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Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts
Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts
Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts
eBook756 Seiten10 Stunden

Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts

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Über dieses E-Book

Im frühen 18. Jahrhundert formulierte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz eine grundlegende Frage, welche die Menschheit seit ihrem Anbeginn begleitet hat: Warum gibt es Übel in der Welt? Woher kommt das Böse? Diese Fragestellung, auch als Theodizee-Thematik bekannt, ist bereits seit der Antike ein wesentliches Moment menschlicher Gesellschafts- und Identitätsbildung sowie der metaphysischen Welterklärung gewesen. Während das Böse zwar im Kern gewissermaßen gleich bleibt, erhält es dennoch ständig neue Gesichter und durchläuft historisch und kulturell bedingte Metamorphosen. Mit der im 19. Jahrhundert sich verstärkt manifestierenden Säkularisierung kommt es nicht etwa zu einem bloßen Schwund der Religion, und damit auch der klassischen Metapher des Teufels, wohl aber zur Ablösung der christlichen Welterklärung in ihrer monopolistischen Position. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Einer davon liegt in den dramatischen gesellschaftlichen Umwälzungen im Europa des 18. Jahrhunderts, welche im 19. Jahrhundert von sozialen Veränderungen im Kontext einer zunehmend industrialisierten Welt gefolgt werden. Diese wird darüber hinaus mehr und mehr wissenschaftlich erklärbar, so dass man sich fragen darf, was in einer solchen säkularisierten Umgebung aus einer an sich metaphysischen Größe wie dem Bösen wird.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2014
ISBN9783826080234
Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts

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    Buchvorschau

    Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Bea Klüsener

    5Bibliographie

    1) Einleitung

    Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert formulierte der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz eine grundlegende Frage, welche die Menschheit seit ihrem Anbeginn begleitet hat: Warum gibt es Übel in der Welt? Woher kommt das Böse?1 Diese Fragestellung, seit Leibniz auch als Theodizee-Thematik bekannt, ist bereits seit der Antike ein wesentliches Moment menschlicher Gesellschafts- und Identitätsbildung sowie der metaphysischen Welterklärung gewesen, wie man den vielfältigen Gewandungen der Frage sowie den sehr unterschiedlichen Antworten entnehmen kann. Diese können unter anderem philosophischer und theologischer Natur sein, wobei die christliche Religion mit der Figur des Teufels ein einflussreiches und lange Zeit wirksames Symbol hervorgebracht hat, welches in einer langen Tradition anderer Erklärungen der Existenz des Übels steht. So zeigt ein Blick auf die Ideengeschichte des Bösen, dass dieses in der Vergangenheit mit sehr unterschiedlichen Attributen versehen worden ist.2 Während also das Böse zwar im Kern gewissermaßen gleich zu bleiben scheint, erhält es scheinbar dennoch ständig neue Gesichter und durchläuft historisch und kulturell bedingte Metamorphosen.3

    Mit der im 19. Jahrhundert sich verstärkt manifestierenden Säkularisierung kommt es nicht etwa zum „bloßen Schwund"4 der Religion, und damit auch des klassischen Symbols des Teufels, wohl aber zur Ablösung der christlichen Welterklärung in ihrer monopolistischen Position, wie man in Anlehnung an Thomas Luckmann formulieren kann.5 Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Einer davon liegt in den dramatischen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen im Europa des 18. Jahrhunderts, welche im 19. Jahrhundert gefolgt werden von sozialen Veränderungen im Kontext einer zunehmend industrialisierten Welt. Diese wird darüber hinaus mehr und mehr wissenschaftlich erklärbar, so dass man sich fragen darf, was in einer solchen säkularisierten Umgebung aus einer metaphysischen Größe wie dem Bösen wird.

    Die vorliegende Arbeit geht dieser Frage mit Blick auf das England des 19. Jahrhunderts als einem Ort und Zeitraum sich rasant vollziehender Säkularisierung nach, indem sie Darstellungen des Bösen in der englischen Erzählliteratur dieses Jahrhunderts vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund analysiert und deutet.6 Dabei kristallisieren sich vier Konzepte heraus, welche einen Teil der mannigfaltigen Erscheinungsformen des Bösen im gegebenen Zeitraum erklärbar machen sollen – obschon ein solches Modell natürlich immer nur eine Verallgemeinerung darstellt, was allein schon dadurch begründet ist, dass notwendigerweise nur eine Auswahl an Texten exemplarisch behandelt werden kann.

    Bei dem ersten der hier vorzustellenden und zu diskutierenden Konzepte handelt es sich um das dem romantischen Kontext zuzuordnende Phänomen moralischer Ambivalenz als Produkt romantischer Intertextualität. Dieses Konzept ist stark an die revolutionären Ereignisse im Europa des 18. Jahrhunderts gebunden, diskutiert das Phänomen der Rebellion gegen die bestehende Ordnung auf der ästhetischen Ebene und stilisiert, ästhetisiert und relativiert das Böse dabei. Damit spiegelt dieses erste Konzept die Erschütterung etlicher bis dahin als gültig erachteter Werte wider.

    Einer solchen nahezu verklärten moralischen Diffusität setzt der Viktorianismus ein striktes Korsett an Normen sowie zunächst vor allem auch eine pragmatisch-ökonomische Sichtweise der Welt entgegen, welche wiederum eine idealistische Gegenwehr zu dem letztlich der Industriellen Revolution geschuldeten „social evil" hervorruft, wie es sich etwa in wachsenden Kriminalitätsraten offenbart. Eine derartige sozialkritische Lesart des Bösen betont den Einfluss der Umwelt auf die soziale Genese und Fehlleitung des Individuums und wird insbesondere nach den Veröffentlichungen der Schriften Darwins zur Evolutionstheorie sowie mit wachsendem gesellschaftlichen Krisenbewusstsein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr biologisiert. Kriminalität, Armut und Verbrechen werden biologisch gedeutet und sollen nicht mehr länger durch Unterstützung der sozial Schwachen, sondern vielmehr durch deren Abwertung und wissenschaftlich scheinbar legitimierte Bekämpfung abgebaut werden. Biologische Ideen vom Verbrecher werden in der frühen Psychologie, der Phrenologie, der Kriminalanthropologie, aber auch der Degenerationstheorie formuliert und als wissenschaftlich präsentiert. Aufgrund des engen Zusammenwirkens sozialer und biologischer Erklärungsmuster soll in diesem Zusammenhang vom soziobiologischen Konzept des säkularisierten Bösen gesprochen werden.

    National sah sich die britische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert unter anderem durch soziale Spannungen, hohe Kriminalitätsraten und innere Unruhen bedroht. Daran hatte neben den genannten Faktoren das Aufbrechen traditioneller genderspezifischer Rollenmuster im Zuge des Erstarkens der Frauenrechtsbewegung einen nicht unerheblichen Anteil. International kam die Erschütterung der britischen Identität durch die Erfahrung von Interkulturalität hinzu, welche die Notwendigkeit einer Verteidigung des kulturellen Selbstbildes suggerierte. Mit Blick auf diese doppelte Konfrontation mit Andersartigkeit – einerseits intern in Form sich nicht genderrollenkonform verhaltender Individuen, andererseits extern in Form des ethnisch definierten Fremden – soll das Konzept genderspezifischer und ethnisch definierter Alteritäten als Projektionsflächen des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts diskutiert werden.

    Das Ende des 19. Jahrhunderts bringt erneut ein Aufbrechen des zeitweise als beständig betrachteten Wertesystems, wenn Künstler wie Walter Pater und Oscar Wilde Moral aus der Kunst verbannen, damit in gewissem Sinne romantische Topoi wiederaufleben lassen und das Tor zu einer modern anmutenden moralischen Pluralität aufstoßen. Damit ist das vierte der darzustellenden Konzepte gegeben, nämlich die erneute Relativierung des Bösen zur reinen Formsache.

    Die eingangs mit Leibniz gestellte Frage nach einer Begründung der Existenz des Bösen wird im Kontext des 19. Jahrhunderts nicht einfach, sondern vielfach thematisiert, diskutiert und auf verschiedene Weise beantwortet. Diese Antworten anhand literarischer Texte herauszuarbeiten, zu kontextualisieren und zu erklären, ist Thema der vorliegenden Arbeit, die auf der Basis einer „kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft" agiert, wie sie in Kapitel 2 skizziert wird. Aufbauend auf einem im gleichen Kapitel dargestellten kurzen Überblick über eine Ideengeschichte des Bösen wird sodann in Kapitel 3.1 das erste Konzept der moralischen Ambivalenz als Produkt romantischer Intertextualität anhand zweier prominenter romantischer Romane – Mary Shelleys Frankenstein, or the Modern Prometheus sowie Charles Robert Maturins Melmoth the Wanderer – erörtert. Kapitel 3.2 zeigt Grundlagen eines soziobiologischen Konzeptes des säkularisierten Bösen im Kontext des 19. Jahrhunderts auf und illustriert die Verwobenheit sozialkritischer und biologistischer Diskurse anhand zweier Beispiele des Sozialromans – Edward Bulwer-Lyttons Paul Clifford und Charles Dickens’ Oliver Twist – sowie dreier Schauerromane, nämlich des anonym veröffentlichten Sweeney Todd, Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde und Bram Stokers Dracula. Bereits die in Kapitel 3.2 diskutierten Romane beherbergen sowohl ungehorsame Frauen als auch exotische Bedrohungen, wie sie dann in der Darstellung des Konzeptes der genderspezifischen und ethnischen Alteritäten in Kapitel 3.3 explizit anhand von Charlotte Brontës Jane Eyre, Henry Rider Haggards King Solomon’s Mines und She sowie Sheridan Le Fanus Carmilla, aber auch anhand von Joseph Conrads Heart of Darkness weiter ausgeführt werden. Die Rückkehr zu einer moralischen Ambivalenz in der Kunst wird in Kapitel 3.4 mit Blick auf die Bewegung des Ästhetizismus anhand von Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray besprochen.

    Da der Roman gerade im Victorian Age die dominierende Gattung darstellt, wird der Schwerpunkt der Untersuchung auf eben diese und angrenzende Gattungen gelegt. Es wurden Erzähltexte ausgewählt, die aus heutiger Sicht zum Teil zu den „Klassikern" der englischen Literatur zählen, aber es sind auch Texte bearbeitet worden, die nicht oder nur am Rande Teil des Kanons sind. Dies soll dazu dienen, die Praktikabilität der vorgeschlagenen Typologie vorzuführen, ohne dabei einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zu erheben.

    Wie hier bereits deutlich wird, gibt es Überschneidungen zwischen allen vier Konzepten, welche den Konstruktcharakter dieser Kategorisierungen unterstreichen, aber auch ihre heuristische Anwendbarkeit auf die Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts vermuten lassen. So soll versucht werden, mit ihrer Hilfe die Frage nach den säkularisierten Gesichtern des Bösen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts zu beantworten. Diese, so sei die These dieser Arbeit, bleiben letzten Endes trotz aller Metamorphosen metaphysisch im Sinne von welterklärend, sind allerdings nicht länger zwingend christlich definiert, sondern eher allgemein religiös im Sinne einer Bindung durch Sinnstiftung bzw. Welterklärung.7

    1Vgl. Leibniz (1996).

    2Vgl. Häring (2003: 66).

    3Vgl. Berner (2004: 73) und Schmidt-Biggemann (1993: 7).

    4Knoblauch (1991: 18).

    5Vgl. Luckmann (1991). Dies soll keineswegs über die Bedeutsamkeit christlicher Überzeugungen für Kultur und Literatur des 19. Jahrhunderts hinwegtäuschen. In dieser Arbeit liegt der Fokus jedoch auf säkularisierten Erklärungen des Bösen, die christliche Konzepte zwar nicht zur Gänze ablösen, aber immerhin parallelisieren.

    6Im Folgenden wird, die wohl üblichste Bezeichnung verwendend, von der „englischen Erzählliteratur" gesprochen.

    7Vgl. Luckmann (1991: 93 ff.).

    2) Methodik und Terminologie

    2.1 Kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft1

    Die vorliegende Arbeit untersucht die zu einer bestimmten Zeit in einer gegebenen Gesellschaft existenten Konzepte des Bösen, indem sie literarische Texte auf eben diese Konzeptionen hin analysiert und vor dem diskursiven Hintergrund des 19. Jahrhunderts zu erklären versucht. Diese Aussage impliziert einen methodischen Zugang, der verschiedene Ansätze vereint. Deshalb seien einige Worte zu den theoretischen Grundlagen und der hier angewandten Methodik gesagt.

    Für die vorliegende Analyse wird ein kulturwissenschaftlicher Ansatz verwendet. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass sich aufgrund der engen Zusammenhänge zwischen den zu untersuchenden Texten und ihren spezifischen zeitgenössischen Bedingungen und Voraussetzungen ein kontextualisierendes Vorgehen anbietet, ohne dabei jedoch den künstlerischen Eigenwert der einzelnen Texte zu ignorieren. Die vorliegende Arbeit agiert vor diesem Hintergrund auf der Basis der Idee einer kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft, die Kultur zunächst als die Klammer betrachtet, die die „Gesamtheit der Lebensbekundungen, der Leistungen und Werke"2 einer Gesellschaft umfasst. Solche Lebensbekundungen einer Kultur können sich zum Beispiel in Politik, in Wissenschaft und der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschichte in einer Art kollektiver Historiographie offenbaren.

    Teil einer Kultur sind weiterhin Prozesse der Identitätsbildung, die einerseits in Variationen eines Selbstbildes sowie andererseits in die Erschaffung von kollektiven Fremdbildern münden können. Letztere repräsentieren oftmals in einer Kultur existente Ängste, die wiederum Teil eines gesellschaftlich generierten Wertesystems sind, das die Mitglieder dieser Gemeinschaft prägt. Zu diesen gehören natürlich auch Künstler, wie etwa literarische Autoren. Diese sind ebenso wie die Rezipienten ihrer Werke Teil des Netzwerks, als das Kultur hier verstanden wird, und stehen in ihrem kreativen Schaffen unter dem Einfluss ihrer Umgebung. Literatur ist damit kulturelles Produkt, kann aber auch eine Art Rückwirkung entfalten, wenn sie rezipiert wird und Einfluss auf die Mitglieder einer Kultur ausübt. Dies betont auch Jauß, wenn er die „gesellschaftsbildende Funktion der Literatur"3 hervorhebt. Damit schließt sich der Kreis, so dass man sagen kann: Literatur ist – im Sinne einer kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft – ein kulturelles Produkt mit Rückwirkung.

    Somit handelt es sich hier zunächst um einen konstruktivistischen Zugang, da davon ausgegangen wird, dass Kultur ein Konstrukt ist, innerhalb dessen die sich zugehörig fühlenden Mitglieder Sinn und darüber hinaus ihre Lebenswelt generieren. Wird Kultur als Produkt einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit begriffen, so lässt sich unter anderem auf die Theorien Siegfried J. Schmidts verweisen,4 welcher der Auffassung ist, dass bei der Betrachtung von Literatur nicht nur der Text an sich, sondern auch andere Faktoren zu berücksichtigen seien, zu denen er etwa „Rezipienten, Institutionen, Kommunikationsformen und Medien5 zählt und den Text damit als Teil eines sozialen Systems konzeptualisiert. Dem liegt eine kommunikationswissenschaftliche Überlegung zu Grunde, nach der Kommunikation nicht nur als Informationsaustausch verstanden wird, sondern als „parallele Informationskonstruktion im kognitiven Bereich kommunizierender Individuen.6 So erschaffen „lebende Systeme durch Interaktion vergleichbare Realitätskonstrukte […] oder ‘soziale Bereiche’ […]."7 Innerhalb dieser Bereiche findet abermals Kommunikation statt, die mit gemeinsamen Handlungen einhergehen kann:

    Wenn Mitglieder einer Gruppe von lebenden Systemen eine gemeinsame Realität und damit einen Bereich sinnvollen Handelns und Kommunizierens erzeugt haben, und wenn sie auf ihn bezogen interagieren, dann entsteht ein ‘soziales System’. [...] [Hier findet sich] die Basis der Entstehung von sozialer Realität, von Sinn und Bedeutung.8

    Literatur wäre in diesem Zusammenhang Mittel und gleichzeitig Ausdruck der Informationsverarbeitung im Individuum für einen kollektiv geteilten Rahmen.

    Herbert Grabes hält Kultur für „an immaterial construct of signification"9, was erneut den konstruktivistischen Gedanken hervorhebt. Geht man dann mit Nünning und Sommer von einem „semiotischen, bedeutungsorientierten und konstruktivistischen Kulturbegriff"10 aus, so wird Kultur

    als ein von Menschen erzeugtes Gebilde von Vorstellungen, Denkund Empfindungsweisen aufgefasst. Wichtig für ein Verständnis von Kulturen sind insbesondere Werthierarchien, die sich in Symbolsystemen unterschiedlicher Art manifestieren und das Denken und Empfinden von Menschen prägen11 –

    wobei sich eines dieser Symbolsysteme in literarischen Texten findet.12

    In Anlehnung an Roland Posner kann man in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen einer materialen, einer sozialen und einer mentalen Dimension von Kultur vornehmen.13 Spiegeln sich in der mentalen Dimension – obschon auch nie wirklich gänzlich einsehbar – Denk- und Empfindungsmuster sowie auch sinnstiftende Prozesse und entsprechende Wertvorstellungen einer Kultur, so werden diese doch erst mittels der materialen sowie der sozialen Ebene realisiert.14 Während zur materialen Dimension zum Beispiel durch den Geist ihrer Urheber geprägte literarische Texte und Kunstwerke im Allgemeinen gehören, ist weiterhin auch die soziale Praxis nicht zu vernachlässigen, da hier zeitgenössische Denkweisen mit Hilfe gesellschaftlicher Institutionen umgesetzt werden.15 Allerdings gehen die komplexen Wechselwirkungen auch so weit, dass bestimmte gesellschaftliche Einrichtungen auf die mentale Dimension Einfluss nehmen und gleichzeitig auf die materiale Ebene einwirken.16 Basierend auf diesen Überlegungen stellt Literatur einen wesentlichen Teil der materialen Dimension von Kultur dar, da sie „mentale Dispositionen, Gefühle, Denk- und Wahrnehmungsweisen in herausragender Weise erkennbar"17 werden lässt. Dabei spiegelt Literatur zeitgenössisches Denken nicht nur wider, sondern gibt darüber hinaus Aufschluss über das kulturelle Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung einer bestimmten Epoche, welche sich selbst in Literatur thematisiert. Kulturelles Wissen wird – so impliziert dieser Ansatz – unter anderem in textuellen Artefakten zum Ausdruck gebracht und kann durch eine Analyse dieser Texte vor dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung erarbeitet werden. Somit kann man unter Rückgriff auf Vera Nünning und Herbert Grabes den selbst-reflexiven Charakter von Kultur unterstreichen, da sie zum einen in ihrer Kunst zum Ausdruck kommt und zum anderen durch sie geformt oder doch zumindest in ihr diskutiert werden kann.18

    Aus diesem Grunde geht es bei der Untersuchung literarischer Werke und Phänomene auch um ein Erfassen des Verhältnisses von Text und zeitgenössischem Kontext und damit auch zeitgenössischer Rezeption, „because both individual literary works and the various kinds of literary discourse and worldmaking have been produced and received within changing cultural frames […]."19 Allerdings soll im Zuge dessen nicht der „ästhetische Eigenwert"20 eines Textes vernachlässigt werden, was mit Blick auf die vorliegende Arbeit mittels einer gleichzeitig textorientierten und kontextualisierenden Untersuchungssystematik gelöst wird.

    Will man den Gesichtern des Bösen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts mittels ihrer literarischen Darstellungen auf die Spur kommen, so befasst man sich mit textuellen Symbolen. Diese geben einerseits Aufschluss über existierende Wertesysteme, sind aber andererseits auch ein aktiv formender Teil solcher diskursiv ausgehandelten und gesellschaftlich konstruierten Normen, da sie eine Rückwirkung auf zeitgenössische Denkweisen entfalten können. Aus diesem Grunde zielt diese Arbeit darauf ab, die Symbolik der genannten Texte zu entschlüsseln, zu erklären und in ihrer diskursiven Vernetzung zu betrachten. Zu diesem Zweck scheint die kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft ein geeignetes Instrumentarium bereitzustellen.

    2.2 Das Böse – ein kurzer ideengeschichtlicher Abriss bis zum 19. Jahrhundert

    Der Versuch eines ideengeschichtlichen Überblicks hinsichtlich eines solchen Begriffes wie des Bösen führt zur Konfrontation mit einer Vielfalt an Texten, Definitionen und Beispielen. Gleichzeitig findet sich eine gewisse Diffusität, da das Verständnis einer solch generellen Größe wie dem Bösen je nach Kontext und definitorischer Quelle stark variiert. In einem Beitrag über das Böse in der christlichen Tradition erklärt der Theologe Hermann Häring zutreffend:

    Das Böse gehört zu jenen Begriffen, die niemandem unbekannt sind; gerade deshalb wird es je nach religiösen oder philosophischweltanschaulichen Akzentuierungen oder Ausgangspunkten verschieden definiert, etwa als das, was nicht sein soll, was zerstört, als Mangel an Sein oder als Nichts, als Endlichkeit oder als gegengöttliche Wirklichkeit, als Schein oder als Schmerz, als Geschick oder frei gewollte Verfehlung, als von Gott verfügtes Menschheitsverhängnis oder als frei gewollte Sünde; es wird ontologisiert, moralisiert oder dämonisiert.21

    Verschiedene Ansätze für ein Verständnis des Bösen sind hier gegeben. Zunächst einmal verweist die Auffassung des Bösen als das, „was nicht sein soll, auf eine ethische Lesart. Auch wird bereits der biblisch sowie über die Apokryphen belegbare destruktive Charakter des Bösen als das, „was zerstört, angedeutet. Darauf wird – unter Einbeziehung der relevanten Textstellen – noch einzugehen sein. Im Platonismus, bei Augustinus und bei Thomas von Aquin besteht das Wesen des Bösen in „Mangel" oder Einschränkung, während Leibniz es im Rahmen seiner Theodizee als Übel zur Erreichung des Guten diskutiert. Ontologie und Metaphysik begreifen das Böse als den Bereich des Seins, der dem Guten entgegengesetzt ist und in dem das Böse Leid und Unglück bedeutet, womit es als „gegengöttliche Wirklichkeit" in Erscheinung tritt. Im Spannungsfeld von Freiheit und Determination ergibt sich weiterhin die Frage nach der Beteiligung der menschlichen Subjekte am Bösen, wobei der freie Wille des Menschen bei Leibniz oder Kant durchaus partieller Verursacher des Übels ist.

    Beschäftigt man sich mit der biblischen Präsentation des Bösen, so sind verschiedene Quellen von Interesse, wobei die Bibel in den kanonischen Texten der jüdischen Tradition „zunächst ein allgemeines und elementares Alltagsverständnis von Schlechtem, Schädlichem oder Ungesundem"22 liefert. Die Bibel bietet als die Personifizierung des Bösen die Figur des Teufels an, welcher mit den unterschiedlichsten Namen benannt wird – „diabolos, Satan (hebräisch: der Widersacher, Verfolger, Feind), der Versucher, Belial / Beliar, Beel Zebul, Samael, Azazel, Drache, [alte] Schlange, Mastema, Malkiresha, der [böse] Feind […]."23

    Zentral ist mit Blick auf das Alte Testament die Erzählung vom Sündenfall, welche schließlich in die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies mündet. Genesis 3, 1-24, liefert hier die entsprechenden Textpassagen. Die Schlange tritt in ihrer Funktion als Versucher auf und zeichnet sich durch besondere – wenngleich auch negativ belegte – Intelligenz aus, da sie als „more subtle than any beast of the field which the Lord God had made"24 beschrieben wird. Die Versuchung besteht im Versprechen gottgleicher Erkenntnis, womit das Vergehen Adams und Evas dem des gefallenen Engels gar nicht unähnlich ist, wie noch aufgezeigt werden wird. Das Angebot der Schlange gestaltet sich nämlich wie folgt: „For God doth know that in the day ye eat thereof, then your eyes shall be opened, and ye shall be as gods, knowing good and evil."25 Als Gott bemerkt, dass sein Verbot missachtet worden ist, vertreibt er das Menschenpaar und verhindert ihre Rückkehr in den Garten Eden.26

    Da insbesondere die Apokryphen das Böse recht plastisch darstellen und die Ereignisse um die Abwendung des Teufels von Gott ausführlich präsentieren, sei auf diese Schriften ebenfalls eingegangen.27 Sie konfrontieren den Leser mit einer Art Fortsetzung der Geschichte vom Sündenfall. Es ist nämlich noch nicht damit getan, dass die beiden ersten Exemplare der Gattung Mensch das Paradies verlassen haben, sondern sie müssen sich in ihrem neuen Dasein mit harter Arbeit plagen. Das „Book of Adam and Eve" aus den Apocrypha and Pseudoepigrapha of the Old Testament stellt hier zusätzliches Material bereit. Nach ihrer Vertreibung fristen Adam und Eva ein karges Dasein auf Erden. Um Gott von ihren ehrbaren Intentionen zu überzeugen, erlegen sich sowohl Adam als auch Eva diverse Bußen auf.28 Bald strebt der Teufel wieder danach, Adam in Versuchung zu führen. Nachdem Adam dies abgewehrt hat, versucht der Teufel sich erneut an Eva, die sich zuvor bereits als für die Insinuationen der Schlange empfänglich erwiesen hat. So lockt er sie erfolgreich von ihrer Buße fort und weidet sich an ihrer Verzweiflung, als ihr schließlich aufgeht, wer sie in Gestalt eines Engels abermals vom rechten Weg abgebracht hat. Adam befragt daraufhin Satan nach seinen Motiven und erfährt von dessen Vertreibung aus dem Himmelreich, verursacht durch seine Hybris angesichts der Schöpfung Gottes, weshalb er Adam in der Narration „The Fall of the Devil für das ihm widerfahrene Leid verantwortlich macht: „Adam! all my hostility, envy, and sorrow is for thee, since it is for thee that I have been expelled from my glory, which I possessed in the heavens in the midst of the angels and for thee was I cast out in the earth.29 Luzifer berichtet daraufhin von der Erschaffung Adams und Gottes Aufforderung, diesen anzubeten: „God the Lord spake: Here is Adam. I have made thee in our image and likeness.30 Satan versagt die Anbetung, denn: „I am his senior in the Creation, before he was made was I already made. It is his duty to worship me.31 Die anderen Engel aus Satans Gefolge verweigern aufgrund dieser Reaktion ihres Anführers ebenfalls den Gehorsam, so dass Michael schließlich mit Gottes Zorn droht und der Teufel als „rebellischer Engel32 nicht etwa Furcht, sondern eine gewisse Hybris zeigt33: „If he be wrath with me, I will set my head above the stars of heaven and will be like the Highest.34 Somit nennen die Apokryphen als Motiv für das Handeln des Teufels den Neid auf Adam und das Menschengeschlecht im Allgemeinen, das ihm seine Position streitig gemacht zu haben scheint.35 Auch tritt hier der Aspekt der Überheblichkeit des Teufels hervor, die ihn dazu treibt, sich gegen Gott aufzulehnen und so seine Verstoßung aus dem Reich Gottes zu bewirken. Dieser Aspekt wird später etwa für die Autoren der englischen Romantik interessant, da hier das Motiv des Rebellentums hervorgehoben wird.

    Kehrt man nach diesem Exkurs in die Apokryphen zu den Präsentationen des Bösen zurück, welche in die Bibel aufgenommen worden sind, so stellt das Buch Hiob eine aufschlussreiche Variante vor. Day bezeichnet es gar als eines der herausragenden Bücher der Bibel, in dem ein an sich integrer Mann, Hiob, trotz seines gottesfürchtigen Lebens auf die Probe gestellt und zum Leiden verurteilt wird.36 Satan tritt hier in seiner Rolle als Ankläger37 als Teil des göttlichen Plans38 auf und erläutert Gott gegenüber, Hiob sei nur in der Lage, ein so gottgefälliges Leben zu führen, da es ihm an nichts mangle.39 Würde man ihm all das nehmen, so verhielte es sich mit seinem Glauben auch anders – „The satan is implicitly challenging Yahweh’s world order; if the righteous always prosper, how can it be ascertained that their behavior is not motivated by material gain?40 Vor diesem Hintergrund erhalten die Leiden, die Hiob zu erdulden hat, eine ganz neue Bedeutung. Sie sind theoretisch geeignet, die Angemessenheit der bestehenden Weltordnung zu widerlegen oder auch zu bestätigen.41 Hiob verliert seinen weltlichen Besitz, seine Kinder und Freunde und ruft schließlich Gott an, sich ihm zu stellen, um herauszufinden, weshalb ihm all dies geschieht.42 In dem sich anschließenden Dialog zwischen Gott und Hiob führt Gott seinen Diener durch die Natur, um ihm zu zeigen, dass es ihm als Mensch nicht gegönnt ist und dass er darüber hinaus auch gar nicht in der Lage ist, den Lauf der Welt wahrhaftig zu begreifen. Im Kontext dieser Naturbetrachtung findet der Leviathan Erwähnung und dient als Beispiel dafür, dass der Mensch nicht fähig ist, es mit den Plänen Gottes und den Geheimnissen seiner Schöpfung aufzunehmen:43 „Canst thou draw out Leviathan with an hook? or his tongue with a cord which thou lettest down? Canst thou put an hook into his nose? […] Lay thine hand upon him, remember the battle, do no more.44 Die Werke Gottes sind also hier für den Menschen unbegreiflich. Das Wirken des Teufels als Teil des göttlichen Plans bleibt ebenso rätselhaft für den Menschen, der sich damit zufrieden geben muss, Teil der Schöpfung zu sein und sein Schicksal nur bedingt bestimmen zu können. Die Darstellung des Bösen als Teil der göttlichen Werke findet sich auch später etwa in Goethes Faust oder in Maturins Melmoth the Wanderer, wo der Teufel ebenfalls zwar als Gottes Widersacher, jedoch durchaus als Teil des göttlichen Plans in Erscheinung tritt.45

    Zu einer Ideengeschichte des Bösen gehört auch ein Exkurs in die Philosophie der Antike. Diese zeigt die Welt mit Blick auf Sokrates und Platon als einen Kosmos, bestehend aus einer guten und vernünftigen Ordnung. Hier ist das Böse eine Art Unvollkommenheit, wie Religionswissenschaftler Siegfried Vierzig schreibt: „Es ist Mangel und Defekt, eine unvollkommene und fehlende Teilhabe an der immer gleichen, zeitunabhängigen Vernunft. Das irrational Böse wird zu einem zeitweiligen Defekt rationalisiert."46 Ähnlich verhält es sich in der Stoa, welche dem Bösen gegenüber gelassen bleibt, da kein Zweifel an der vernünftigen Ordnung der Dinge dadurch verursacht werden kann.47 In der Gnosis erhält das Böse wiederum mehr Gewicht: Hermann Häring erläutert, das Christentum sei seit dem ersten Jahrhundert in eine gnostisch bestimmte Welt hineingewachsen, in der „Heil und Erlösung in innerer Erleuchtung48 gelegen hätten. Die physische Natur des Menschen sei im Rahmen einer durch die Gnosis propagierten Leibfeindlichkeit, wie Theologe Petr Pokorný schreibt49, eher abgewertet worden, worauf das Christentum etwa schon früh mit der Ausprägung des Eremiten- und Mönchdaseins reagiert habe: „Gott nah zu sein, das hieß mit harter Verachtung das Leibliche zu züchtigen und Höchstleistungen der Askese zu vollbringen.50 Das Böse, so der Tenor, entspringe aus Körperlichkeit und Sinnlichkeit.51 Dualistisch wird hier so argumentiert, dass es sich bei der irdischen Existenz um etwas handle, von dem es sich zu befreien gelte, wolle man Erlösung erlangen – „Sie [die Gnosis] ist eine religiöse Haltung, die glaubt, den Menschen erlösen zu können. Sie hat zum Ziel, durch Trennung von der Welt den Menschen in die verloren geglaubte himmlische Heimat zurückzuführen."52

    Ein interessanter Ansatz, welcher auch später immer wieder aufgegriffen wird, taucht in den Überlegungen des Ambrosius von Mailand (339-397) auf, der dem Bösen seine ontologische Qualität abspricht und somit davon ausgeht, dass es kein eigenes Sein habe, sondern sich vielmehr in einem Mangel an Sein manifestiere. Dem Bösen fehle jedwede positive Qualität, womit es ontologisch keinerlei Wertigkeit an sich besitze. Damit sei das Böse nicht von Gott geschaffen, da alles von Gott Erschaffene gut sei. Das Fehlen von etwas Gutem charakterisiere also das Böse, so wie das Fehlen von Gesundheit die Krankheit. Allerdings könne sich hinter diesen Ausbildungen des Bösen im Mangel etwas Positives verbergen, wie etwa eine Krankheit zu einer langfristigen Stärkung der Gesundheit beitragen oder der Schmerz das Leben schützen könne, da er dem Menschen als Warnsignal diene.53

    Um die Wende vom fünften zum sechsten Jahrhundert stellt der Kirchenvater Augustinus weitere Beiträge zur Frage nach der Natur des Bösen bereit.54 Nachdem er selbst einige Jahre dem manichäischen dualistischem Weltbild verhaftet gewesen ist, setzt er sich auch weiterhin kritisch mit der irdischen Existenz des Menschen auseinander und reflektiert dabei das Böse vor dem Hintergrund der Geschichte, welche für ihn aus einer Vielzahl solcher Ereignisse besteht, die für den Menschen Leid bedeuten. Augustinus versteht Geschichte als Kampf zwischen der Gemeinschaft Gottes und der des Teufels, oder auch zwischen Gottesund Teufelsstaat, der civitas diaboli, wie er sie in De Civitate Dei beschreibt.55 Deutlich kann hier nachvollzogen werden, wie zeitgenössische Ereignisse die Auseinandersetzung mit dem Bösen formen können, denn, wie Hermann Häring bemerkt: „Konkreter Anlass zu diesen Überlegungen wurden für Augustinus die Erschütterungen des Reiches durch die Einfälle neuer Völkerschaften aus dem Norden sowie die altheidnische Überzeugung, nur die Rückkehr zur alten Religion könne Rettung bringen.56 Bezüglich des Bösen stellt Augustinus fest, dass es das Individuum nicht etwa unbedingt von außen angreifen müsse, sondern es vielmehr von innen heraus zu korrumpieren in der Lage sei.57 Der Grund dafür liege in der Macht des Bösen, der die Menschen nicht widerstehen können und so „in freier Bejahung dieser Unfreiheit von innen her erliegen.58 Dies habe Adam ins Verderben gestürzt und damit auch den Rest der Menschheit.59 Allerdings gebe es die Hoffnung auf Erlösung durch den Glauben und die Kirche.60 Auch deutet sich bei Augustinus bereits eine Denkweise an, welche letzten Endes auf die Theodizee-Frage hinausläuft, wie Leibniz sie später stellt. So geht Augustinus davon aus, dass die Anzahl der Geretteten jener der von Gott abgefallenen Engel entspricht61, was letzten Endes ein hohes Maß an deterministischer Prädestination impliziert, da es nur einer bestimmten Anzahl von Seelen bestimmt ist, Errettung zu finden. Evans fasst diesen Aspekt wie folgt zusammen: „Ultimately, evil is irrelevant. God takes it into his plan for the universe and makes it work for him."62

    Thomas von Aquin (1225-1274) stellt im Mittelalter eine umfassende Analyse des Bösen vor und sieht es im Spannungsfeld eines Mangels an Gutem, menschlicher Willensfreiheit und der Erbsünde realisiert.63 Er versucht dabei, wie später auch Leibniz, Gott vor dem Verdacht der „Unzulänglichkeit"64 zu schützen und zu diesem Zweck das Übel dem menschlichen Mangel an Perfektion zuzuschreiben.65

    Zudem sieht man sich im Mittelalter mit einer Fülle von angeblichen Manifestationen des Bösen konfrontiert, wobei etwa Mystik und Volksfrömmigkeit eine Rolle spielen, wenn es zum Beispiel darum geht, Hexen und Dämonen abzuwehren.66 Das Böse erhält in der Mystik eine konkretisierte Auslegung und wird mit der Erfahrung von Verzweiflung, Einsamkeit und Qual assoziiert.67 Einschlägige Namen wären diesbezüglich etwa Mechthild von Magdeburg (1207-1282), Meister Eckhart (1260-1328) und später auch Teresa von Ávila (1515-1582).68 Die bereits erwähnte Volksfrömmigkeit stellt eine weitere Facette der „Bosheitserfahrung"69 dar:

    So stabilisiert sich – neben und innerhalb christlich reflektierter Religiosität – ein neuer Kosmos der Bosheitserfahrung von destruktiver Sprengkraft; es ist für unsere Begriffe eine Welt des Irrationalen und der Magie. Dieses [drückt] sich in Schutz- und Beschwörungshandlungen (in Segens- und Fluchworten, in Vorsichtsmaßnahmen und unheilabweisenden Symbolen) [aus] […].70

    Das Böse ist dabei einerseits übernatürlich, in Form von Hexen und Dämonen, jedoch andererseits auch im Irdischen verortet.71 Personen, Tiere oder Orte können befallen sein, und das Böse wird auch im Alltag stetig in Form von kleinen Ritualen im Voraus bekämpft, um so eine potenzielle Heimsuchung zu verhindern.72 Der Umgang mit Ketzern durch die Inquisition, wie er etwa mit der Kreuzzugseuphorie im 11. und 12. Jahrhundert einhergeht, stellt hier ein Beispiel dar. Diese Projektion des Bösen in die Mitglieder verschiedener Personengruppen findet unter anderem Ausdruck in der Hexenverfolgung, die im 16. und 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Der Teufel ist hier – als Anführer der Hexenmeute – überaus präsent und Häring erklärt: „Die Rede vom Teufel ist in der christlichen Tradition ein typischer Fall der Interaktion zwischen Religion und Kultur."73

    Bereits Luther hatte Praktiken kritisiert, mit denen die Kirche das Böse auszugleichen versuchte und sich gegen die Ablasspraxis als Ausweg aus individueller Schuld gewandt:74 „Jetzt stand jedes Individuum in einer unmittelbaren Begegnung vor Gott."75 Luther und auch Calvin folgern, dass es letztlich Gott sei, der den Einzelnen errette oder auch verdamme. Dieser ist entweder verurteilt oder er wird errettet, kann aber selbst nicht viel dazu beitragen.76 Gleichzeitig habe er individuell um seine Seele zu kämpfen, indem er ein gottesfürchtiges Leben führe.77

    Damit liegt eine bis ins 18. Jahrhundert wirkende Streitfrage bezüglich des Bösen vor. Leibniz diskutiert 1710 in diesem Kontext den Begriff der Theodizee als Rechtfertigung Gottes.78 Er geht davon aus, dass Gott ohne jede Frage allmächtig, allwissend und allgütig ist, räumt allerdings ein, dass es Übel in der Welt gibt.79 Um dieses Dilemma aufzulösen, nimmt Leibniz an, dass es sich bei der vorliegenden Welt immerhin um die beste aller möglichen Welten handle und dass „dieses Universum besser sein muss als jedes andere mögliche Universum."80 Gott hätte zwar auch eine Welt ohne Übel erschaffen können, da er als göttliche Instanz keinerlei Einschränkungen unterliege. Der beste Entschluss sei allerdings, so Leibniz, nicht immer derjenige, welcher das Übel gänzlich vermeide, da ein Übel ein größeres Gut bewirken könne.81 Eine solche Unvollkommenheit könne also durchaus zur Perfektion des Ganzen beitragen. Hier besteht eine Parallele zu den Ausführungen des Augustinus, welcher dem Bösen ebenfalls einen festen Platz in Gottes Schöpfung einräumt.

    Leibniz überträgt das in der frühen Neuzeit behandelte Problem von Freiheit und Determinismus auf Gott und stellt diesen als eine Art Uhrmacher82 dar, wie Bernd Gräfrath schreibt: „Gott überschaut vorab (genauer: vor aller Zeit), wie sich alle möglichen Welten in all ihren räumlichen Ausmaßen und in ihrem gesamten zeitlichen Ablauf darstellen; und aufgrund dieser Übersicht wählt er eine bestimmte Welt und damit auch einen bestimmten Weltlauf."83 Innerhalb dieses Weltlaufes existieren gewisse Übel, welche gegen das Gute des Gesamtbildes abzuwägen sind. Das physische Übel besteht im Leiden der Geschöpfe, das moralische Übel findet sich in Vergehen und Sünden, beziehungsweise in der Ungerechtigkeit der Welt, und das metaphysische Übel schließlich zeigt sich als Unvollkommenheit in Form von Unregelmäßigkeiten im Universum. Die beiden ersten Arten von Übeln werden also notfalls in Kauf genommen, wenn es darum geht, metaphysische Güter zu erlangen. Leibniz akzeptiert ein hohes Maß an Determination für sein bestes Universum, löst diese Problematik allerdings damit, dass er erläutert, die Geschöpfe könnten sich – rein hypothetisch – zu jedem Zeitpunkt frei für das Gute oder das Böse entscheiden.84

    Dieser optimistische Entwurf aus Leibniz’ Feder findet bei seinen Zeitgenossen durchaus Zuspruch und führt zu einer weiteren Diskussion der Theodizee-Thematik etwa in Voltaires Candide. Hermann Häring erläutert die Theodizee-Thematik in ihrer Ausgestaltung bei Voltaire wie folgt: „Nach allem Scheitern beginnt der Held, seinen Garten zu bestellen. Das ist eine Art praktischer Theodizee, die aus der Lage eben das Beste macht, indem sie die Situation mit eigener Arbeit verbessert."85

    Auch Immanuel Kant thematisiert das Böse im Zusammenhang mit dem freien Willen der Geschöpfe. Rüdiger Bittner stellt in seinem Materialienstand Kants handschriftliche Notizen zum Thema des Bösen als Teil der menschlichen Natur zur Verfügung, welche sich als recht aufschlussreich erweisen. Das Individuum verfüge über die Möglichkeit der Bosheit und könne entsprechende Neigungen entwickeln. Hier verbirgt sich möglicherweise die bereits Adam und Eva bekannte Versuchungsthematik:

    Die allgemeine Gebrechlichkeit besteht nicht in bösen Neigungen, sondern in der großen Möglichkeit derselben, böse zu werden. Das ist der Hang der Neigungen zu Bösem, ehe die Neigungen böse sind. Würde bei der Vergrößerung aller Neigungen die Moralität auch wachsen, so bliebe alles gut.86

    Aufgrund eines aber offensichtlich bestehenden Ungleichgewichts können sich die bösen Neigungen entwickeln. Allerdings unterstellt Kant dem Menschen keinerlei unmittelbare Neigung zum Bösen, sondern geht vielmehr davon aus, dass es in der menschlichen Natur liegt, das Gute zu lieben: „Das Böse zieht er aus Verleitung mit innerem Widerwillen vor. Da sind die Keime des Guten, im gleichen die Triebfedern, die es begleiten können: Hochachtung und Liebe anderer."87 Dann wiederum sieht Kant den Menschen als nur durch eine Art Gesellschaftsvertrag disziplinierbar an: „[…] jedermann ist von Natur aus böse, und nur sofern gut, als er unter einer Gewalt steht, die ihn nötigt, gut zu sein.88 Es gibt allerdings Hoffnung, da der Mensch seine Triebfedern zum Guten entwickeln kann, was Häring zu der Bemerkung veranlasst, es handle sich hier um einen eher praktisch orientierten Ansatz: „Kant macht auch deutlich, dass jeder Theodizeeversuch scheitern muss, und fordert mit dem Begriff der ‘authentischen Theodizee’ Akte intellektueller Redlichkeit statt blinden Glaubens ein.89 Moral benötigt nämlich – nach Kant – ein oberstes formales Prinzip, bei dem es sich um den vernünftigen, allgemeinen, gesetzgebenden Willen handelt.90 Letztlich läuft es darauf hinaus, dass Kant im Kategorischen Imperativ den Schritt vom Selbst zum Anderen vollzieht und damit einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Debatte um das Böse leistet, indem er einen wichtigen Aspekt zu dessen Bekämpfung einbringt.

    Das Böse soll in der hier vorliegenden Arbeit basierend auf den zuvor getätigten Ausführungen wie folgt verstanden werden: Zunächst einmal offenbart es sich auf einer Mikroebene in den bösen Taten des Individuums, welche anderen Individuen Schaden zufügen. Außerdem stellt es auf einer Makroebene eine gesellschaftlich konstruierte Größe dar, welche in einem sozialen System ideologisch instrumentalisiert werden kann.91 Zweck dieser Instrumentalisierung kann es dabei sein, eine bestehende Ordnung durch die Exklusion und Dämonisierung des „Bösen zu gewährleisten oder auch durch den spielerischen Umgang mit den Kategorien des „Guten und des „Bösen" kritisch zu hinterfragen.

    2.3 Stand der Forschung und Vorgehensweise

    Die Untersuchung des Bösen liegt naturgemäß vielfach in der Hand der Theologie. Jedoch hat sich auch die Literaturwissenschaft diesem Thema zugewandt. Viele der einschlägigen Untersuchungen befassen sich relativ speziell mit der Darstellung des Bösen innerhalb ausgewählter einzelner Gattungen, Epochen oder in den Werken bestimmter Autoren. Ein Blick in die einschlägige Forschungsliteratur zeigt, dass das Böse als Untersuchungsgegenstand nie gänzlich unattraktiv gewesen ist. Gerade seit der Wende zum 21. Jahrhundert nimmt die Anzahl an Publikationen, die sich mit dieser Thematik befassen, wieder zu. Das Böse scheint gegenwärtig eine Art Renaissance zu erleben, die als Konsequenz aus dem „ethical turn" oder doch zumindest als Begleiterscheinung desselben aufgefasst werden mag.

    Als ein relativ frühes Beispiel für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung des Bösen wäre etwa Jürgen Kleins Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen von 1975 zu nennen, in welcher der Autor die ästhetische Dimension des Bösen im englischen Schauerroman zu dessen Hochzeit zwischen 1764 und 1820 diskutiert.92 Auch Chitra Pershad Reddin blickt in ihrer Monographie von 1980 auf Erscheinungsformen des Bösen im englischen Schauerroman und untersucht seine Darstellung in der gothic novel, indem sie sich einiger bedeutsamer Autoren dieses Genres annimmt, zu denen unter anderem Horace Walpole, Ann Radcliffe, Matthew Gregory Lewis, Mary Shelley und Charles Robert Maturin zählen.93 Damit deckt sie einen ähnlichen Zeitraum ab wie Jürgen Klein. Beide Darstellungen konzentrieren sich auf den eigentlichen Schauerroman und setzen kurz nach der Publikation von Mary Shelleys Frankenstein eine Zäsur.

    Franz Wieselhuber wählt als Basis seiner Untersuchung von 1976 eine andere Gattung. So konzentriert er sich auf die Manifestation des Bösen in der viktorianischen Lyrik und untersucht das Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik in ausschließlich lyrischen Texten dieser Zeit.94 Rudolf Villgradter wiederum spezialisiert sich 1970 auf die Darstellung des Bösen in den Romanen George Eliots.95 Beide Texte liefern damit zwar interessante Beiträge zur Erforschung des Bösen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, allerdings arbeitet Wieselhuber vornehmlich im Bereich der Lyrik, während Villgradter in der Spezialisierung auf die Werke George Eliots deren Darstellung des Bösen eruiert.

    Andere Untersuchungen sind gattungsübergreifend gestaltet. In Literature and Evil unterzieht George Bataille 1985 unter anderem ausgewählte Texte Franz Kafkas, Emily Brontës sowie William Blakes einer näheren Betrachtung und fragt nach den Darstellungsmodi des Bösen in diesen Werken.96 Batailles Abhandlung beinhaltet die Betrachtung mehrerer Genres und sucht nach Mustern in der Präsentation des Bösen in Verbindung mit dem zeitgenössischen Hintergrund der behandelten Autorinnen und Autoren. Dazu ist zu bemerken, dass Batailles Arbeit komparatistisch angelegt ist, insofern als sie literarische Texte aus unterschiedlichen europäischen Literaturen behandelt, dass sie aber auf die englische Literatur des 19. Jahrhunderts nicht im Detail eingeht.

    In den späten 80er Jahren wird es vorübergehend stiller um das Böse als Forschungsgegenstand der anglistischen Literaturwissenschaft, bis dieses in den 90er Jahren wieder größere Präsenz zu erhalten scheint. In Alexander Schullers Sammelband Die andere Kraft: Zur Renaissance des Bösen97 ist in zahlreichen Beiträgen von einer Renaissance des Bösen die Rede, welche sich freilich in der Literaturwissenschaft erst kurz vor der Jahrhundertwende bzw. um das Jahr 2000 durchzusetzen scheint.

    Colin McGinn stellt in Ethics, Evil, and Fiction von 1997 umfangreich dar, was das Gute ausmacht und wie ein „evil character" im literarischen Text zu generieren ist, um dann mit Analysen zweier Romane, nämlich Frankenstein und Dorian Gray, zu schließen.98 Damit bewegt auch McGinns Betrachtung sich im 19. Jahrhundert, ohne allerdings intensiv auf weitere literarische Beispiele für die Ausgestaltung des Bösen zwischen dem frühen und dem späten 19. Jahrhundert einzugehen. Vielmehr geht es McGinn wohl darum, seine eingangs aufgestellten, allgemeineren philosophischen Thesen über das Böse anhand dieser beiden literarischen Texte zu belegen.

    Silke Singhs Arbeit von 2002, Historische Wandlungen der Personalisierung des Bösen in der englischen Literatur, untersucht die Erscheinungsformen des Bösen anhand der Werke Shakespeares, zweier Texte des englischen Schauerromans sowie anhand von Dorian Gray, Dracula und Interview with the Vampire.99 Hier wird ein großer historischer Zeitraum abgedeckt, es wird mit Texten verschiedener Gattungen gearbeitet und mit dem zuletzt genannten Text auch ein amerikanischer Roman einbezogen. Die literarische Bandbreite des 19. Jahrhunderts wird hier allerdings nicht erfasst, was wohl auch nicht der Absicht der Autorin entsprochen haben dürfte, da es eher um einen groß angelegten historischen Überblick zwecks besserer Untersuchung diverser Wandlungen gegangen zu sein scheint.

    Immer mehr wenden sich einschlägige Untersuchungen auch der Umsetzung literarischer Stoffe in anderen Medien zu: So betrachtet zum Beispiel Gloria Cigman in ihrer 2002 erschienenen Monographie Exploring Evil Through the Landscape of Literature vor allem filmische Realisierungen der Präsentation des Bösen.100 Auch Jamey Heits Band Vader, Voldemort and Other Villains: Essays on Evil in Popular Media von 2011 geht in diese Richtung, wenn Vampire, „verrückte Wissenschaftler" und Magier in den hier inkludierten Analysen auftauchen.101

    Peter A. Schock diskutiert 2003 die satanische Romantik und stellt dabei die These auf, die Autoren dieser Zeit, im Speziellen Blake, Shelley und Byron, bedienten sich einer Verklärung des Teufels, um über dieses Mittel in ihrer Kunst ihr zeitgenössisches kulturelles Umfeld einerseits zu erklären, andererseits aber auch kritisch zu hinterfragen. Da alle drei Autoren allerdings verschiedene Genres bedient haben, kann auch hier nicht von einer Analyse gesprochen werden, welche auf eine bestimmte Gattung festgelegt ist.102 Vielmehr wird ein zeitlich begrenztes, literaturgeschichtliches Phänomen, nämlich das der romantischen Dichtung, vor dem Hintergrund seines zeitgenössischen Kontexts untersucht.

    Nils Kulik befasst sich mit Erscheinungsformen des Bösen in der Gattung des Romans, wobei er sich speziell auf Kinder- und Jugendliteratur konzentriert. Kulik wählt einen größeren Zeitraum und untersucht in seinem 2005 publizierten Text Das Gute und das Böse in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur unter anderem Romane von J.R.R. Tolkien und Joanne K. Rowling auf ihren Umgang mit dem Bösen.103 Orson Scott Card hinterfragt in seinem Beitrag zu Stephen K. Georges Sammelband Ethics, Literature, Theory 2005 das generelle Verhältnis von Literatur und dem Bösen als Teil eines literarischen Textes, wobei er sich Tolkiens Lord of the Rings zuwendet, allerdings ansonsten eher allgemein philosophisch bleibt.104 Er unterscheidet drei Arten des Bösen in der Literatur – „depicted, advocated and enacted"105 – und diskutiert deren Wirkung auf den Leser.

    Gattungs- und zeitübergreifend arbeitet 2007 Ronald Paulson, der in Sin and Evil: Moral Values in Literature die Entwicklung der beiden Begriffe von der Antike bis ins 20. Jahrhundert untersucht und dabei unter anderem das Werk von Charles Dickens und Joseph Conrad anspricht, aber nicht im Detail auf die Bandbreite der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts eingeht.106 In dem 2009 von Jürgen Achilles und Ina Bergmann herausgegebenen Sammelband Representations of Evil in Fiction and Film befasst sich Norbert Lennartz anhand von Edward Rochester, Alec d’Urbervilles, Dorian Gray, Lord Henry und Lord Darlington mit der Darstellung des viktorianischen Bürgerlichen als Repräsentant des Bösen.107 Damit findet sich hier ein abermals gattungsübergreifender Forschungsbeitrag, der zwar Texte behandelt, die ausschließlich aus dem 19. Jahrhundert stammen, die aber nicht das gesamte 19. Jahrhundert repräsentieren, da sie der Phase des Viktorianismus entnommen sind.

    Überaus erwähnenswert mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist Peter-André Alts 2010 erschienene Monographie zur Ästhetik des Bösen, in der er einen gattungsübergreifenden Querschnitt zur Darstellung des Bösen von der Antike bis zur Gegenwart zieht, dabei das 19. Jahrhundert in Großbritannien allerdings nicht im Detail behandelt.108 Vielmehr beleuchtet Alt das breite Spektrum der Darstellung des Bösen in verschiedenen europäischen Literaturen.

    Weiterhin existieren auch solche Untersuchungen, die sich insbesondere der Diskussion der Darstellung des Bösen in den Werken bestimmter Autoren verschrieben zu haben scheinen. Raymond T. McNally und Radu R. Florescu widmen sich in ihrer Untersuchung von 2001 vornehmlich Robert Louis Stevensons Roman Dr. Jekyll and Mr. Hyde und versuchen, eventuelle Vorbilder für Stevensons Narration zu finden.109 Alexander Bidell betrachtet in seiner Monographie aus dem Jahre 2003 das Konzept des Bösen in John Miltons Paradise Lost und kommt zu dem Schluss, dass das Böse hier Teil der kosmischen Ordnung sei.110 Auch Claire Colebrook befasst sich 2008 mit Milton und seiner Darstellung des Bösen im Kontext seiner Zeit.111

    Wie bereits angemerkt, ist die Zunahme einschlägiger Veröffentlichungen zum Thema des Bösen seit der Wende zum 21. Jahrhundert bemerkenswert. Dies mag, wie bereits erwähnt, unter anderem auf den „ethical turn zurückführbar sein. Todd F. Davis und Kenneth Womack sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer Wiederkehr eines „ethical criticism.112 Unter dem „ethical turn113 sei eine Hinwendung der Literaturwissenschaften zu ethischen Fragestellungen zu verstehen. Hier eröffne sich ein großes Spektrum an Möglichkeiten des „ethical criticism von textorientierter Arbeit an textimmanenten ethischen Fragestellungen, von leserorientierter Analyse der ethischen Dimensionen eines Textes mit Blick auf dessen Wirkung auf und Rezeption durch sein Publikum, aber auch von der Frage nach der Person des Autors, dessen Text hier Aufschluss über Wertvorstellungen des Verfassers geben können soll.114 Auch Wayne C. Booth befasst sich mit „ethical criticism und schreibt, es sei nur natürlich, dass gerade die Literaturwissenschaft sich damit beschäftige, denn schließlich beinhalte letzten Endes fast jeder literarische Text ethische Fragestellungen.115 Martha Nussbaum formuliert „A Defense of Ethical Criticism und behauptet, der Prozess des Lesens sei immer eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragen.116 Daniel R. Schwarz meint, ein Text stelle auch den Schlüssel zum Wertesystem einer gegebenen zeitlichen Periode dar, die der Autor mimetisch abbilde, aber auch künstlerisch verfremde. Die Aufgabe des Kritikers bestehe darin, sich die im Text abgebildeten ethischen Strukturen zu erschließen und ihre Bedingungen sowie ihre Wirkung zu prüfen.117

    Macht es sich ein Zweig der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Aufgabe, auch ethische Fragestellungen zu behandeln und in ihren zahlreichen Dimensionen herauszuarbeiten, so liegt die Untersuchung des Bösen gar nicht mehr allzu fern. Diese an sich metaphysische Größe rückt im Kontext eines „ethical criticism fast automatisch wieder in den Fokus des Interesses – handelt es sich doch bei der Ethik um eine philosophische Teildisziplin, welche menschliches Handeln untersucht, auf philosophischem Wege beurteilt und normativ eine Einteilung in „gut oder „schlecht zu treffen bemüht ist. Literaturwissenschaft dürfte im Zuge eines sogenannten „ethical turn aus diesem Grunde ebenfalls an den Prozessen der Generierung, der Darstellung und der Diskussion solcher Größen wie dem „Guten und dem „Bösen im literarischen Text interessiert sein – und ist es offensichtlich auch.

    Diese Betonung ethischer Aspekte in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung mag erstaunen – handelt es sich doch bei der Postmoderne vermeintlich um eine Periode, welche wenig Sinn für metaphysische Spekulationen hat. Dennoch scheint die Frage nach der Natur des Bösen sowie nach den Gründen seiner wie auch immer gearteten Existenz in der Welt, wie auch Terry Eagleton meint118, das postmoderne Individuum nicht loszulassen – handelt es sich hier doch um eine Größe, mit der gespielt werden kann oder vor der man sich entsetzen kann, die man allerdings immer zu verstehen bemüht ist.119 Die Frage nach der Natur des Bösen scheint dabei fast zeitlos, obschon ihre Antworten variieren.

    Gerade an diesem letzten Aspekt setzt die vorliegende Arbeit ein. Das 19. Jahrhundert kann aufgrund der Kombination wirtschaftlichen und vor allem wissenschaftlichen Fortschritts sowie daraus resultierender sozialer Veränderungen als ein Zeitalter der Säkularisierung verstanden werden. Die Bedeutsamkeit theologischer Perspektiven auf das Böse soll keineswegs geleugnet werden. Allerdings liegt das Hauptaugenmerk hier auf säkularisierten Erklärungsmusten des Bösen. Einhergehend mit dem Prozess der Säkularisierung wird auch das Böse im europäischen Kontext des 19. Jahrhunderts zunehmend nicht mehr nur theologisch analysiert und verortet, sondern in verschiedene Bereiche ausgelagert und in unterschiedlichen Kontexten mit Bedeutung belegt und diskutiert. Das Phänomen der Säkularisierung bringt, wie Hubert Knoblauch unter Rückgriff auf Thomas Luckmanns Theorie von der „unsichtbaren Religion" schreibt, folgende Entwicklung mit sich:

    […] weltanschauliche Sinndeutungssysteme politischer, ökonomischer und ‘wissenschaftlicher’ Provenienz treten mehr und mehr an [...] [die] Stelle [der Religion]. Sie sind Ausdruck dafür, dass die Kirche das ‘Deutungsmonopol’ eingebüßt hat. Unter diesen Bedingungen kann eine verpflichtende Weltansicht aus strukturellen Gründen nicht mehr vermittelt werden.120

    Dem Verlust einer solchen „verpflichtenden Weltsicht", so die These dieser Arbeit, wird mit der radikalen Infragestellung gegebener Weltdeutungsmuster einerseits, aber auch mit der Erschaffung neuer, scheinbar verbindlicher Systeme der Welterklärung andererseits begegnet. Das Böse wird in der Literatur durch seinen historischen Kontext bedingt mit entsprechenden Verkleidungen und Erklärungen versehen: So wird es unter anderem künstlerisch stilisiert, es wird sozial ausgedeutet, aber auch verwissenschaftlicht, es wird genderspezifisch verstanden sowie weiterhin mit Erfahrungen kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung verknüpft.

    Die metaphysische Kategorie des Bösen in der klassischen Gewandung des Teufels durchläuft hier eine bzw. mehrere Wandlungen. Diesen Prozess des Transfers metaphysischer Sinnfragen in andere Bereiche und die Erklärung des Bösen in seinen säkularisierten Formen versucht die vorliegende Arbeit mittels vierer ausgewählter Konzepte zu erfassen. Die Reihenfolge der Diskussion dieser heuristischen Konzeptionen folgt dabei diachron der Abfolge tradierter Epocheneinteilungen wie Romantik, Realismus und der Strömung des Ästhetizismus. Ein chronologisches Moment wird etwa anhand der Einrahmung der Konzepte durch den Romantizismus des frühen und den Ästhetizismus des späten 19. Jahrhunderts deutlich. Gleichzeitig handelt es sich bei diesen vier Konzepten um typologische Strukturen, die nicht zur Gänze eindeutig einer starren zeitlichen Abfolge unterliegen. Dies zeigt sich unter anderem im Nachwirken romantischer Topoi und Ideen hinsichtlich des Bösen im soziobiologischen Konzept sowie auch in der Betrachtung genderspezifischer und ethnisch definierter Alteritäten als Projektionsflächen des Bösen. Während sowohl der Romantik als auch dem Ästhetizismus zuzuordnende Autoren eher auf eine ästhetisierende Darstellung des Bösen abzielen, scheint die realistische Erzählliteratur des Viktorianismus eine mimetische bis moralisierende Präsentation und Diskussion des Bösen zu beinhalten. Es finden sich Überblendungen zwischen allen vier Ansätzen, welche auf Verschiebungen im gesellschaftlichen Diskurs über das kollektiv konstruierte Böse verweisen.

    Dabei scheint es so, als ob in der nunmehr erfolgenden säkularen Aufspaltung des Bösen aus einem Teufel in viele Gesichter des Bösen eine Art Übergangsprozess zur Moderne gespiegelt ist. Die Absicht der vorliegenden Arbeit besteht vor allem darin, sich nicht nur auf entweder romantische oder viktorianische Texte zu beschränken oder ausschließlich die Texte einer bestimmten Autorin oder eines Autors zu behandeln, sondern vielmehr zu versuchen, einen relativ umfangreichen Überblick über die Manifestationen des Bösen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu wagen. Da der Roman gerade im Victorian Age die dominierende Gattung darstellt, wird der Schwerpunkt dieser Untersuchung auf eben dieser und angrenzenden Gattungen liegen. Dabei wird das Erscheinen des Bösen im literarischen Text in Wechselwirkung zum Kontext des 19. Jahrhunderts betrachtet und vor diesem Hintergrund zu den bereits angedeuteten vier Konzepten zusammengefasst, die in den folgenden Kapiteln nun ausführlich dargestellt werden.

    1Begriff nach Nünning / Sommer (2004).

    2Schmidt (1991: 406 f.).

    3Jauß (1970: 149), vgl. Schnackertz (2005: 687).

    4Vgl. Schmidt (1988: 134-158). Allerdings ließen sich mit Blick auf die vorliegende Arbeit auch andere Definitionen von Kultur einbinden: So könnte man Kultur mit Ernst Cassirer semiotisch als „Gesamtheit der symbolischen Formen verstehen (vgl. Cassirer 2010 a, 2010 b und 2010 c), mit Roland Posner als „Zeichensystem fassen oder mit Clifford Geertz im Rahmen einer „interpretativen Kulturanthropologie" betrachten (vgl. Geertz 2007 und 1994). Julia Kristeva behandelt Kultur als „ le texte general im Sinne der „poststrukturalistischen Intertextualitätstheorie (vgl. Kristeva 1972 und Angerer 2007), Foucault betrachtet die Verwobenheit von Kultur und Diskurs (vgl. Foucault 1991 und 1981), während Niklas Luhmann (vgl. Luhmann 1992 und 1987) sie als „Sozialsystem versteht (Nünning / Sommer 2004: 17). Somit entsteht hier ein enges Geflecht von Beziehungen, unter anderem zu den Bereichen der Geschichtswissenschaft, der Semiotik, der Philosophie respektive der Anthropologie sowie auch der Soziologie (vgl. Nünning, V. 2005: 5 und Schmidt 1988: 134-158). Diesen Aspekt der Interdisziplinarität unterstreicht Herbert Grabes, wenn er erläutert: „[...] ‘culture’ […] [is] a concept that – in the form of ‘culturalism’, the view that almost everything is cultural – has become the social dominant of our time. At least since the 1970s, ‘culture’ has served as a term for a social construction, for the sphere of collective human endeavor to understand and confer value on experience – both the experience of the world and the self (Grabes 2001: 2). Kultur erhält damit einen konstruktivistischen Charakter, wobei die Vielzahl der Ansätze zu einer Definition etwa dem Pluralismus der Positionen und Ideen entspricht, aus denen sich eine Kultur zusammensetzt (vgl. Nünning V. 2005: 6 und Grabes 2001: 5).

    5Schmidt (1988: 135).

    6Schmidt (1988: 143).

    7Schmidt (1988: 145).

    8Schmidt (1988: 145).

    9Vgl. Grabes (2001: 6).

    10 Nünning, V. (2005: 5), vgl. Nünning / Sommer (2004: 18).

    11 Nünning, V. (2005: 5).

    12 Vgl. Grabes (2001: 23).

    13 Vgl. Nünning, V. (2005: 5).

    14 Vgl. Nünning, V. (2005: 5).

    15 Vgl. Nünning, V. (2005: 5).

    16 Vgl. Nünning, V. (2005: 7 f.) und Posner (1991: 37-74).

    17 Nünning, V. (2005: 7).

    18 Grabes (2001: 6).

    19 Grabes (2001: 22).

    20 Nünning, V. (2005: 7), vgl. auch Schnackertz (2005: 690).

    21 Häring (2003: 66). Ein Blick in das OED (2012: s.v. evil ) unterstützt diese Aussage, ist „evil doch auf vielfältige Weise gedeutet worden: So findet es sich als „adjectival expression of disapproval, dislike, or disparagement, als „morally depraved, bad, wicked, vicious, als „tending to do harm; hurtful, mischievous, als Bezeichnung, mit der der Teufel versehen wird, aber auch als „anything that causes harm or mischief, physical or moral".

    22 Häring (2003: 68).

    23 Berger (1998: 32), vgl. auch Colpe (1993: 64).

    24 Genesis 3, 1, zitiert gemäß King James-Version.

    25 Genesis 3, 5.

    26 Vgl. Genesis 3, 23-24.

    27 Der Begriff des Apokryphen entstammt laut Erich Weidinger (1998: 8) dem gnostischen Kontext und verweist auf etwas Geheimes beziehungsweise Verborgenes. Die Gnostiker behaupteten als erste, sogenannte verborgene Bücher zu besitzen. Diese wurden später von der Kirche als Irrlehren abgelehnt, und

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