Der Fluch des Dschinn
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Der Fluch des Dschinn - Andrea Kleinwechter
9
Kapitel 1
Stimmen hatten Shana vor die Tür gelockt. Sie kamen vom Marktplatz, am Ende des Sandwegs, der am Haus ihrer Familie vorbeiführte. An seinem Rand lagerte eine Karawane im Schatten der Dattelpalmen. Die Treiber schöpften Wasser aus dem Brunnen, füllten Schläuche und tränkten die Dromedare vor ihrer Weiterreise durch die Wüste.
Die Ausdünstungen der Tiere vermischten sich mit dem Duft der Gewürze, die die Händler zusammen mit anderen Gegenständen für den Hausgebrauch auf ihren Teppichen feilboten. Um sie scharte sich eine Traube von Kaufwilligen, unter denen sich auch Shanas Vater befand, den sie an seinem weißen Schopf erkannte. Sein Gesicht glühte rot, woran nicht allein die Hitze schuld war, denn er feilschte mit wilden Gesten, als ginge es um den Preis seiner Seele. Vor ihm stand sein Opfer, ein Händler, der auf den Namen Achmed hörte und der Shana bereits von seinen früheren Besuchen in der Oase Nuk bekannt war. Sein Gewand war grau vom Wüstenstaub und in seinem Gesicht zeigten sich Erschöpfungsfalten, die zusehends tiefer wurden, je länger ihr Vater auf ihn einredete. So ging es nicht weiter. Sie musste den armen Mann erlösen.
Shana trat auf die Straße und winkte Cem, der am Pferch neben dem Haus die Ziegen fütterte. »Ich bin gleich zurück.«
Ihr jüngerer Bruder nickte abwesend und Shana bahnte sich ihren Weg, durch die Marktbesucher, zu Achmeds Stand.
Als Letztes schob sie sich an Marzieh vorbei, die mit ihren sechzig Jahren zu den Ältesten in Nuk gehörte, und blickte auf den Rücken ihres Vaters. Seine Hände durchschnitten nicht länger die Luft und er wirkte angespannt, was Shana ein mulmiges Gefühl bescherte. Ihr Vater war eigentlich ein fröhlicher Mensch, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.
Ihre Unruhe wuchs, als sie Achmeds ernstes Gesicht bemerkte, der nun anstelle ihres Vaters sprach.
Shana hörte den Händlern gerne zu, wenn sie ihre Geschichten erzählten, die sie bei ihren Reisen von Dorf zu Dorf aufschnappten. Sie stellten eine willkommene Abwechslung zu ihrem eintönigen Alltag dar. Dieses Mal ließ Achmeds Miene jedoch Böses ahnen. »Ist etwas geschehen?«, fragte Shana.
Als ihr Vater herumfuhr, sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen. So hatte sie ihn bislang nur einmal erlebt, und zwar an dem Tag, an dem ihre Mutter nach Cems Geburt im Wochenbett gestorben war. »Du bist es. Ja, es ist etwas passiert. Achmed, erzähl es ihr.«
Der Händler fuhr sich über seinen Bart. »Hast du schon einmal von den Dari-Brüdern gehört, Mädchen?«
Shana schüttelte den Kopf.
»Dann kannst du dich glücklich schätzen. Sie plündern und morden sich seit einiger Zeit durch den Norden und es heißt selbst die Männer des Schahs fürchten eine Begegnung mit ihnen.«
Das klang schlimm, aber es erklärte noch nicht Vaters Besorgnis. »Aber wir haben nichts von ihnen zu befürchten, oder? In Nuk gibt es nichts zu holen.«
Achmed und ihr Vater tauschten einen Blick aus, der Shana frösteln ließ. »Weiter, Achmed«, sagte ihr Vater und
ein Schatten glitt über das Gesicht des Händlers.
»Hältst du das wirklich für gut, Ilai? Deine Tochter ist noch sehr jung …«
»Und gerade deshalb soll sie es wissen. Ich will nicht, dass meine Kinder blind in die Gefahr laufen.«
Shana benetzte ihre Lippen. Was redeten die beiden da bloß? Seit ihrer Geburt war ihr Leben in Nuk derart ruhig und beschaulich verlaufen, dass sie sich unmöglich vorstellen konnte, dass irgendein Ereignis in der Lage wäre etwas an diesem Zustand zu ändern. Sie sah zu Achmed, der geräuschvoll ausatmete. »Na gut, ich beuge mich deinem Willen, Ilai. Hör zu, Shana, diese Bande, die Daris, sie stehlen kein Gold oder andere Schätze, zumindest keine von materiellem Wert. Es ist viel schlimmer, denn sie stehlen Kinder. Jungen, um genau zu sein.«
Shanas Augen weiteten sich und sie dachte an Cem, der nichts Böses ahnend seine Ziegen hütete.
Achmed senkte seine Stimme. »Manchmal nehmen sie auch junge Frauen mit, die den Brüdern und ihren Anhängern zu Diensten sein müssen. Du siehst also, dass euer Dorf den Daris einiges zu bieten hat und jetzt gerade sind sie auf dem Weg hierher.«
Er musterte Shana voller Mitleid und seine Gedanken lagen vor ihr wie ein offenes Buch. Nicht nur Cem, sondern auch sie schwebte in Gefahr.
Shanas Magen krampfte sich zusammen. Ihr Vater redete nie mit ihr über derartige Dinge, aber ihre Nachbarin Yasmin hatte ihr erklärt, was es mit diesem zu Diensten sein auf sich hatte. Allein der Gedanke, dass dieses Gesindel sie berührte, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen.
Um sie herum ging der Handel derweil munter weiter, als würde niemand bemerken, dass tiefschwarze Wolken über Nuks Himmel aufzogen. Anscheinend hatte sich die Neuigkeit noch nicht herumgesprochen.
»Und was werden wir jetzt tun, Vater?« Ihre Stimme klang seltsam schrill in ihren Ohren.
Ihr Vater legte einen Arm um ihre Taille. »Keine Sorge, wir werden ganz gewiss nicht die Hände in den Schoß legen, wenn unsere Liebsten in Gefahr sind. Der Rat wird noch heute Abend über unser Vorgehen entscheiden.«
»Lasst euch nicht zu viel Zeit. Die Brüder wurden zuletzt in Arides gesichtet. Spätestens morgen früh werden sie hier sein, vielleicht schon heute Nacht«, sagte Achmed und Shana richtete ihren Blick in Richtung Westen, wo sich die Welt in einer endlosen Abfolge aus Sand und Steinen verlor. Bislang war die Wüste die stärkste Verbündete der Leute von Nuk gewesen. Ein natürlicher Schutzwall, heiß und lebensfeindlich, der alles Böse von ihnen fernhielt, und nun sollte ihnen ausgerechnet von dort Gefahr drohen. Eine Ironie des Schicksals.
»Geh zurück ins Haus und pass auf Cem auf, Shana. Ich sehe sobald wie möglich nach euch.«
Shana öffnete ihren Mund, um zu widersprechen. Auch sie konnte nicht einfach herumsitzen und darauf warten, dass die Daris über ihr Heim herfielen, da sollte ihr Vater sie besser kennen. Sein strenger Blick änderte ihre Meinung. »Wie du wünschst, Vater.«
Als sie zum Haus zurückging, erschien ihr ihre Umgebung auf einmal eine Spur dunkler und die lachenden Gesichter um sie herum ähnelten Grimassen. Unwillkürlich schritt Shana schneller aus.
Die Dunkelheit brach herein und eine kühle Brise wehte den Geruch von Rauch ins Zimmer. Cem lag auf seiner Bastmatte, und schlief, als ginge ihn die Versammlung und alles, was damit zusammenhing, nichts an. Shana beneidete ihn um seine Gleichmütigkeit. Sie ließ ihre Flickarbeit sinken und schlich zum Fenster. Die Schatten des Ratsfeuers tanzten auf den Mauern der umliegenden Hütten. Sie hörte die Scheite knacken, aber die Worte der Männer, die über ihr Schicksal entscheiden würden, waren zu leise, um ihren Inhalt zu verstehen.
Shana stützte ihr Kinn auf ihre Hände und blickte zum Vollmond, um den sich ein Meer aus Sternen scharrte. Sie hätte alles darum gegeben bei der Versammlung dabei sein zu dürfen, aber die Teilnahme war nun mal den Männern überlassen, alten Männern, wie ihrem Vater, die in der Vergangenheit