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Ich sah Königsberg sterben: Aus dem Tagebuch eines Arztes von April 1945 bis März 1948
Ich sah Königsberg sterben: Aus dem Tagebuch eines Arztes von April 1945 bis März 1948
Ich sah Königsberg sterben: Aus dem Tagebuch eines Arztes von April 1945 bis März 1948
eBook523 Seiten3 Stunden

Ich sah Königsberg sterben: Aus dem Tagebuch eines Arztes von April 1945 bis März 1948

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Über dieses E-Book

Hans Deichelmann arbeitete als Arzt in Königsberg und blieb auch nach der Einkesselung der Stadt durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 in der alten Hauptstadt der Provinz Ostpreußen. Hier verfaßte er sein Tagebuch, das das Leiden und Sterben der zurückgebliebenen Bewohner, ihren Überlebenskampf, den täglichen Terror der sowjetischen Besatzungstruppe und das Warten auf die ersehnte Ausreise schildert. Der Leser erlebt voller innerer Erschütterung mit, wie eine deutsche Stadt und ihre Kultur in wenigen Jahren für immer zerstört wurden. Von den über 125 000 Menschen,
die sich bei der Eroberung der Stadt durch die russischen Truppen noch in Königsberg befanden, überlebten nur 25 000 die drei Jahre der Gewaltherrschaft, des Hungerns und der Seuchen bis zum März 1948.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Juli 2017
ISBN9783938176603
Ich sah Königsberg sterben: Aus dem Tagebuch eines Arztes von April 1945 bis März 1948

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    Buchvorschau

    Ich sah Königsberg sterben - Hans Deichelmann

    1948

    Geleitwort zur ersten Veröffentlichung

    „Ich sah Königsberg sterben" – Kaliningrader Tagebuch eines Arztes!

    „Kaliningrad" ist die Stadt am Pregelstrand genannt worden. In unserem Herzen bleibt sie unser Königsberg. Die folgenden Blätter schildern, was aus dieser alten, seit ihrer Gründung rein deutschen Stadt in den Jahren nach der Übergabe an den russischen Sieger geworden ist. Königsberg war eine der schönsten deutschen Großstädte. Getragen von ehrwürdiger Tradition, erfüllt von Gewerbefleiß, von reichem Handel, intensivstem Verkehr und einem tief verwurzelten geistigen Leben, Mittlerin zwischen West und Ost seit 700 Jahren, ist es nicht wegzudenken aus der Gemeinschaft abendländischer Kultur.

    Aber nicht nur, was aus dieser Stadt geworden ist, künden diese Blätter. Mehr noch, was aus den Menschen wurde, den deutschen Menschen, die dort zurückgeblieben waren. Mit Erschütterung werden wir lesen, wie unvorstellbare seelische und physische Not, Angst und Hunger sie entnervt, entseelt und ihrer Menschenwürde beraubt haben. Wir werden von grauenhaften Zuständen erfahren, hervorgerufen nicht nur durch ein verfehltes Wirtschaftssystem, sondern vor allem durch eine abgrundtiefe Verachtung des Menschen und des Wertes seiner Persönlichkeit.

    Wahrlich, wenn unser Volk gestraft werden sollte, hier ist es am schwersten getroffen, hier ist es über alle Maßen gedemütigt und erniedrigt worden.

    Der Verfasser, ein Arzt, ist, dem kategorischen Imperativ der Pflicht gehorchend, nach der Einschließung in der Stadt zurückgeblieben und hat in unermüdlicher Hingabe die Ehre seines Berufes und der deutschen Wissenschaft aufrechterhalten. An der Wahrhaftigkeit seiner Schilderungen ist kein Zweifel erlaubt, der Unterzeichnete kennt ihn seit 12 Jahren und bürgt für ihn. Seine Aufzeichnungen besitzen dokumentarischen Wert.

    Der Göttinger Arbeitskreis übergibt hiermit dieses „Kaliningrader Tagebuch der Öffentlichkeit. Ihm und anderen Stellen liegen zahllose Berichte über das furchtbare Geschehen im deutschen Osten – in dem Lande der Toten – vor. Hier wird nun an dem wohl deutlichsten Beispiel und in der bis jetzt wohl ausführlichsten Darstellung gezeigt, was sich dort unter fremder „Verwaltung abgespielt hat. Es wird damit deutlich gemacht, was Europa droht, wenn das sich hier enthüllende System für den abendländischen Raum gültig werden sollte. Die Veröffentlichung richtet sich daher nicht nur an die der Heimat beraubten Ostpreußen und nicht nur an die 12 Millionen deutschen Ostvertriebenen, sondern an alle Teilhaber der Kultur des christlichen Abendlandes.

    Nicht neuen Haß will diese Veröffentlichung säen, sondern im Gegenteil zu der Erkenntnis führen, daß Unmenschlichkeit nicht neue Unmenschlichkeit erzeugen darf. Aus dieser Einsicht heraus bekennen wir uns einmütig zu den Gesetzen des göttlichen und des natürlichen Rechts. Die Welt kann davon überzeugt sein, daß wir uns nie wieder dem Vorwurf aussetzen werden, schwersten Verletzungen der Menschenwürde nicht entgegengetreten zu sein. Darum kann aber unser Volk auch seine Stimme für seine ewigen Rechte erheben und muß die Welt dafür eintreten, daß die Unmenschlichkeit, die den deutschen Ostvertriebenen zugefügt worden sind, wieder gutgemacht werden. Geschehen kann dies nur dadurch, daß ihnen das vordringlichste und teuerste aller Menschenrechte, das Recht auf die von Gott gegebene Heimat zuerkannt wird. Damit wird der sicherste Grund für einen dauernden Frieden gelegt werden: Heimat und Frieden sind eins.

    So wollen wir hoffen und vertrauen, daß aus dem furchtbaren Schicksal Königsbergs doch noch einmal ein Segen erwachsen wird. Noch immer strahlt von dieser deutschen Stadt die Mahnung seines größten Sohnes Immanuel Kant in die Welt, dem Sittengesetz in der eigenen Brust zu gehorchen. Laßt uns selbst dieser Mahnung folgen! Möchte dann auch das Weltgewissen erwachen und Königsberg nicht für immer dem Abendlande verloren sein.

    Dr. phil. h.c. Friedrich Hoffmann

    Kurator der Albertus-Universität Königsberg/Pr.

    Göttinger Arbeitskreis

    Vorwort des Verfassers

    Als ich einen Monat später, nachdem mich Kaliningrad freigegeben hatte, in dunkler Nacht die letzte Grenze überschritt, die mich von den Meinen trennte, da trug ich mit mir einen kleinen Rucksack mit ärmlichen Habseligkeiten, an mir die schäbigen Kleider, deren jedes Stück Hinterlassenschaft eines verhungerten Opfers jener Stadt ohne Erbarmen war, und in mir die unselige Last der Erinnerung an Unmenschlichkeiten, wie sie niemals je zuvor unter dem Mantel der Gleichberechtigung an Hunderttausenden von Unschuldigen begangen worden sind.

    Diese Erinnerungen sind es, die ich hier niedergeschrieben habe, nicht allein um mir eine Bürde von der Seele zu schreiben, die mir noch jetzt, viele Monate später, Nacht für Nacht quälende Gesichter schickt, sondern im Gefühl einer Verpflichtung gegenüber den stillen Schläfern in den Kaliningrader Ruinen und Massengräbern.

    Was ich hier niedergeschrieben habe, ist Wahrheit, so wahr mir Gott helfe. Doch ist es nicht die volle Wahrheit; sie war noch schrecklicher, ein Gorgonenhaupt, dessen Anblick das Herz vor Entsetzen versteinerte.

    Hinsichtlich der Daten einzelner Ereignisse können Erinnerungstäuschungen möglich sein. Damals waren in dem Gleichmaß grauenhafter Hoffnungslosigkeit die Tage für uns ohne Gesicht und Farbe, nur erfüllt vom stumpfen Warten auf das Ende, so oder so. Die Ereignisse selbst sind so, wie wir sie alle erlebt und empfunden haben. Insbesondere aber übernehme ich die volle Bürgschaft für alles, was ich an Beobachtungen aus der Leichenhalle unseres Krankenhauses niedergeschrieben habe.

    Ich erspare mit jedes Wort der Anklage gegen die Urheber jener Regelungen, durch die Ostpreußen schutzlos der völligen Vernichtung ausgeliefert wurde. Keine Propaganda der Welt kann je diese Schande auslöschen. Nur Taten vermöchten dies.

    Im September 1948

    Der Verfasser

    Mittwoch, 4. April 1945

    Seit rund 10 Wochen liegen die Russen nunmehr um Königsberg. Ein Wunder ist es, daß sie nicht schon damals hereingekommen sind. Nun liegt der Gürtel dicht um die Stadt. Die Außenforts und die Ringstraße sind wohl überall noch deutsch. Genaues erfährt man allerdings nicht darüber. Selbst damals, als wir noch die Präparate, die wir im Gut Friedrichshof II ausgelagert hatten, in höherem Auftrag bergen wollten, war es uns trotz bester Beziehungen zum Oberquartiermeister nicht gelungen, herauszubekommen, ob Friedrichshof schon russisch oder noch deutsch sei. So machten wir uns selber zur Erkundung auf. Während das Auto in der Deckung der letzten Häuser von Schönfließ stehenblieb, gingen wir die Chaussee in Richtung Autobahn. In dicken Strähnen hingen die Telegraphendrähte von den Masten in die Obstbäume hinein. In märzlicher Kahlheit liegt das Land. Auf der platten, völlig unberührten Chaussee einige Leute, mit und ohne Handkarren, die wohl in den leeren Arbeitsdienstbaracken und Verpflegungslagern Nachlese gehalten haben. Deutsche, russische, polnische Laute schnappt man im Vorübergehen auf. Endlich, da vorne, dicht beim Fort, läuft der braune Erdwall quer über die Straße. Da endet für uns Deutschland – und dahinter drohen Hammer und Sichel. Aber es heißt ja immer, daß die Russen gar nicht so schlimm seien.

    Freilich, wenn ich so die Front besehe, so kann ich mir nicht vorstellen, wie da jemand durchkommen kann, es sei denn, er werde geschickt. Drüben der russische Graben, nur wenige hundert Meter ab, Gut Friedrichshof liegt hinter der russischen Linie, und tatsächlich, dort fährt ein russisches Auto gerade an dem zerstörten Neubau vorüber aufs Gut. Na, dann brauchen wir uns nicht mehr den Kopf über unser Serum zu zerbrechen. Völlig still ist die Front, beiderseits kein Schuß, und der leichte Märznebel schluckt jedes Geräusch.

    Freilich, abends knattern überall Maschinengewehre, manchmal kläffen die Granatwerfer dazwischen, mit denen die Russen gut umzugehen wissen, überall spritzen die grünen Garben der Leuchtspurmunition, und der Himmel zuckt in unruhigem bläulichem Flackern. Hier und dort flammt ein roter Feuerschein auf. Da ist wohl wieder ein Gehöft im Niemandsland in Flammen aufgegangen, nachdem der deutsche Landser oder Iwan, wer halt gerade an der Reihe war, das letzte Heu oder Stroh daraus geborgen hatte. Und wie ein Uhrzeiger kreist mit fortschreitendem Abend der russische Propaganda-Lautsprecher um die Peripherie der Stadt; solange schweigen meist auf beiden Seiten die Waffen. Seit Metgethen und die Straße nach Pillau wieder freigekämpft sind, zweifelt auch der Harmloseste an der Wahrheitsliebe des grölenden Ansagers im Feindlautsprecher. Feldmarschall Paulus selbst, der Kämpfer von Stalingrad, will es sein. Und ab und zu meldet sich einer, der von den Russen auf Vorposten gegriffen wurde, und der nun die Herrlichkeiten der russischen Gefangenschaft in lockenden Tönen preist. Man weiß zwar, was das in Wirklichkeit bedeutet, seit man in Metgethen einen solchen armen Teufel einen Volkssturmmann von der KWS (Königsberger Werke und Straßenbahn) mit Genickschuß wiedergefunden hat. Hierdurch und durch die Flugblätter, die jedem Überläufer freie Passage und gute Behandlung zusichern, lassen sich wohl nur wenige verlocken. An diese Töne hat man sich allmählich gewöhnt, man hört gar nicht mehr hin. Nur darüber zerbrechen wir uns im engeren Kreis den Kopf: Was soll das heißen, daß die Russen behaupten, Ribbentrop sei in London? Offenbar ärgert es sie gewaltig. Sollte es doch noch so kurz vor Torschluß zum Frieden kommen? Kaum denkbar.

    Die Menschen hier sind ganz verzweifelt. Allerdings traut sich keiner, es laut zu sagen. Hier spricht man offiziell nur von „Endsieg und „Durchhalten. Von den Trümmern der Häuser prahlen Spruchzettel „Die Mauern brechen, aber unsere Herzen nicht, „Königsberg wird das Grab der Bolschewisten, „Jedes Haus eine Festung" usw. usw. Der Verfasser dieser Angebereien ist ein Student, der ebendeshalb jetzt in brauner statt in grauer Uniform einherstolziert und im Luftschutzkeller statt im Graben hausen darf.

    Innerlich ist die Einstellung bestenfalls skeptisch, meist aber spürt man die innere Gewißheit des sicheren Unterganges. Belustigend war das Ergebnis der Spinnstoffsammlung, die innerhalb der „Festung veranstaltet wurde. Da gaben die „gebefreudigen Herzen mit vollen Händen braune Uniformen in Massen ab. Die armen Volksstürmler, die in diese Tracht hineinsteigen müssen, haben natürlich nichts Eiligeres zu tun, als sich feldgraue Sachen zu „organisieren". Natürlich haben die meisten schon ihre Zivilanzüge zu Hause bereitliegen.

    In allen Parteidienststellen fließt der Alkohol in Strömen und jeder saugt dieses Narkosemittel ebenso gierig wie die Parolen, die von den erfinderischen Gehirnen der Kreis- bzw. Gauleitung in die Welt gesetzt werden. Vor allem die neuen Waffen, daneben die Fabelarmeen Himmlers, allgemein als „himmlische Heerscharen bezeichnet, werden die Situation retten. Daneben „igeln sich abgesprengte Armeen aus dem Süden Ostpreußens nach Königsberg herauf, in Norwegen hält der Führer noch 55 Divisionen untätig in Reserve, und überhaupt muß die Kurlandarmee jeden Tag eintreffen. Schließlich und letzten Endes ist die Psyche des russischen Frontsoldaten der überlegenen deutschen Lautsprecher-Gegenpropaganda nicht mehr lange gewachsen. Freilich, erwischt man die Herren einzeln, dann können ihre Reden auch anders lauten. „Man kann nicht sehen, wie wir noch siegen können; uns hilft nur noch der Glaube, sagte neulich der Gesundheitsführer zu mir, der es für seine erste Pflicht hält, die Leute „positiv aufzuladen, wie sein Lieblingsausdruck lautet. Er scheint von seinen Erfolgen bei mir nicht ganz überzeugt zu sein, denn neulich sagte er: „Deichelmann, Sie scheinen mir kein brauchbarer Nationalsozialist zu sein. Seither habe ich mich ziemlich zurückgezogen, denn ich habe keine Lust, mit durchschossener Brust und einem Schild um den Hals „Ich wollte nicht kämpfen, aber die Kugel fand mich doch oder einer ähnlichen passenden Aufschrift tot vor den Pfeilern des Nordbahnhofes zu liegen, wie jene unglückseligen Landser im Januar.

    Auch die Gauleitung ist, gelinde gesagt, skeptisch. Freilich beschwatzen sie immer noch viele armselige Frauen und Gutgläubige, denen es sowieso schwerfällt, Hab und Gut, Haus und Familie einfach stehen- und liegenzulassen und in die Kähne zu steigen, welche gelegentlich in langen Schleppzügen die kriegsdienstfreie Zivilbevölkerung nachts an den Russen vorbei durch das Frische Haff nach Peyse oder Pillau schleppen. Und die Zustände in den Lagern dort sind katastrophal. Wenn das schon der Gesundheitsführer selbst zugibt, allerdings gegen den Protest der Kreisleitung, wird man das nicht zu bezweifeln brauchen. Außerdem gibt es dort mehr Beschuß – wenigstens vorläufig.

    So bleiben die meisten in der Stadt, wo es noch Keller, Freunde, Kohlen, Lebensmittel – und Alkohol gibt. Braucht man etwas, so holt man es sich aus der nächsten leerstehenden Wohnung. Ist man Parteifunktionär, so „beschlagnahmt" man. Das Telephon geht noch und so hat man bald Freunde und Freundinnen zusammengetrommelt. Nur, das Gas ist alle. Nachdem das Gaswerk lange vergeblich auf das avisierte Kohlenschiff gewartet hatte, mußte es dichtmachen. Noch mit dem letzten Zucken der Flamme haben wir unsere Fabrikate eingeschmolzen um Vorrat zu halten. Ob wir sie durchbringen werden?

    Schön sieht Königsberg nicht mehr aus. Die Innenstadt ist ja schon durch die beiden Bombenangriffe im August 1944 weitgehend zerstört. Aber nun tritt Schlimmeres ein: Verwahrlosung. Alle Vorgartenzäune eingedrückt, zerbrochen, die Straßenbahndrähte hängen von schiefen Masten, Pferdekadaver blähen ihre gedunsene Bäuche in die Gegend, soweit sie nicht von herumstreifenden Polen- und Russenweibern ausgeschlachtet werden, überall Scherben, Müll, Granatsplitter oder Blindgänger und zerschossene Fahrzeuge. Das schlimmste aber sind die Barrikaden, die in den ersten Tagen der Einschließung aus allerlei Trümmern und sonstigem verfügbaren Material bis herab zum Reisig völlig sinnlos aufgebaut worden waren. Am Butterberg hatte man sogar eine „Barrikade aus lauter Kursmikroskopen der anliegenden Universitätsinstitute errichtet. Nun sind die Dinger mit Eisenbohlen versteift, und überall machen Frauentrupps der einzelnen Ortsgruppen unter Aufsicht pistolenbewaffneter „Goldfasanen neue. „Hier kommt der Iwan niemals durch. Aber die notwendigen Wasserlöcher werden nicht gegraben. Wie, wenn eines Tages die Wasserleitung versagt? Dafür sitzen die Männer, als sogenannter Volkssturm verkleidet, in dem riesigen Gebäude des Amtsgerichtes am Nordbahnhof tatenlos herum. Nicht einmal die armseligen italienischen Infanteriegewehre mit 5 Schuß konnte man an alle ausgeben. Als Königsberg noch nicht eingeschlossen war, hat man diese unausgebildeten, fast waffenlosen Männer zu Kompanien und Bataillonen hinausgeschickt, ohne überhaupt die Namen zu notieren. Und dann kamen die Frauen, um nach den Männern zu fragen, und niemand wußte zu antworten. Die Gauleitung selbst weiß nicht, wo ihre Männer geblieben sind. Da werden täglich lange Namenslisten von Parteiangehörigen und ähnlichen auf der Gauleitung verfaßt, die angeblich kriegsflüchtig sind und deshalb erschossen werden sollen. Sicher ist diese Aktion „kriegsentscheidend, denn würde man sonst damit ein eigenes Büro und das einzige Kurierflugzeug belasten, dessen Gebrumm uns abends immer noch das tröstliche Gefühl erweckt, daß die Verbindung mit dem Reich noch nicht ganz zerschnitten ist. Das gleiche Büro verrichtet seine kriegsentscheidende Tätigkeit pflichtgetreu weiter, trotz täglicher Berichtigungen, daß Meyer wegen Heldentodes, Müller wegen Kriegsauszeichnung im vordersten Graben, Schmidt wegen Volkssturmdienst im Amtsgericht (die Gauleitung liegt im Rundfunkhause gerade nebenan!) und Schulze wegen Arbeitseinsatz von der Liste des Vortages abzusetzen seien. Alles vorschriftsmäßig mit Aktenzeichen, Durchschlag und Wiedervorlagevermerk. (Ostpreußen bleibt eben das erste Bataillon, Garde des Führers.)

    Am meisten aber verändern die Menschen selbst das Stadtbild. Es herrscht die Uniform, oder richtiger, die Uniformen. Das Braun in seinen verschiedenen Goldbeilagen ist zwar selten geworden, das Feldgrau beherrscht alles. Aber es ist nicht mehr der drahtige deutsche Friedenssoldat, sondern der Volkssturmtyp, der vorherrscht. Die Uniform, nach Methode „Paßt! ausgesucht, hängt irgendwie am Körper, auf Vollständigkeit, Sauberkeit und richtige Knopfzahl legt keiner Wert. Waffen haben wenige und nur ein Bruchteil davon scheint mit ihnen richtig umgehen zu können. Die Wehrmachtstruppenteile sind meist bunt zusammengestoppelt, manch gute Erscheinung darunter, Männer, denen man es ansieht, daß sie zu kämpfen wissen. Unbekümmert sehen sie dem Kommenden entgegen mit der ruhigen Gewißheit des Mannes, der sich seines Wertes bewußt ist. Aber mancher von ihnen, mit Narben wie mit Orden bedeckt, hat gerade erst das Lazarett verlassen. Wird er es schaffen? Und die vielen, denen das Wort „Ersatz auf der Stirne geschrieben scheint? Daneben die Frauen, noch gesund, aber aufgeregt, mit nervösem Lachen, unruhigen Augen, vergrämten Zügen. Alles huscht von Keller zu Keller, fährt Handwagen, trägt Rucksäcke, schleppt Koffer oder Säcke.

    Wir wissen aus dem Rundfunk, daß der Westen bereits besetzt ist, daß im Osten Königsberg und Breslau noch die einzigen deutschen Stützpunkte rechts der Oder darstellen. Hat denn die Sache noch irgendeinen Sinn? Bei dem Aufgebot des „Werwolfs" ist uns ein Schauer durch den ganzen Körper gegangen.

    Aber auch mit uns kann die Sache wohl nicht mehr lange dauern. Im Süden der Stadt haben die Russen in den zwei Monaten schwere Artillerie eingebaut, die sich aber angeblich vorläufig auf Pillau einschießt. Der Heiligenbeiler Kessel ist vernichtet. Die letzten Reserven, die wir erhielten, waren die völlig erschöpften Verteidiger von Memel. Den Flüchtlingsschiffen gelingt es infolge starken Artilleriebeschusses und reger Fliegertätigkeit kaum mehr, Pillau zu verlassen. Weiß Gott, wer alles von lieben Bekannten schon sein nasses Grab in der Ostsee gefunden haben mag.

    Auch bei uns nimmt die Fliegertätigkeit zu. Es ist ungemütlich, unter dem dauernd kreisenden „U.v.D. (Unteroffizier vom Dienst) oder „Eisernen Gustav, wie der Landserjargon die lästigen Brummer bezeichnet, auf die Straße zu gehen. Immer wieder bellen sie mit Bordwaffen los. Schließlich passiert da noch etwas, wenn die da oben nicht vorsichtiger werden.

    In Pillau scheint es allerdings noch ungemütlicher zu sein. Dauernd liegt schweres Artilleriefeuer auf der Stadt, und die Leute, die hierher zurückkommandiert wurden, fühlen ungeheuchelte Erleichterung. Geschmackssache! Ich jedenfalls wäre lieber an der Küste. Königsberg ist eine Mausefalle. Aber „Befehl ist Befehl".

    Donnerstag, 5. April 1945

    Gestern haben wir wohl das letzte Mal Rundfunk gehört. Seit heut‘ sind wir ohne Strom.

    In den Vormittagsstunden, fast gegen Mittag, begann es. Immer in Gruppen von drei bis fünf Stück kamen die Feindflieger und deckten uns mit Bomben ein. Als uns die Sache lästig nahe rückte, verlegten wir unsern Dienstbetrieb in den Keller, in den einzigen ausgebauten Luftschutzraum. Zunächst war es dort ganz bohème-gemütlich. Am Rande des Raumes die Luftschutzbetten, auf die sich nun alle ausstreckten, für die es unter den obwaltenden Umständen keine Arbeit gab, dazu unser Luftschutzgepäck. In der Mitte der wacklige Holztisch und die Bank, darauf die eifrigen Arbeiter. Bald mußten sie Platz machen für das Mittagessen, das unsere pflichtgetreue Anna trotz aller Angst mutig oben auf unserer Notküche wie sonst üblich für uns alle gekocht hatte.

    Aber nun ging der Zauber los. Welle auf Welle kamen die Flugzeuge. Die Kirche neben uns war ein vorzüglicher Richtpunkt, die Straßenkreuzung nebenan ein gesuchtes Ziel. Unser Keller kam ins Schaukeln und Stampfen wie ein Schiff auf hoher See. Die Kirche wurde von zwei Bomben von oben bis unten aufgerissen. In unseren Vorgarten fielen allein fünf leichte Bomben. Merkwürdigerweise ging bei uns keine Fensterscheibe kaputt, wir hatten die Fenster geöffnet. Ersatz würden auch wir nicht mehr erhalten, trotz aller „Kriegswichtigkeit. So können wir weiterarbeiten; wenn auch der elektrische Strom weg ist, bin ich durch meinen großen Spiritusvorrat in der Lage, vom Netz unabhängig zu arbeiten. Als die Sache zu mulmig wurde, ließ ich etwas Alkohol verteilen. Die hübsche Maria mußte Laute zupfen, und so schunkelten wir im Bombentakt auf unseren Luftschutzbetten. Die Landser, die bei uns im Keller Zuflucht suchten, fanden die Geschichte urgemütlich. Aber „Besäufnis ließ ich nicht zu; vielleicht brauchen wir unsere klaren fünf Sinne griffbereit. Bei der ganzen Geschichte kein einziger deutscher Jäger in der Luft. Mir fällt ein, daß ich vor drei Wochen meinen Geburtstag damit begann, einen treuen, tapferen Mann ins Grab zu senken. Kein Zweifel, daß dieses neue Lebensjahr, wenn ich es überhaupt vollende, mir immer den Rand des Grabes offenhalten wird.

    Abends war Ruhe. Gott sei Dank, daß die russischen Flieger die Nachtruhe lieben.

    Freitag, 6. April 1945

    Heute den ganzen Tag das gleiche Theater. Gearbeitet haben wir kaum mehr. Das Personal, das nicht im Haus wohnt, kam gar nicht mehr durch. Seit dem frühen Morgen ununterbrochen Bomben und Bordwaffen. Telephonisch erfahre ich, daß im Stadtinnern alles ruhig ist. Offenbar eine konzentrische, von außen nach innen weiterrückende Bombenwalze. Ringsherum brennt alles, dazwischen haut die russische Artillerie schwere Brocken herein. Arbeiten unmöglich, auch unnötig; kein Mensch will heute etwas von uns. Am Nachmittag reißt eine schwere Bombe 20 m von uns einen Trichter von 15 m Durchmesser; das ganze Haus bäumt sich. Alles Glas im ganzen Haus kaputt, Tür- und Fensterrahmen zerrissen, Dach halb abgedeckt usw. Hier ist Weiterarbeit vorläufig unmöglich.

    Als wir abends aus dem Keller herauskrabbeln, bleibt mir nur übrig, das Dienstsiegel aus der dicken Glassplitterschicht in meinem Dienstzimmer herauszufischen und telephonisch – wunderbarerweise geht das Telephon immer noch – auf unserer Zentrale die Stillegung des Betriebes bzw. seine Verlegung in die beiden vorbereiteten Ausweichpunkte im Stadtinnern zu melden.

    Nun vollzieht sich alles programmäßig. Das Gepäck wird fertiggemacht, wir erhalten vom nächsten Hauptverbandsplatz zwei Pferdefuhrwerke, deren jedes mit der Hälfte des Personals und entsprechendem Gepäck zu einem der beiden Ausweichpunkte in Marsch gesetzt wird. Mit den empfindlichsten Geräten in der Hand folge ich mit dem Rest des Personals zu Fuß. Unter dem Geheul der Stalinorgel, die steilkurvige Feuerparabeln am Himmel beschreibt, unter dem Dröhnen der Abschüsse, dem Krachen der Einschläge suchen wir unseren Weg durch das Nachtdunkel, ständig über abgerissene Äste, herumliegende Trümmer, in Granattrichter stolpernd, bei harten Einschlägen uns hinwerfend, und erreichen kurz vor unserem Fahrzeug die Ausweichstelle. Der frisch ausgebaute Kellerraum ist voll Zuflucht suchender Menschen, mit Mühe schaffen wir uns den notdürftigsten Platz für uns und unsere Habe.

    Samstag, 7. April 1945

    Die Nacht haben wir, dicht an dicht liegend, in unserem Keller verbracht. Aber die Bombenwalze ist uns gefolgt. Rings um uns dröhnt es den ganzen Tag, und das altersschwache Haus erschüttert und bebt. Es hat gar keinen Zweck, unsere Einrichtung auszupacken. Platz haben wir sowieso nicht, immer mehr Menschen kommen in unseren Keller. Arbeiten ist unmöglich, außerdem vollkommen sinnlos, wo es dauernd zu löschen, zu retten und zu bergen gibt. Und wie leicht können wir selbst in der gleichen Minute noch durch einen Treffer gezwungen werden, das Feld zu räumen. So lasse ich unsere Einrichtung in die beiden Räume bringen, die uns selbst zugleich Wohnung und Unterschlupf bieten sollen und kontrolliere das Gelände. Wir sind jetzt noch zehn Personen, darunter drei junge Russinnen, die für Reinmachezwecke bei uns angestellt waren. In unserer anderen Ausweichstelle sind ebenso viele. Vorläufig lohnt jedoch der Versuch nicht, Verbindung mit diesen aufzunehmen, obwohl die normale Entfernung nur 5 Minuten beträgt. Das massive Betonhochhaus neben uns wird von einer Bombe aufgeschlitzt und fängt zu brennen an. Ich lasse unseren Alkohol- und Äthervorrat im Garten nebenan eingraben. Der Anbau neben uns besteht aus leichtem Bretterwerk und ist mit Dachpappe gedeckt. Weit und breit kein Tropfen Wasser. Ständig knattern die Bordwaffen aus den ganz dicht über den Dächern dahinjagenden Ratas. Gegen Abend fangen die Russen an, Brandbomben dazwischenzumengen. Richtig kommt das Haus neben unserem Anbau in Brand: alles was Hände hat, reicht in dichter Eimerkette Sand und nochmals Sand auf das Pappdach, auf das vom brennenden Haus die feurige Lohe heruntertropft. Es gelingt. Wir sind noch einmal gerettet.

    Sonntag, 8. April 1945

    Am frühen Morgen kommt ein Mann von der Ortsgruppe (der NSDAP) von Keller zu Keller und bringt den Befehl, daß alle abkömmlichen Leute sich zu Fuß Richtung Pillau in Marsch setzen sollen. Nur einer von uns entschließt sich, packt und rückt schweigend ab, während wir dumpf weiterdösen. Am Morgen hören wir dann, daß die Sanitäts-Fahrzeuge des Verbandsplatzes dicht nebenan um 6 Uhr noch nach Pillau durchgekommen zu sein scheinen, während die Fahrzeuge, die eine halbe Stunde später fuhren, umkehren mußten, weil sie noch innerhalb Königsbergs auf wahnsinnigen Beschuß, offenbar durch Feindpanzer, gestoßen seien.

    Am Vormittag entwickelt sich das gleiche Getöse wie gestern: Sprengbomben, Brandbomben, Bordwaffen, stürzende und brennende Häuser. Vor dem Haus ein Verpflegungswagen zerschossen, alles deckt sich mit Konserven ein. Ich gehe, immer an die Häuser gequetscht, in Sprüngen mich vorarbeitend, zu unserer zweiten Ausweichstelle. Die Straße voller Splitter, Granatlöcher, Blindgänger, dazwischen ein explodierter Munitionswagen, dessen Pferde mit glasigen Augen tot in den Hexensabbat blicken, Rauch, Qualm, Fliegersurren und das Geknatter der Bordwaffen. Ich finde alles wohlauf. Verhältnisse wie bei uns selbst. Ich arbeite mich mit etwas privatem Gepäck wieder zurück. Im Nachbarbunker, mit dessen Insassen wir befreundet sind, einige Verschüttete. Ich erfrische mich mit einem Schnaps und höre, daß die Russen etwa auf der Linie Kinderklinik – Ostpreußenwerk stehen sollen. So trennen uns etwa 300 bis 500 m von Hammer und Sichel. Abends siedeln wir in den Hauptverbandsplatz nebenan über. Meine Leute erweisen sich dort als recht nützlich. Alle Viertelstunden werden Zivilisten direkt vor dem Hause auf der Straße verwundet. Im Keller zahlreiche Frauen und Kinder, niemand hat das Herz, sie auszuweisen. Außerdem etwa 200 Verwundete. Der Abfluß zum Lazarett stockt, ist angesichts des starken Beschusses und der Überfüllung der in Betracht kommenden Lazarette eine Unmöglichkeit. Auch ich mache mich nützlich.

    Montag, 9. April 1945

    Schon in aller Frühe werde ich durch Gemurmel geweckt, dem ich entnehme, daß der Hauptverbandsplatz die weiße Flagge aufgezogen habe. Aus den Berichten der eintreffenden Verwundeten erfahren wir, daß die HKL (Hauptkampflinie) jetzt bis auf etwa 300 m an uns herangerückt ist. Das Feuer aller Waffengattungen brüllt ständig in unserer unmittelbaren Nähe. Allerdings hält der Divisionsarzt der für unseren Abschnitt zuständigen Division eisern darauf, daß die deutschen Kampfgruppen, die sich in unserer Nachbarschaft einnisten wollen, hier nicht Fuß fassen. Nach internationalen Vereinbarungen dürfen im Umkreis von 100 m um einen Hauptverbandsplatz keine Kampfgruppen eingesetzt werden, wenn anders das Rote Kreuz vom Feind respektiert werden soll. Der Divisionsgeneral deckt die Durchführung dieser Bestimmung in preußischer Exaktheit. Tatsächlich erhält unser großes Gebäude keinen direkten Beschuß. Abgesehen von einzelnen Treffern, die an der massiven Hauswand zerplatzen, herrscht bei uns Ruhe. Immer wieder über uns das Geheul tieffliegender steilkurvender Ratas. Aber das Bombardement hat aufgehört, die Front ist zu nahe gerückt.

    Die Kellerräume des großen Gebäudes, in dem die 200 Verwundeten, der Operationssaal, das Sanitätspersonal, die Küche, kurz alles Lebenswichtige untergebracht sind, füllen sich immer mehr mit Frauen und Kindern. Ein Volkssturmmann wird von meinen Leuten auf einer Trage aus üblem Beschuß von der Straße hereingeholt. Linke Wade total zerfetzt. Er entpuppt sich als ein bekannter Königsberger Rechtsanwalt. Mit Mühe entwinden wir ihm die Pistole, mit der er jetzt, wo der erste Schock vorüber ist, mit seinem Leben Schluß machen will. Alle mitgebrachten Waffen der Verwundeten werden in einen besonderen Raum gebracht; von der Pistole bis zum MG und der Panzerfaust türmen sie sich dort zu einem beträchtlichen Berg. Ein Trupp Verwundeter empört sich über unsere weißen Flaggen an den beiden Kellereingängen. Es bedeute Verrat, wenn dicht hinter dem Rücken der kämpfenden Truppe an Übergabe gedacht werde. Das Sanitätspersonal arbeitet und arbeitet. Die Ärzte und das Operationspersonal halten sich nur noch mit unheimlich viel Tassen unheimlich starken Kaffees und mit maßlos vielen Zigaretten auf den Beinen. Auch ich erhalte von

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