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Trügerische Sicherheit: Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt
Trügerische Sicherheit: Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt
Trügerische Sicherheit: Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt
eBook274 Seiten2 Stunden

Trügerische Sicherheit: Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt

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Über dieses E-Book

Die Angst vor Terror und Kriminalität treibt uns zu immer neuen und radikaleren Maßnahmen. Zu mehr Sicherheit haben sie nichtgeführt. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit unterhöhlt die Bundesregierung damit unsere Bürgerrechte, warnt der renommierte Datensicherheitsexperte Peter Schaar.

Während wir noch die rasante Verwandlung der Türkei in ein autokratisches Regime oder die weitreichenden Befugnisse der Homeland Security in den USA kritisieren, vergessen wir, dass auch in Deutschland Datenschutzstandards in Gefahr sind. Längst haben wir uns an biometrische Passbilder, die Vorratsdatenspeicherung oder an die Ausdehnung der Videoüberwachung gewöhnt - ohne jeweils den Nutzen und die Risiken solcher Maßnahmen neu auszuloten.

Schaars Beispiele belegen: Das staatliche Gewaltmonopol muss demokratisch kontrolliert werden. Ein Plädoyer, der durch Terrorangst und Terrorgefahr bewirkten Erosion der offenen Gesellschaft selbstbewusst entgegenzutreten.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Körber
Erscheinungsdatum11. Sept. 2017
ISBN9783896845283
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    Buchvorschau

    Trügerische Sicherheit - Peter Schaar

    2017

    1. Deutschland im Fadenkreuz

    Anders als zunächst befürchtet blieb Deutschland nach dem 11. September 2001 lange Zeit von islamistisch motivierten Gewalttaten verschont. Zwar hatte es einige Attentatsversuche und entsprechende Planungen gegeben. Sie scheiterten aber überwiegend am Unvermögen der Täter oder wurden von Sicherheitsbehörden rechtzeitig unterbunden. Im Jahr 2006 deponierten islamistische Täter Kofferbomben in zwei Zügen der Bundesbahn, die allerdings wegen eines Konstruktionsfehlers nicht explodierten. Die Attentäter – libanesische Staatsangehörige – wurden nach einer intensiven Öffentlichkeitsfahndung in Libanon gefasst und dort zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. 2007 folgte die Verhaftung der »Sauerland-Gruppe«, deren Mitglieder in einem Ferienhaus Utensilien zum Bombenbau gesammelt hatten. Drei Jahre später wurden die drei Hauptangeklagten wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu hohen mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 2011 erschoss ein in Deutschland aufgewachsener 21-jähriger Kosovo-Albaner auf dem Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten. Dies war der erste islamistische Anschlag in Deutschland, bei dem Menschen zu Tode kamen. Der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. 2012 scheiterte ein Attentat auf dem Bonner Hauptbahnhof daran, dass ein auf dem Bahnsteig deponierter Sprengkörper nicht explodierte. Der Hauptverantwortliche wurde im April 2017 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und kann wegen besonderer Schwere der Tat nicht mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen. Zwei Mittäter, die ebenfalls einer islamistischen Vereinigung angehörten, mussten für neun bzw. elf Jahre ins Gefängnis.

    Erst im Jahr 2016 erreichte der islamistisch motivierte Terrorismus doch mit Macht Deutschland. Am 26. Februar attackierte eine 16-Jährige deutsch-marokkanischer Herkunft am Hannoveraner Hauptbahnhof einen Polizisten mit einem Messer und verletzte ihn schwer. Das Mädchen war auf einer Türkeireise vom Islamischen Staat angeworben worden. Am 18. Juli griff ein IS-Sympathisant in einem Zug bei Würzburg vier Personen mit einer Axt an und wurde bei dem anschließenden Polizeieinsatz erschossen. Am 24. Juli zündete ein 27-jähriger Syrer in Ansbach eine Rucksackbombe, verletzte 15 Personen und kam selbst ums Leben. Der Amoklauf eines 18-jährigen Deutschen mit iranischem Migrationshintergrund am 22. Juli in München, bei dem zunächst auch ein islamistisches Motiv vermutet worden war, erwies sich als Tat eines geistig verwirrten Einzeltäters, der eher rechtsradikalem Gedankengut nahestand. Trotzdem befeuerte auch dieses Ereignis die Terrorängste in Deutschland.

    So schlimm all jene Vorfälle waren, der Anschlag am 19. Dezember 2016 stellte sie alle in den Schatten. Am Abend dieses Tages raste der Tunesier Anis Amri mit einem gestohlenen Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zwölf Menschen fanden den Tod, viele weitere wurden verletzt. Kurze Zeit nach dem Anschlag bekannte sich der IS zu der Tat. Es war der schlimmste Anschlag in Deutschland seit dem bis heute unaufgeklärten Attentat auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980, das mit großer Wahrscheinlichkeit einen rechtsradikalen Hintergrund hatte.

    Die seit mehreren Jahrzehnten laufende Aufrüstung des Sicherheitsapparats, die Vervielfachung des Personals der mit der Terrorismusbekämpfung befassten Behörden und ihre Ausstattung mit immer neuen zusätzlichen Befugnissen hat diesen ersten großen Anschlag mit islamistischem Hintergrund in Deutschland nicht verhindert. Und trotzdem waren von den Sicherheitsbehörden und aus den Regierungsparteien zunächst keinerlei selbstkritische Töne zu hören. Noch bevor die Zusammenhänge auch nur ansatzweise aufgeklärt waren, forderten Innenpolitiker der Großen Koalition, die AfD und Polizeigewerkschafter, die Sicherheitsbehörden noch weiter auszubauen und mit zusätzlichen Befugnissen auszustatten. Einen Tag nach dem Anschlag erklärte CSU-Chef Horst Seehofer: »Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.«² Bemerkenswert an dieser Verbindung von Terrorismus und Flüchtlingspolitik war, dass der CSU-Chef seine Forderung bereits erhob, als ein vorläufig festgenommener Asylbewerber der Tat verdächtigt wurde. Wenig später stellte sich heraus, dass die Polizei mit dem Flüchtling aus Pakistan ganz offensichtlich den Falschen verhaftet hatte. Kurz darauf verdichtete sich die Vermutung, dass Anis Amri, ein 28-jähriger Tunesier, die Tat verübt hatte. Seine Identitätspapiere fanden sich unter dem Sitz des Tatfahrzeugs. Er hatte sich nach der Tat mit der Bahn über Frankreich nach Mailand abgesetzt, wo er wenige Tage später in einem Feuergefecht von der italienischen Polizei erschossen wurde. Bemerkenswert ist, dass er bei seiner Flucht von mehreren Videoüberwachungssystemen aufgenommen wurde, ohne irgendwo Verdacht zu wecken. Bereits unmittelbar nach der Tat war Amri auf dem nahe am Ort des Anschlags gelegenen Bahnhof Zoologischer Garten von einer Überwachungskamera gefilmt worden. Amri habe gewusst, dass er aufgenommen wurde, vermutete eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft zwei Wochen danach, denn er habe sich sogar der Kamera zugewandt und den erhobenen Zeigefinger gezeigt, den sogenannten Tauhid-Gruß, der vor allem unter IS-Anhängern bekannt sei (vgl. Kap. 6).³

    Im weiteren Verlauf mehrten sich auch in der CDU die Stimmen derer, die einen direkten Bezug zwischen der Flüchtlingspolitik und dem Terrorismus herstellten.⁴ Vergleichbare Rufe nach schärferen Gesetzen und einem härteren Vorgehen gegen Asylbewerber und andere Flüchtlinge hörte man in den Tagen nach dem Anschlag von vielen Innenpolitikern aus den Reihen der Großen Koalition. Dass sich die sicherheitspolitischen Hardliner dabei nicht sehr um Fakten scherten, war kaum zu übersehen. Allein die Tatsache, dass es sich bei dem bzw. den Terrorverdächtigen um Asylbewerber handelte, reichte aus, in der Migrations- und Flüchtlingspolitik eine härtere Gangart einzufordern.

    In einem Zeitungsbeitrag⁵ formulierte Bundesminister Thomas de Maizière Anfang 2017 Leitlinien für »einen starken Staat in schwierigen Zeiten«. Die Sicherheitsbehörden müssten mit zusätzlichen Befugnissen ausgestattet werden. Die Vorbehalte gegen weitere staatliche Befugnisse, etwa im Bereich der Überwachung und Vorratsdatenspeicherung seien nicht begründet. »Der starke Staat muss mit den technischen Entwicklungen und Nutzungen Privater Schritt halten, sie aber auch für seine Arbeit nutzen können.« Die biometrische Auswertung durch Gesichtserkennung und die Verwendung der DNA-Analyse durch die Sicherheitsbehörden müssten »entschieden« vorangebracht werden. Überhaupt seien die rechtlichen Begrenzungen für den Einsatz von Überwachungstechnologien nicht mehr zeitgemäß, denn sie entsprächen nicht der aktuellen Bedrohungslage, die durch Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität gekennzeichnet sei. Für die Sicherheitsbehörden des Bundes forderte de Maizière zusätzliche Kompetenzen zulasten der Länder. Schließlich fehlte auch nicht die Forderung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern (vgl. Kap. 4). Der seinerzeitige SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel erklärte die Sicherheit zum »ursozialdemokratischen Thema«.⁶ Auch er sprach sich für den »starken Staat und für weitere Gesetzesverschärfungen aus: Man brauche mehr Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Abschiebehaft für Gefährder. Die Sicherheitsgesetze sowie das Ausländer- und Asylrecht müssten weiter verschärft werden. Im Grunde zeichnete sich schon bei diesen Äußerungen ab, wie das Thema Sicherheit im Bundestagswahlkampf 2017 diskutiert wird. Die Freiheitsrechte haben dabei leider keine starke Stimme.

    Der Ruf nach dem »starken Staat« überlagerte zunächst Berichte darüber, dass der Attentäter schon lange Zeit auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden aufgetaucht war, wie eine vom Bundesjustizministerium zusammengestellte Chronologie belegt.⁷ Vielen Behörden war seine Gefährlichkeit bekannt. Er war 2011 über Lampedusa nach Italien eingereist und dort erkennungsdienstlich erfasst, aber nicht im EU-weiten Fingerabdrucksystem Eurodac registriert worden. Im Juli 2015 wurde er von der deutschen Polizei wegen illegaler Einreise aufgegriffen und erneut erkennungsdienstlich behandelt. Gleich mehreren Polizeibehörden und Verfassungsschutzämtern fiel er in der Folgezeit auf: als terroristischer Gefährder, krimineller Gewalttäter, Sozialleistungsbetrüger und Drogendealer, sogar Mordverdächtiger. Die verschiedensten Behörden hatten sich mit ihm befasst, die Landeskriminalämter, die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder sowie die Staatsanwaltschaften Nordrhein-Westfalens und Berlins. Ebenso das Bundeskriminalamt, die Bundesanwaltschaft, die Bundespolizei und der Bundesnachrichtendienst. Elfmal stand der spätere Attentäter auf der Tagesordnung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ), in dem die Nachrichtendienste und die Behörden darüber konferierten, ob und wie sie gegen Amri vorgehen können – offenbar ohne Ergebnis. Dabei war spätestens seit Anfang 2016 bekannt, dass Amri »Tötungen von Ungläubigen« ausdrücklich guthieß und sich auf verschiedenen Wegen darüber informierte, wie man einen möglichst schweren Anschlag ausführen könne. Er sei »dem islamistischen Spektrum zuzuordnen, mutmaßlich Bezug zum IS«, wussten die am GTAZ beteiligten Behörden. Er wurde observiert, seine Telekommunikation überwacht und die Mobilfunkdaten ausgewertet. Die Behörden dokumentierten minutiös, dass Amri gegenüber Kontaktpersonen Planungen für ein Attentat mit Schnellfeuergewehren ansprach. Sie wussten auch, dass er im Zusammenhang mit den Anschlägen in Brüssel einen später geplanten Selbstmordanschlag mittels Sprengstoffgürtel andeutete. Die Bundespolizei, die Amri bei einer Busfahrt im Juli 2016 kontrollierte, stellte fest, dass er zwei gefälschte Identitätsdokumente mit sich führte, und ließ ihn trotzdem wieder frei. Er erhielt eine neue Identitätsbestätigung unter einem Alias-Namen (!). Das neue Identitätspapier mit den falschen Personalien fand die Berliner Polizei später im Tatfahrzeug. Warum die Behörden duldeten bzw. Amri sogar dabei halfen, seine wahre Identität zu verbergen, harrt bis heute der Aufklärung. Offenbar erleichtert kamen die Berliner Behörden im Herbst 2016 zu dem fatalen Schluss, Amri sei ein »ganz normaler Krimineller« und kein Terrorist, und stellten am 21. September 2016 die Überwachungsmaßnahmen ein. »Es entstand der Eindruck eines junges Mannes, der unstet, sprunghaft und äußerst wenig gefestigt erscheint«, heißt es in der Chronologie. Spätestens seit Anfang Oktober 2016 wussten die Behörden auch von Hinweisen aus Marokko, Amri sei Anhänger des IS und »führe ein Projekt aus«. Er habe sein deutsches Gastland als »Land des Unglaubens, das Erpressungen gegen die Brüder führe«, bezeichnet. Das Landeskriminalamt Berlin war der Auffassung, diese Mitteilung habe »keine über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgehenden Informationen« enthalten. Obwohl er ausreisepflichtig war, seinen Wohnsitz dauernd wechselte, unter verschiedenen Identitäten auftrat und mehrerer, teils schwerwiegender Straftaten verdächtig war, blieb er auf freiem Fuß. Bemerkenswert ist, dass die Polizei die Telekommunikationsüberwachung beendete, obwohl entsprechende richterliche Entscheidungen noch nicht ausgelaufen waren. Der Staatsanwalt, der die Ermittlungen leitete, wurde über die Beendigung der Überwachung nicht informiert, wie ein halbes Jahr nach den Anschlägen bekannt wurde.⁸ Dem neutralen Beobachter drängt sich der Verdacht auf, irgendjemand habe seine schützende Hand über Amri gehalten. Als schließlich im Mai 2017 herauskam, dass im Berliner LKA die den Fall betreffenden Akten manipuliert worden waren⁹, war das Versagen der Sicherheitsbehörden nicht mehr zu leugnen. Ob Amri wirklich als V-Mann für eine Sicherheitsbehörde tätig war, ob er auf andere Weise »abgeschöpft« wurde oder ob es sich »bloß« um unglaubliche Schlampereien und Fehleinschätzungen der Sicherheitsbehörden handelte, werden hoffentlich die Untersuchungsausschüsse und Sonderermittler ans Licht bringen, die inzwischen ihre Arbeit aufgenommen haben.

    Anders als zunächst vom damaligen nordrhein-westfälischen Justizminister Jäger behauptet, hätten die Behörden Anis Amri, der unter 14 verschiedenen Decknamen unterwegs war, durchaus festnehmen können – ein klares Behördenversagen. Die Gefährlichkeit des Mannes war vom Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) mit 40 Behörden von Bund und Ländern unterschätzt worden, wie auch Nordrhein-Westfalens seinerzeitige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft einräumte.¹⁰ Aus den im GTAZ ausgetauschten und den in der »Antiterrordatei« zusammengeführten Informationen wurden nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Es gab nicht zu wenig Überwachung, es mangelte auch nicht an gesetzlichen Möglichkeiten zum Einschreiten. Der Fehler bestand im unzureichenden Urteilsvermögen und der mangelnden Handlungsbereitschaft der Verantwortlichen, wie auch das parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags für die Nachrichtendienste später feststellte.¹¹

    So untätig die Behörden bei der Verhinderung des Anschlags blieben, so lautstark tönten danach die Forderungen nach schärferen Gesetzen und mehr Überwachung. Die Bundesregierung entfaltete eine ungewöhnliche gesetzgeberische Aktivität, die wenig mit den Ursachen des Anschlags zu tun hatte. In enger Taktung wurden neue Sicherheitsgesetze auf den Weg gebracht. Fragen nach der Eignung der Maßnahmen für die Terrorabwehr blieben weitgehend unbeantwortet, Kritik wurde vom Tisch gewischt. Obwohl das Behördenversagen offensichtlich war, wurde in Berlin die Gesetzgebungsmaschine angeworfen. Zwei Tage nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz beschloss das Bundeskabinett die Ausweitung der Videoüberwachung, Bodycams für Polizisten (Kameras, die an die Uniformen angeheftet werden) und automatisierte Lesesysteme für Kfz-Kennzeichen. Die Gesetzesverschärfungen waren Teil eines Sicherheitspaketes, das Bundesinnenminister de Maizière nach den Taten von München, Ansbach und Würzburg vorgeschlagen hatte.

    2. Ausnahmezustand

    Am Vormittag des französischen Nationalfeiertags, am 14. Juli 2016, kündigte der damalige französische Präsident François Hollande die Aufhebung des Ausnahmezustands an, den er 18 Monate zuvor verhängt hatte: »Wir können den Ausnahmezustand nicht für immer verlängern. Das würde keinen Sinn machen, es würde bedeuten, dass wir nicht mehr eine Republik mit Gesetzen sind, die unter allen Umständen gelten.«¹² Die Regierung hielt die Sondervollmachten nicht mehr für erforderlich, weil die Behörden mittlerweile auch ohne Ausnahmezustand über alle notwendigen Mittel zur Terrorismusbekämpfung verfügten.¹³ Wenige Stunden später war davon keine Rede mehr. Ein Selbstmordattentäter richtete am Abend desselben Tages mit einem Lastwagen auf der Promenade von Nizza ein Blutbad an, das 86 Todesopfer forderte, darunter 30 Moslems. Kurz nach der Tat bekannte sich der IS zu dem Anschlag. Die Verlängerung des Ausnahmezustands war vor allem ein symbolischer Akt, der eher dem Wahlkampf als dem Antiterrorkampf geschuldet war. Sie sollte der rechten Opposition den Wind aus den Segeln nehmen, die den sozialistischen Präsidenten im Hinblick auf die angekündigte Aufhebung des Ausnahmezustands der Feigheit vor dem Feind bezichtigt hatte.¹⁴ Wenige Tage nach dem Anschlag verlängerte die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit den Ausnahmezustand um weitere sechs Monate.

    Warum wurde in den zurückliegenden Jahren ausgerechnet Frankreich stärker als jedes andere europäische Land von islamistischen Terroranschlägen getroffen? Die Gründe dafür liegen nicht allein in den aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten. Eine Europol-Analyse¹⁵ nennt mehrere mögliche Motive:

    • Frankreich als Symbol der westlichen Kultur, der Demokratie und der Trennung zwischen Religion und Staat,

    • das starke wirtschaftliche und militärische Engagement Frankreichs in der muslimischen Welt, darunter Algerien, Irak, Libanon und Syrien,

    • die Rolle Frankreichs bei der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und bei der Abschaffung des Kalifats nach dem Ersten Weltkrieg,

    • Frankreichs starke säkulare Tradition und die Gesetze gegen religiöse Symbole, die speziell auf Muslime ausgerichtet waren,

    • die soziale und wirtschaftliche Isolation, speziell in städtischen Gebieten mit hohem Anteil an der muslimischen Bevölkerung, mit der daraus resultierenden Anfälligkeit junger Menschen für die Rekrutierung durch gewalttätige Dschihadisten,

    • die hohe Anzahl französischer Dschihadisten, die nach Syrien/Irak als ausländische Kämpfer gereist sind.

    Die Auseinandersetzung zwischen einem Teil der muslimischen Minderheit und der französischen Mehrheitsgesellschaft hatte sich in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt. Die meisten Migranten in Frankreich stammen aus Nordafrika, eine direkte Folge der Auflösung des französischen Kolonialsystems. Die damals – insbesondere im Algerien-Krieg – geschlagenen Wunden schmerzen offenbar noch immer, insbesondere weil das Thema in Frankreich nie wirklich aufgearbeitet wurde. So wäre Emmanuel Macron durch die empörte Reaktion auf sein Bekenntnis zu Frankreichs Schuld in den ehemaligen Kolonien beinahe aus dem Rennen um die Präsidentschaftskandidatur geflogen.

    Zahlreiche der inzwischen identifizierten Terroristen und ihrer Unterstützer gehören zur zweiten, dritten und vierten Generation nordafrikanischer Einwanderer. Viele leben unter prekären sozialen Verhältnissen, ohne Arbeit und ohne angemessenen Wohnraum. Zunehmende Ressentiments nicht nur gegen den Islamismus, sondern auch gegenüber dem Islam insgesamt und seine Anhänger, die in Frankreich aufgrund des Kolonialerbes einen höheren Anteil der Bevölkerung ausmachen als in Deutschland, führten den Terroristen zusätzliche Kräfte zu – ein »Teufelskreis«.¹⁶ Kleinkriminelle mit Migrationshintergrund radikalisierten sich innerhalb weniger Wochen – dies gilt auch für den Attentäter von Nizza.

    Nicht nur in den Pariser Vorstädten kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen überwiegend muslimischen Jugendlichen und der Polizei. Besonders dramatisch war die Situation bereits im Jahr 2005, dem »Schlüsseljahr«¹⁷ für die weitere Entwicklung des politischen Konflikts zwischen der französischen Mehrheitsgesellschaft und der weitgehend abgehängten muslimischen Minderheit. Als bei einer Polizeiaktion in der Pariser Banlieue zwei des Einbruchs verdächtige Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei zu Tode kamen, explodierte das Pulverfass. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen, in denen protestierende junge Muslime die faktische Kontrolle über mehrere Stadtviertel ausübten, dauerten mehrere Wochen. Deren Proteste richteten sich nicht

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