. Irgendwo in der Ferne hupte es. Eine Fassade warf das Echo eines Martinshorns zurück.

    Auf dem Gehweg angelangt, schaute Eugen Thomas noch einmal zurück, drückte auf das Abschließsymbol auf seinem Autoschlüssel, der Seat Leon machte »Bibb bibb«, die Warnblinklampen blinkten. Leon macht jetzt Bubu. Schon dröhnte die erste Hupe, der Taxifahrer. Als könnte eine Hupe einen schlafenden Leon wecken.

    Was wird denn das hier gerade?, fragte sich nun auch Eugen Thomas und befand, dass es besser wäre, sich aus dem Staub zu machen. Zügig, aber ohne besondere Hektik lief er los, beschleunigte seinen Schritt zum Anschwellen des Hupgesangs und flüchtete sich hinter die nächste Schiebetür aus Glas, eine kleine Shopping-Mall – H&M, Rossmann, Edeka, Bäcker, Eiscafé Venezia, derselbe Scheiß wie überall. Wieder die erstbeste Schiebetür: Schuhdiscounter, sehr hohe Regale – gut, um sich dazwischen zu verstecken. Außerdem dämpften die Regale, gefüllt mit Leder und Kartons, das mittlerweile erstaunlich polyphone Hupkonzert von der Straße.

    Das ist doch nicht normal, was ich hier tue, dachte sich Eugen Thomas und überlegte, ob er eine Facebook-Nachricht tippen sollte: »Eugen Thomas: hat böses F-Wort gesagt und dann sein Auto stehen lassen, im Stau auf der Leipziger Straße, mittlere Spur. Erklärung gesucht.«

    Er schaute auf sein iPhone. Drei Anrufe in Abwesenheit. Mindestens einer davon würde zum Thema haben, ob er es noch rechtzeitig zum Meeting schaffte. Ich habe Termine, wunderte sich Eugen Thomas, ich habe einen Job, fast jede Fahrt mit dem Leon ist eine Dienstfahrt, und jetzt stehe ich in einem Schuhdiscounter und verstecke mich zwischen den Regalen. Das ist doch gerade völlig verrückt!

    Nervenzusammenbruch, durchfuhr es Eugen Thomas, ich habe einen Nervenzusammenbruch. Klar, das muss es sein. Nervenzusammenbruch.

    »Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?«, fragte plötzlich eine Verkäuferin.

    »Nein danke«, sagte Eugen Thomas, »ich komm schon zurecht.« Und in der Tat, wunderte er sich wieder, für einen Nervenzusammenbruch komme ich überraschend gut zurecht.

    »Suchen Sie etwas für Ihre Frau?«, insistierte die Frau vom Schuhladen und musterte ihn. Eugen Thomas stand vor einem mannshohen Regal mit Damenschuhen.

    »Nein, ich stöbere nur ein wenig.«

    »Stöbern« ist falsch, fiel ihm auf. Stöbern tut man in Buchhandlungen. In Schuhdiscountern stöbert man nicht. Was war das eigentlich für ein komisches Wort? Stöbern.

    Die Frau musterte ihn seltsam, und er musterte einen roten Damenschuh, Größe 39, mit mehr Lücken und Luft als Lackimitat, dafür sehr hohem Absatz. Jetzt hielt sie ihn sicher für einen Transvestiten.

    »Keine Sorge, ich bin kein Transvestit«, sagte Eugen und fragte sich, wieso er das sagte und wieso das eigentlich ein Grund zur Sorge sein sollte.

    Die Frau tat jedoch so, als nähme sie den Transvestiten-Satz als Scherz, jedenfalls lachte sie und trollte sich: »Schauen Sie sich ruhig in aller Ruhe um.«

    »Umschauen«, genau! Das machte man in Bekleidungsgeschäften. Da stöbert man nicht, da schaut man sich um.

    Trotzdem nahm Eugen Thomas sein iPhone aus der Tasche, rief seinen Twitter-Account auf und tippte fix: »Neuer Trend: Stöbern im Schuhgeschäft. #Trend‚ #Schuhe«.

    Anschließend tat er wie geheißen und schaute sich um: ein paar Schluchten aus Regalen, die Herrenschuhe etwas weiter links. Dorthin wollte er lieber nicht, denn die befanden sich direkt am Schaufenster, und hinter dem Schaufenster war die Straße, auf der sich die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange stauten und immer noch hupten. Immerhin, es schien langsam voranzugehen, aber zäh, als bewegten sich die Autos durch klebrigen Asphalt. Wildes Blinken, Gestikulieren, wütendes Hupen, es bereitete den Kraftfahrern einiges an Mühe, im eh schon stockenden Stauverkehr das Hindernis auf der Mittelspur zu umfahren.

    Rechterhand noch mehr Damenschuhe, geradeaus eine massive Wand mit festem Schuhwerk. »Festes Schuhwerk«, das hatten die Lehrer immer vorm Wandertag gefordert. »Bitte festes Schuhwerk mitbringen.« Um nicht länger als Transvestit zu gelten, steuerte Eugen Thomas das Regal mit festem Schuhwerk an.

    Bald darauf lugte die Verkäuferin um eine Regalecke, traute sich aber nicht, ihn anzusprechen, obschon er seit mehreren Minuten einen Wanderschuh in seinen Händen drehte und wendete.

    »Vielleicht können Sie mir doch helfen«, sprach er die Verkäuferin an. »Passt der zu mir?«

    »Besser als der rote Damenschuh eben. Wollen Sie wandern?«

    »Ja«, sagte Eugen Thomas und wusste nicht, wieso. Das letzte Mal, dass er wandern war, war im Harz gewesen, mit der Schule. Klasse 7 oder 8. Was wird denn das hier gerade?, fragte er sich wieder. Dazu beschlich ihn das Gefühl, es würde nicht das letzte Mal sein, dass er sich diese Frage stellte.

    Fünfzehn Minuten, zwei Twitter-Nachrichten, drei entgangene Anrufe, eine SMS und immer noch kein Facebook-Posting später stand Eugen Thomas wieder auf dem Gehweg vor der kleinen Mall, in der Hand eine Einkaufstüte vom Schuhdiscounter. Darin ein Paar Wanderschuhe, von denen er nicht wusste, ob er sie jemals benötigen würde.

    Das Verkehrschaos dauerte an. Die Fahrer der Autos vor und hinter dem Leon hatten gemacht, dass sie weiterkamen, als die Chance dazu bestand. Verkehr muss fließen. Autos müssen rollen. Von Termin zu Termin. Hauptsache weiter, was kümmert mich ein parkender Pkw auf der Mittelspur, wenn ich erst einmal daran vorbei bin?

    Von Eugens Spontanaktion zeugten also nur der Seat, der nach wie vor für Hupen und Geschrei sorgte, sowie zwei hilflos dreinschauende Polizisten. Einer musterte den Seat, als könne er sich nicht so recht zum Kauf entscheiden, der andere stand in der offenen Tür des Streifenwagens, sprach in sein Funkgerät und blockierte auf diese Weise auch noch die rechte Spur. Dreispurig auf einspurig. Auf den gegenüberliegenden Fahrstreifen ging es auch nicht recht voran, dafür sorgte die Neugier der Fahrer: Irgendwas geht dort drüben ab, bloß was?

    Das fragte sich Eugen ebenfalls. Fasziniert betrachtete er das Schauspiel an der Kreuzung und hatte ein wenig Mitleid mit seinem schlummernden Seat.

    Ich muss hier weg, dachte sich Eugen Thomas und schaute sich um. Ich könnte auch ein wenig durch die Straßen stöbern, mich zwischen den Schaufenstern in aller Ruhe umsehen, dachte er. Dann sah er direkt an der Kreuzung das Schaufenster eines Reisebüros: »Depart Reiseagentur«.

    Er wartete, bis die Fußgängerampel Grün zeigte. Das tat er sonst nicht, der Verkehr staute sich ja eh, er ging oft bei Rot. Aber die Anwesenheit der zwei schwitzenden Polizisten auf der Kreuzung flößte ihm etwas Respekt ein, zumal sie längst wissen dürften, wer der Halter des verlassenen Pkws auf der Mittelspur war.

    Eugen betrachtete nur kurz die Angebote im Schaufenster des Reisebüros – Ibiza, Malle, Kanaren, AIDA und immer wieder Kos – und trat ein. Er war der einzige Kunde.

    »Womit kann ich dienen?«, fragte eine junge Angestellte mit solariumgebräunter Haut. Vermutlich muss man so aussehen, wenn man in einem Reisebüro arbeitet, überlegte Eugen Thomas.

    »Ich möchte eine Reise buchen«, sagte er.

    »Wohin?«

    Wohin eigentlich? Gute Frage.

    »Setzen Sie sich doch.«

    Eugen Thomas setzte sich und stellte die kleine Tasche mit seinen Unterlagen neben sich an den Stuhl. Er nahm die Tragetasche mit dem Schuhkarton auf den Schoß, stützte seine Ellbogen darauf ab und ignorierte das Klingeln des iPhones. Es war inzwischen sowieso viel zu spät für seinen Termin.

    Wohin? Wo will ich eigentlich hin?

    »Können Sie etwas empfehlen?«, hörte er sich fragen. Eine Frage, die man im Reisebüro eigentlich nicht stellte. Glaubte er zumindest. Er kannte sie eher aus Restaurants. Aber er hatte seit sicher zehn Jahren kein Reisebüro mehr betreten, immer nur online gebucht.

    »Na ja, Mallorca wird gern genommen. Lanzarote hätte ich noch im Angebot. Oder Surfurlaub auf Fuerteventura, wird auch viel gebucht derzeit. Bei Ihnen könnte ich mir auch vorstellen, dass Sie so der Thailand-Typ sind.«

    Eben noch Transvestit, jetzt schon Thailand-Typ. Wo sollte das noch hinführen? Hielt sie ihn etwa für einen Sextouristen?

    Ich sollte Souveränität zeigen, befand Eugen Thomas. Das kann ich doch gut im Job. Souverän sein, alles in der Hand haben, Entscheidungen treffen, ans Telefon gehen, wenn es klingelt. Knackige Facebook-Botschaften posten. Dinge per Twitter auf den Punkt bringen. Social-Media-Kompetenz zeigen, Imagepflege betreiben. So ein Typ war er!

    Woran machte sie fest, dass er »der Thailand-Typ« war? Am Runtergucken auf die Schuhspitzen, als hätten die Antworten für ihn? Doch da fiel sein Blick auf die Plastiktüte aus dem Schuhdiscounter auf seinen Knien. Sie gab Eugen Thomas eine unverhoffte Antwort.

    »Reno«, las er ab und sprach es englisch aus: »Ich will nach Reno

    »Wo liegt das?«, fragte die Reiseberaterin.

    »USA, glaube ich«, sagte Eugen Thomas und hoffte, dass ihn seine Erinnerung nicht trog.

    Die Frau schaute eh schon seltsam genug. Sie tippte die vier Buchstaben in ihren Computer ein.

    »Aha, Tatsache. Da habe ich’s: Reno-Tahoe International Airport – in Nevada, richtig?«

    »Ja, genau«, antwortete Eugen Thomas. Sein Blick fiel abermals auf die RENO-Tüte, verschämt stellte er sie auf den Boden.

    »›Tahoe‹ sagt mir was. Das ist ein Bergsee dort … in den … Bergen. Sierra Nevada, glaub ich. Soll sehr schön sein. Großes Wintersportgebiet, im Sommer kann man da sicher gut wandern. Wandern Sie?«

    »Ja«, sagte Eugen, »hab gerade noch neue Wanderschuhe gekauft.« Das trifft sich ja gut, fügte er in Gedanken hinzu.

    »Wann wollen Sie denn fliegen?«

    Gute Frage.

    »Geht schon morgen?«

    Die Solariumskauffrau gab überrascht ein pfeifendes Geräusch ab, sie wusste nicht, ob sie ihren Kunden für voll nehmen sollte. Eugen entschied sich, iPhone und Kreditkarte auf den Schreibtisch zu legen. Es war nicht erkennbar, ob sie davon Notiz nahm, doch sie tippte eifrig drauflos.

    Während sie, sichtlich angestrengt, nach Flügen suchte, fegte mit einem Mal ein kleiner Luftstoß und mit ihm der Klang einer Autohupe ins Reisebüro. Ein Polizist stand vor der Glastür, die sich hinter ihm langsam wieder schloss.

    »Entschuldigung«, hob er gegen das Hupen von draußen an. »Wir suchen den Halter eines regelwidrig abgestellten Kraftfahrzeugs. Ist der zufällig hier?« Er schaute auf einen Notizzettel: »Ein Herr … Thomas Eugen.«

    Eugen Thomas schüttelte den Kopf und schaute auf den Schreibtisch. Viel mehr als die Tatsache, gerade namentlich gesucht zu werden, wunderte er sich über den verdrehten Namen. Vermutlich hatte die Zulassungsstelle dem Polizisten erst den Nachnamen, dann den Vornamen durchs Telefon diktiert und der hatte das Komma dazwischen nicht mitnotiert.

    »Ich bin’s nicht«, sagte die Reiseverkehrskauffrau.

    »Ich auch nicht«, sagte Eugen Thomas und dachte: Genau genommen stimmt das ja auch. Who the fuck is Thomas Eugen?

    »Na dann. Entschuldigen Sie die Störung«, sagte der Polizist. »Ich muss dann wieder. Da kommt auch schon der Abschleppdienst.«

    Eugen kam nicht umhin, dem Polizisten hinterherzuschauen. Draußen blinkten die orangefarbenen Lichter eines Abschleppwagens, der sich durch den Stau zur mittleren Spur arbeitete und nun auch noch die letzte Spur blockierte. Armer Leon, durchfuhr es Eugen, wohin wird man dich bringen?

    »Über Frankfurt, Charlotte und Phoenix habe ich einen Flug mit Abflug morgen, dreiundzwanzig Stunden mit langen Aufenthalten und dreimal Umsteigen, hauptsächlich US Airways, für tausendsechshundert Euro. Rückflug in zwei Wochen auf ähnlichem Weg, allerdings ’ne halbe Stunde schneller. Alles andere ist noch teurer.«

    »Klingt doch gut«, sagte Eugen. Klingt furchtbar, dachte er. »Bitte buchen Sie den für mich.«

    »Dann bräuchte ich noch Kreditkarte und Personalausweis. Sie müssten dann sofort, wenn Sie zu Hause sind, das Online-Einreiseformular der USA ausfüllen …«

    »Mach ich, kenn ich.« Im letzten Frühjahr war er mit Sybille einmal für ein verlängertes Wochenende in New York gewesen. Verdammt, Bille. Wie sollte er ihr das alles erklären?

    »Reisepass haben Sie?«

    »Ja.«

    Als sie seinen Namen eingab, schaute die Solariumsfrau irritiert auf und blickte Eugen Thomas direkt ins Gesicht. Der zuckte nur einmal mit den Schultern. Sie gab sich damit zufrieden.

    Am Abend saß Eugen Thomas zu Hause in seiner kleinen Loftwohnung und schaute auf das Flugticket. »Reisender: Mr. Thomas Eugen« stand da.

    2. Loft

    »Leiden Sie an einer ansteckenden Krankheit, an einer körperlichen oder geistigen Störung, oder betreiben Sie Drogenmissbrauch oder sind drogenabhängig?«

    Schon bei der ersten Frage des ESTA-Webformulars geriet Eugen ins Stocken. Vor seiner letzten USA-Reise hatte er einfach überall »Nein« angeklickt und die Einreisegenehmigung problemlos ergattert. Dieses Mal war er sich hinsichtlich der geistigen Gestörtheit nicht ganz sicher.

    Schließlich hatte er gerade so etwas wie einen Nervenzusammenbruch gehabt, oder hatte ihn noch. Es fühlte sich zwar nicht so an, aber sein geliebter Seat Leon stand vermutlich gerade auf irgendeinem Autohof, demnächst würde eine horrende Abschlepprechnung ins Haus flattern. Dazu ein ordentlicher Bußgeldbescheid. Da traf es sich doch nur zu gut, dass er gerade seinen Job aufs Spiel setzte.

    Eugen hatte seine Kreuzberger Loftwohnung bei seiner Rückkehr verflucht: Statt erst einmal in eine schummrige Flurhöhle einzusteigen, hatte man sofort alles im Blick. Zum Beispiel den Anrufbeantworter, ein letztes Relikt aus den Anfängen des Digitalzeitalters, das hysterisch blinkte. So aufdringlich verhielt er sich sonst nur, wenn er Geburtstage von Familienmitgliedern vergessen hatte und seine Mutter versuchte, ihn zu erreichen. Sollte er twittern?, hatte er sich gefragt. »Hilfe, mein Anrufbeantworter hat Kammerflimmern!« Oder: »Aufreger des Tages: hyperaktive Anrufbeantworter.« Oder: »Gefühl des Abends: Sehnsucht nach Flurhöhle.« Ergänzt um die Tags »#Flurarchitektur #Nervenzusammenbruch« und vielleicht noch »#Gebärmutter«. Ja, das wär’s!, hatte Eugen gedacht und dabei grinsend im Flur gestanden. Aber womöglich würden ihm seine besorgten Follower schneller die Männer in weißen Kitteln auf den Hals schicken, als er in seinem Flieger war. Wie sollte er denen in seinem Sechzig-Quadratmeter-Loft entkommen? Also hatte er nur getippt: »In einem Loft kann man sich nicht verstecken« und abgeschickt.

    Die Anrufe auf dem AB waren nicht von seiner Mutter. Die Anruferliste des Telefons hatte hingegen mehrfach die Nummer seiner Agentur gezeigt. Erstaunlich, er hatte nicht einmal gewusst, dass man dort seine Festnetznummer kannte. Die Kollegen riefen sonst nur auf seinem Mobiltelefon an. Vielleicht hatten sie die Nummer gegoogelt. Oder die Auskunft angerufen. Selbst Lucas Kerns persönliche Nummer hatte sich auf dem Display gezeigt. Anscheinend vermisste man ihn tatsächlich. Verdammt, was machte er hier gerade?

    »Leiden Sie an einer geistigen Störung?«

    Nervenzusammenbruch. Im Schuhgeschäft und Reisebüro hatte sich das noch total aufregend angefühlt. Hier zu Hause nicht mehr. Hier zu Hause brauchte er etwas zu trinken.

    Aber was? Eugen trank daheim nur selten Alkohol. Sein Weinregal war seit dem letzten Abendessen mit Sybille leer, da hatten sie die letzte Flasche geleert. Bier hatte er so gut wie nie im Haus, in Clubs und Cocktailbars trank er am liebsten Gin Tonic. War da nicht noch …?

    Tatsächlich! Im Kühlschrank war noch eine angebrochene Flasche Gin. Wie lange stand die da schon? Wann hatte er hier die letzte Party gefeiert? Egal. Gin wird nicht schlecht, dachte er. Auch ein schöner Twitter-Satz. Aber man soll’s ja nicht übertreiben.

    Nur Tonic Water fand Eugen nicht, dafür ein Sixpack Bionade Litschi, das Sybille mal angeschleppt haben musste. Er mixte beides zusammen und fand im Eisfach sogar Eiswürfel.

    Dann hatte er eine Idee und das iPhone schon wieder in der Hand, der Satz musste einfach raus. Dann übertreibe ich’s halt doch, außerdem passt Übertreibung ganz gut zu meinem Zustand, dachte Eugen.

    Twittereintrag: »Bionade ist das neue Tonic. Trendgetränk des Tages: Gin Litschi.«

    Die ersten Follower kommentierten via Facebook prompt: »Santé!«, »Uargh!« und »Probier mal Bier mit Tomatensaft«. Nur eine Kollegin aus der Agentur postete: »WO WARST DU???? HIER IST DIE HÖLLE LOS!«

    Den ersten Gin Litschi trank Eugen noch vor der geöffneten Kühlschranktür. Den zweiten ebenfalls. Den dritten nahm er mit zurück zum Schreibtisch. Eugen ließ die Eiswürfel im Glas klimpernd ein paar Runden drehen.

    »Betreiben Sie Drogenmissbrauch?«

    Das klang nach dem Ausüben eines kleinen Gewerbes. Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie so in Ihrem Drogenmissbrauchsbetrieb? Kann man davon leben? Nein, nein, würde Eugen Thomas entgegnen, das ist eine freiberufliche Tätigkeit – oder highberuflich, wenn Sie verstehen, was ich meine … Er kicherte, der Gin schien schneller zu wirken als gedacht. Er kicherte sonst nie. Das klingt tatsächlich ein wenig irre, musste er sich eingestehen, offenbar bin ich schon unzurechnungsfähig. Also konnte es auf die Frage nach der geistigen Störung nur eine Antwort geben: Nein.

    Eugen Thomas klickte sich durch die weiteren sechs Fragen.

    Er hatte nicht vor, »zum Zweck krimineller oder sittenwidriger Handlungen einzureisen«. Vielleicht war seine Ausreise sittenwidrig. Alles stehen und liegen lassen, das macht man doch nicht!, würde seine Mutter sagen. Und wenn jemand etwas über Sitten wusste, dann waren es Mütter. Egal, er war nicht zurechnungsfähig und trank noch einen Schluck.

    Nächste Frage (lag es schon am Alkohol oder vervielfältigte sich die Zahl der »oder« in dem ESTA-Formular von selbst? Sieben »oder« zählte Eugen in der sittenwidrigen Kriminellenfrage. Fünf »oder« in der nächsten Frage): »Waren Sie jemals oder sind Sie gegenwärtig an Spionage- oder Sabotageakten, an terroristischen Aktivitäten oder an Völkermord beteiligt, oder waren Sie zwischen 1933 und 1945 in irgendeiner Weise an Verfolgungsmaßnahmen in Zusammenhang mit dem Naziregime oder dessen Verbündeten beteiligt?«

    Hier musste man wohl »Ja« ankreuzen, wenn man Islamist, Nazi oder Hitlers persönlicher Leibtaliban war.

    Eugen klickte sich mit »Nein« durch die nächsten absurden Fragen und formulierte dabei an seiner eigenen Fragestellung herum, die er auch sogleich bei Facebook reinstellte:

    »Haben Sie jemals ein Auto auf einer viel befahrenen Straße stehen lassen oder beabsichtigen Sie dies zu tun, oder haben Sie ein Flugticket für die Sierra Nevada gebucht oder wissen Sie nicht, wo das liegt und fliegen trotzdem, oder sind Sie im Besitz von festem Schuhwerk oder roten Stilettos? Ja/Nein.«

    Am Ende musste er noch vierzehn Dollar Bearbeitungsgebühr per Kreditkarte bezahlen: Vierzehn Dollar für vierundzwanzig »oder«, das machte knapp sechzig Cent pro »oder«. Eine teure Konjunktion.

    Ein Chatfenster bei Facebook ploppte auf.

    Billes Visagenfibel: »hi, was ist los bei dir?«

    Natürlich hatte Sybille nicht ihren Nachnamen angegeben, Datenschutz und so. Sie hegte eine ausgeprägte Skepsis gegenüber jedweden und insbesondere US-amerikanischen Internetangeboten, vermutlich zu Recht. Ihr »Visagenfibel« fand Eugen trotzdem albern bis peinlich.

    Man soll seine Lebensgefährtin nicht albern und peinlich finden, mahnte Mama Thomas in seinem Kopf.

    Eugen Thomas: »hi bille, alles bestens, alles okay.«

    Billes Visagenfibel: »was sind das für komische postings von dir?«

    Was konnte sie wissen? Eugen überschlug kurz. Erst war er froh, dass sie nicht twitterte, dann fiel ihm bei einem Blick auf den Bildschirm ein, dass er sämtliche sozialen Netzwerke, soweit möglich, miteinander verlinkt hatte. Sie hatte also auch bei Facebook alle Twittereinträge lesen können.

    Eugen Thomas: »war heute etwas gestresst. muss mal ein paar tage raus.«

    Billes Visagenfibel: »geht das so einfach?«

    Eugen Thomas: »nee, aber ich mach’s einfach. fliege morgen los.«

    Billes Visagenfibel: »wir wollten doch demnächst gemeinsam urlaub machen!«

    Eugen Thomas: »wollten wir, aber eigentlich wollen wir nur immer.«

    Billes Visagenfibel: »weiß eben noch nicht, wann ich hier mal loskomme. kriegste denn demnächst noch urlaub, wenn du jetzt welchen nimmst? bei euch ist doch auch immer die hölle los.«

    Wie wahr, dachte Eugen, heute erst recht. Mein Anrufbeantworter hat es mir verraten.

    Eugen Thomas: »ich nehm ja auch gar keinen urlaub.«

    Billes Visagenfibel: »bist du wahnsinnig?? dein chef hat versucht, mich zu erreichen. MICH!! woher hat der meine nummer?!«

    Eugen Thomas: »und?«

    Billes Visagenfibel: »hab

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