Innere Lernprozesse auf dem Weg des Aikido: Ohne Schwert und ohne Dogma
Von Georg Schrott
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Rezensionen für Innere Lernprozesse auf dem Weg des Aikido
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Buchvorschau
Innere Lernprozesse auf dem Weg des Aikido - Georg Schrott
Vorwort
Meine tiefe Dankbarkeit gilt all jenen, von denen ich Aikido lernen durfte; manchmal in langjährigem Unterricht, manchmal in einer kurzen, aber lehrreichen Begegnung; manchmal von Menschen, die mir weit voraus waren, manchmal von solchen, die den Weg noch gar nicht so lang beschritten hatten.
Einen herzlichen Dank richte ich an Bernd, Britta, Cornelia, Daniel, Gabi, Heifaa, Hendrik, Holger, Martin, Nora, Sebastian und Uli, vor allem aber an Martina aus dem Aikidojo Bochum e. V.: teils für wertvolle Erfahrungsberichte, teils für hilfreiche Feedbacks. Sie und alle anderen Angehörigen des Dojo, die jetzigen und auch die früheren, haben das Entstehen dieses Buches ermöglicht durch einen mehr als zwanzigjährigen Austausch. In seinem Verlauf wurden die hier vorgebrachten Gedanken maßgeblich geprägt.
Ich danke meiner lieben Frau Christine für ihre rege Unterstützung durch Motivation und konstruktive Feedbacks.
Und besonders danke ich den Künstlern Dagmar Witt und Beppe Mokuza Signoritti für ihre wunderbaren Illustrationen.
Ich widme dieses Buch meinem ersten Lehrer Werner Winkler (Tirschenreuth), der mich 1972 mit dem Aikido „infiziert" und so, ohne es zu wollen und zu wissen, den Verlauf meines Lebens entscheidend und vielfältig geprägt hat. Ihm bin ich von Herzen dankbar!
1 Einführung
1.1 Ohne Schwert und ohne Dogma – nackt
In unserem Dojo gibt es aus Platzgründen nur einen Duschraum. Beide Geschlechter müssen ihn sich teilen. Nach dem Einzug in unsere Übungsstätte hatte sich aber schnell eine unkomplizierte Nutzung eingespielt: Eine Person, die die Dusche gerade benutzt, kann entscheiden, ob Personen des anderen Geschlechts den Raum betreten dürfen oder nicht. Die Klärung erfolgt in Sekundenschnelle durch den offenen Türspalt.
Auf Irritation stößt die gemeinsame Dusche aber manchmal bei Gästen, die anlässlich von Lehrgängen in unser Dojo kommen. Vor Jahren ertönten deswegen einmal erschreckte Ausrufe wie: „O Gott, es gibt hier ja nur eine Dusche! Spontaner Kommentar eines anderen Besuchers: „Merken die eigentlich nicht, wie nackt sie sich beim Aikido machen?!
Dieser Satz ist mir nachgegangen. Er drückt aus, dass eine gelungene Aikido-Begegnung bloß und unverstellt geschieht. Und dabei greift die Metapher noch zu kurz: Die Begegnung erfolgt ja nicht nur an der Körperoberfläche (durch Schlagen oder Greifen), sondern geht unter die Haut: Sie geschieht von Mitte zu Mitte, von Hara zu Hara.
Nachdem mir der zitierte Satz immer wieder einmal in den Sinn gekommen war, gerieten meine Gedanken kürzlich bei einer abendlichen Lektüre ins Stolpern. Vor mir lag Yasushi Inoues Roman „Der Tod des Teemeisters. Er handelt von Sen no Rikyu (1522–91), der prägendsten Persönlichkeit in der Geschichte des japanischen „Teewegs
(Chado). An einer Stelle charakterisiert eine Romanfigur die Art und Weise, wie Rikyu die Teezeremonie ausführte:
„Meister Rikyus Stil glich einem Kampf ohne Schwert und ohne Dogma. Mit einem Wort, er kämpfte den Kampf eines nackten Menschen." (INOUE, 22)
Ich hielt inne. Plötzlich hatte ich den Titel für mein Aikido-Buchprojekt gefunden. Er war geeignet, meine Anliegen auf den Punkt zu bringen.
Was haben Schwerter und Dogmen gemeinsam? Sie wurden erfunden, um zu zerschneiden und zu zerteilen und um dadurch zu dominieren.
Schwerter zerteilen Körper. Sieger wird, wer sein Schwert im Zweikampf schneller oder geschickter einsetzt.
Dogmen zerteilen Gedanken- und Menschengruppen. Sie unterscheiden: Diese Idee ist richtig, diese falsch; dies ist wahr, jenes unwahr; wer die eine Meinung vertritt, hat recht, wer die andere vertritt, hat unrecht; wer so denkt, gehört zu uns, wer anders denkt, nicht. Sieger wird, wer in dogmatischen Auseinandersetzungen die Deutungshoheit erlangt.
Mit Schwertern werden physische Siege erfochten, mit Dogmen geistige und soziale. Im Laufe der Geschichte haben beide Instrumente zahllose Tote hervorgebracht. Und in dem Moment, in dem ich dies schreibe – gegen Ende des Jahres 2014 – geschieht im Vorderen Orient genau das.
Rikyu kämpfte „ohne Schwert und ohne Dogma ... den Kampf eines nackten Menschen. Dieser Vergleich symbolisiert sehr gut das Anliegen der folgenden Buchseiten. Es geht um die „Kampfkunst
Aikido – wobei noch zu klären ist, was Kampf in diesem Fall konkret bedeutet. Es geht um ein Aikido ohne Schwert – ohne physischen Schaden für den Partner oder für mich. Und es geht vor allem um ein Aikido ohne Dogma – ohne vorgefasste Konzepte und Ideen, ohne trennende und spaltende Egoismen, Pläne, Vorbehalte, innere Zwänge ... Im Idealfall begegnen sich die Aikidoka „ohne. Bloß, pur, unverstellt, mit „leerem Geist
– sozusagen nackt.
Was macht eine Aikido-Begegnung aus? Das Hier, das Jetzt und die Energien der Partner. Nicht weniger. Nicht mehr.
1.2 Über Aikido schreiben
Scheitern programmiert?
Ein Buch über Aikido zu schreiben ist eine heikle Entscheidung. Der Autor bewegt sich auf einem nicht allzu weitläufigen Gebiet zwischen Traditionsbruch, Sinnlosigkeit und Unmöglichkeit. Worauf es in den Kampfkünsten hauptsächlich und wirklich ankommt, wird zwar von Lehrer zu Schüler weitervermittelt, lässt sich aber kaum in Worte fassen. Die angemessene Art der Bewegung, die passende Körperspannung, das stimmige Timing, erst recht die geistige Haltung und vieles mehr entzieht sich einer Mitteilung durch bloße Worte. Auch wenn das Üben von Aikido in die Tiefen der menschlichen Existenz führt, lernt man es keineswegs besser, wenn man viel darüber philosophiert (vgl. DIOSZEGHY-KRAUSS, 206). Es muss in der direkten Interaktion im Dojo gelernt werden durch Sehen und Begegnen. Im Budo ist so der Begriff des Mitori-Geiko entstanden (daher der Buchtitel und das Konzept von RAJI), wörtlich „Sehen-Nehmen-Training, also etwa: „Lernen durch Schauen
– „und durch Spüren" wäre zumindest im Aikido unbedingt noch zu ergänzen. Aber eben nicht: Lernen durch viele Worte.
In die so gepflegte „Kultur der Stille" mit einem wortreichen Buch hereinzuplatzen, scheint daher reichlich unpassend. Es überschreitet die Tradition des Budo-Lernens, verlegt den Schwerpunkt statt auf die körperliche Begegnung auf Worte und Reflexionen, lenkt womöglich ab vom Eigentlichen. Körperliche Bewegungen lassen sich nicht in Wort und Bild zwischen zwei Buchdeckeln vermitteln. Über geistige Aspekte zu schreiben oder zu lesen, abgekoppelt von der körperlichen Aktion im Dojo, kann leicht zu einer verkopften oder schwärmerischen, jedenfalls realitätsfernen Aktion geraten. Was gibt es hier dann noch zu sagen?
Was Sie hier nicht erwartet
Dieses Buch verspricht nichts. Es erhebt nicht den Anspruch, etwas besser zu erklären als andere. Oder etwas zu erklären, das andere noch nicht erklärt haben. Es hat dem Leser nichts Neues mitzuteilen. Was hier ausgesprochen wird, weiß jeder selbst. Es kann allerdings sein, dass er nicht weiß, dass er es weiß.
Es wird hier keine bestimmte Schule vertreten oder entwickelt. Grundlage der einzelnen Kapitel sind eine jahrzehntelange Aikido-Praxis, der Austausch mit vielen Weggefährten während dieser Zeit und Inspirationen durch zahlreiche Lehrer. Vorgestellt wird ein erfahrungsgegründetes Praktikermodell. Was an psychischen oder spirituellen Aspekten angesprochen wird, entstammt in vielen Fällen mündlicher Überlieferung – wie in den Kampfkünsten allgemein üblich. Wo es sich um direkte Lesefrüchte handelt, ist dies durch Quellenangaben belegt. Begriffe werden entsprechend diesen mündlichen Traditionen ohne viel Definitions-Aufwand gebraucht. (Während beispielsweise das Wort „Geist" einem Philosophen oder Psychologen jede Menge Erklärungs-Arbeit abverlangen würde, steht es hier leichthin für den japanischen Begriff Shin.)
Nichts von dem, was hier geschrieben steht, ist „wahr. Es wird aber wahr, wenn Sie als Leser damit in Resonanz gehen. Wenn sich bei der Lektüre etwas „in Ihnen regt
, bedeutet das, dass etwas für Sie Relevantes berührt ist. Ihre Reaktion kann in Zustimmung bestehen, aber auch in Widerstand. Wie auch immer: Sie reagieren, weil etwas angesprochen ist, das für Sie von Bedeutung ist. In einem solchen Moment werden die Worte in diesem Buch zum Angebot, zur Einladung. Aber Sie allein entscheiden, was daraus entsteht.
Was Sie hier erwartet
In Aikidoka-Kreisen gibt es zwei Haupt-Tendenzen. Die Vertreter der einen Richtung betonen, man übe angemessen Aikido, wenn man sich möglichst genau das aneigne, was Morihei Ueshiba, der Begründer dieser Kunst, gelehrt hat. Die anderen weisen darauf hin, dass ein wesentliches Prinzip des Aikido das angemessene, harmonische und harmonisierende Eingehen auf die jeweilige Situation sei. Das verlange Freiheiten im Umgang mit O-Senseis Erbe.
Wie auch immer: bei der Vermittlung von Morihei Ueshibas Lehren wird es immer wieder neue Anläufe brauchen, um möglichst hilfreiche Wege der Weitergabe an immer neue Menschen zu finden. Es geschieht ein Kulturtransfer, der unweigerlich auch mit Interpretationen verbunden ist. Europäer hören ostasiatische Unterweisungen mit europäischen Ohren – und automatisch wird etwas Anderes daraus. Es ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem Anliegen, die Weisungen der Bibel oder des Koran umzusetzen. Nur Fundamentalisten würden die Ansicht vertreten, man brauche aus diesen Schriften alles nur 1:1 übernehmen. Sie würden dabei aber verkennen, dass jede Übernahme durch andere Menschen, erst recht durch solche aus anderen Kulturkreisen, zwangsläufig schon eine Deutung mit sich bringt. Auf die überlieferte Sache wird von jedem Menschen aus einer neuen, individuellen Blickrichtung geschaut. Jeder Aikido-Schüler tut dies, wenn er sich die Kampfkunst auf seine individuelle Weise aneignet, und jeder Lehrer tut es, wann immer er seinen Schülern Aikido erklärt. In solchen Aneignungsprozessen wurzelt meine Veröffentlichung. (Zwischendurch bemerkt: Die Selbstverständlichkeit, mit der hier der Begriff „Individualität" verwendet wird, unterschlägt vorläufig, dass es sich dabei um ein komplexes Thema handelt, dem sich Budoka mit besonderer Sorgfalt stellen müssen; s. Kap. 3.4.6 „Nicht-Ich – Muga")
Aikido lernt man im Tun, auf der Matte, in der Begegnung mit Lehrern und Übungspartnern. Ein Lehrbuch über das, was dabei körperlich zu tun ist, hätte wenig praktischen Nutzen. Unmöglich lassen sich korrekte Aikido-Bewegungen allein mit Worten erklären! Hier geht es um etwas anderes. Dieses Buch will den Übenden nicht belehren, sondern ihm helfen, sich selbst zu reflektieren, besonders aber die inneren Schwierigkeiten, in die er womöglich in seiner Praxis gerät. Das Training im Dojo kann es natürlich nicht einmal andeutungsweise ersetzen, sehr wohl aber ergänzen und begleiten. Insofern wendet es sich vor allem an Aikido-Praktizierende, Es wird jedoch auch in der Hoffnung vorgelegt, dass es Budoka aus anderen Kampfkünsten Interessantes zu sagen hat.
Hauptsächlich ist auf den folgenden Seiten beabsichtigt, die Aufmerksamkeit der Leser auf typische mentale Probleme zu lenken, die beim Aikido (und wohl auch sonst im Budo) auftreten können, und auf mögliche Ansätze, wie mit diesen Problemen umgegangen werden kann. Es werden Anregungen und Anleitungen zur Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion geboten. Die Anregungen entstammen meiner jahrzehntelangen Praxis des Lernens und Lehrens von Aikido. Sie haben sich in dieser Zeit angesammelt als das Ergebnis von methodischem Üben, inspirierenden Unterweisungen, biographischen Zufälligkeiten und didaktischer Kreativität. Jeder andere Aikidoka hätte dieses Buch ganz anders geschrieben. Aber genau so wird Kampfkunst weitergegeben: mit Herzblut, auf persönliche Weise, Ishin Denshin, also „von Herz zu Herz". Dies ist mein Anliegen als Lehrer und Autor.
Meine Helfer
Wenige Tage, nachdem ich begonnen hatte, an meinem Buch zu schreiben, läutete es abends an meiner Tür. Der Asiate, der davorstand, stellte sich mir als Shikyo Sensei vor. Es sei offensichtlich, dass ich meinem Thema nicht recht gewachsen sei, deshalb wolle er mir seine Unterstützung anbieten.
Bis heute wollte er mir nicht sagen, wie er von meinem Projekt erfahren hat. Doch nach der dritten Tasse Tee mit ihm und nach einem Besuch seines Unterrichts war mir klar, dass ich auf seine Mitarbeit nicht verzichten wollte.
Meister Shikyo praktiziert einen sehr klaren, präzisen, transparenten und ästhetischen Aikido-Stil. Seine große Liebe gehört jedoch dem Unterrichten, er ist mit Leib und Seele Lehrer. Immer wieder äußert er den Satz: „Meine Schüler sind mir heilig."
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang die Übersetzung seines Namens: „Unterricht oder „Unterweisung
.
Dankbar nahm ich sein Angebot an, ihn mit seiner Erfahrung immer wieder zu Wort kommen zu lassen. Shikyo Sensei wird sich vor allem zu Fragen der Form und des Aikido-Unterrichts äußern.
Eine Woche später klingelte es erneut. Draußen stand im leichten Nieselregen ein gewisser Fushi Sensei. Er komme auf Empfehlung seines alten Freundes Shikyo und habe den Eindruck, dass er mir nützlich sein könnte. Offensichtlich sei ich meiner Aufgabe nicht so recht gewachsen, aber mein Buchprojekt verdiene Unterstützung. Bei einigen Tassen Tee und durch einen Besuch seines Unterrichts lernten wir uns näher kennen.
Fushi Senseis Lebensmotto stammt von dem Zen-Patriarchen Bodhidharma: „Offene Weite – nichts Heiliges."
Sein Aikido-Stil wird von vielen unterschätzt. Fushi wirkt auf den ersten Blick etwas nachlässig und erklärt wenig zu technischen Details. Aber im Kontakt mit dem Partner ist er immer unerbittlich „am Punkt".
Die Kooperation mit ihm war nicht ganz einfach: Dauernd mischte er sich ungefragt ein, auch an unpassenden Stellen, und mir kam nicht immer seriös vor, was er sagte. (Ich habe recherchiert: „Fushi kann „Satire
bedeuten oder „Sarkasmus".) Ich verdanke ihm jedoch wie Shikyo Sensei viele wichtige Inspirationen. Er scheint sich besonders dafür zuständig zu fühlen, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und an problematischen Konzepten zu rütteln.
Im Laufe des Buches wird sich Fushi viel häufiger zu Wort melden als Shikyo. Das liegt nicht daran, dass der eine mehr zu sagen hätte als der andere. Doch Shikyos eigentliches Metier ist der praktische, schwerpunktmäßig technische Unterricht im Dojo, um den es aber im Folgenden kaum gehen wird.
Beide Meister liegen mir sehr am Herzen. Ich verneige mich hiermit vor ihnen.
Shikyo und Fushi baten mich, die Leser vor diesem Buch warnen zu dürfen. So lasse ich sie erstmals direkt zu Wort kommen:
SHIKYO SENSEI zitiert Morihei Ueshiba, den Begründer des Aikido:
„Kümmert euch nicht um Bücher über Aiki-do, denn sie können euch nicht die Essenz dieser Kunst und ihren geistigen Aspekt fühlbar machen" (NOCQUET, 63).
Kommentar von FUSHI SENSEI:
Über Aikido schreiben ist wie über Architektur tanzen.
(Fushi verballhornt hier den Satz „Writing about music is like dancing about architecture", der von dem amerikanischen Schauspieler Martin Mull stammen soll.)
Darf ich Ihnen das „Du" anbieten? – Anmerkungen zum Sprachgebrauch
Unter Aikidoka ist es üblich, sich zu duzen. (Hoffentlich) Nicht einfach aus Wir-seliger Vereinsmeierei, sondern aus viel tieferen Gründen: Im Aikido spielen soziale Schranken keine Rolle, ja, es geht gerade auch um die Aufhebung zwischenmenschlicher Schranken. Das Ideal, sich wertungsfrei und offen im Hier und Jetzt zu begegnen, würde durch trennende Konzepte beeinträchtigt. Der Kontakt von Mitte zu Mitte, der für diese Kampfkunst so typisch ist, und die angestrebte Verschmelzung der Energien bringt die Menschen einander sehr nah.
Und noch zwei andere Anmerkung zu Sprache und Stil dieses Buches. Selbstverständlich richtet es sich an Männer und Frauen. Um aber den Fluss der Worte und Gedanken nicht durch geschraubte Formulierungen zu behindern, wurde als grammatisches Geschlecht oft ganz traditionell das Maskulinum verwendet, auch da, wo alle Menschen gemeint sind. Ich hoffe aber, der „Geist" meiner Worte zeigt jene Weite, die den wortwörtlichen Formulierungen immer wieder fehlt.
Japanische Fachausdrücke habe ich grammatisch unverändert gelassen. Ob beispielsweise „Aikidoka ein Singular oder Plural ist, ergibt sich jeweils aus dem Textzusammenhang. Nur im Genitiv Singular wurde ein „s
angehängt.
1.3 Ziele und Inhalte dieses Buches
Zwischenbemerkung für Aikido-Anfänger
Wer ein Sachbuch schreibt, sollte wissen, was er tut. Und seine kritischen Leser werden wissen wollen, ob der Autor weiß, was er tut. Es schien mir notwendig, für diese Zielgruppe einige konzeptionelle Bemerkungen an den Anfang zu stellen. Nicht nur auf Aikido-Anfänger könnte die Passage aber etwas trocken und theoretisch wirken und dadurch die Lesefreude hemmen. Solltest du das so empfinden, empfehle ich dir, ein wenig diagonal zu lesen, kurz vor Schluss allerdings wieder einzusteigen: mit dem Abschnitt „Einladung ins ‚Innere Dojo’". Er ist als Überleitung relativ wichtig. Aber nun zurück zum Thema.
Ganzheitlich lernen
Wie gesagt: Aikido übt man auf der Matte. Aikido im engeren Sinn ist die Begegnung zwischen mindestens zwei Personen unter Verwirklichung der Aikido-Prinzipien. Zur Einübung dienen bestimmte, immer wieder trainierte Techniken. Aikido übt man immer als körperliche Interaktion. Deswegen kann man Aikido nicht aus Büchern lernen.
Lernen besteht aber nicht nur im Üben. Ein differenzierter, selbstverantworteter Lernfortschritt ist immer wieder begleitet von Nachdenken über mich selbst:
Was sind meine Ziele?
Wie nah bin ich ihnen?
Was bringt mich ihnen näher?
Was hindert mich daran?
Mit welchen inneren Schwierigkeiten habe ich zu kämpfen?
Bin ich überhaupt auf dem richtigen Weg?
Für Momente solcher Selbst-Reflexion ist dieses Buch geschrieben. Es geht von einem Budo-Lern-Modell aus, das im Wechselspiel und Zusammenwirken von „äußerer und „innerer
, von körperlicher und mentaler Entwicklung ausgeht. Den Begriff „mental habe ich hier für alle Seelenvorgänge gewählt, die mir bewusst sein können, für alles, was an Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen in mein Bewusstsein kommen kann (während der Bereich des „Psychischen
das Bewusste wie das Unbewusste umfasst). Was mir bewusst ist, kann ich auch beeinflussen. Ich kann meine Aufmerksamkeit darauf fokussieren. Ich kann mich davon distanzieren, indem ich es zum Objekt meiner Beobachtungen mache. Ich kann wählen, ob ich mich darauf ein- oder es loslasse. Wir werden sehen, dass es eine Menge mentaler Herausforderungen geben kann, die ich im Aikido auf diese Weise bewältigen muss.
„Aikido ist ein „(Lebens-) Weg
, eben ein „Do. Es geht nicht nur um das Lernen und Anwenden bestimmter Techniken (das wäre dann eher „Aiki-Jutsu
). Den „Weg beschreite ich mit meiner ganzen Person. Betroffen ist also immer auch der mentale Bereich. Körper und „Geist
wirken ganzheitlich zusammen und erfahren auf dem „Weg" die Chance, sich auch ganzheitlich zu entwickeln.
Traditionelles Budo-Lernen
Der praktische Unterricht im traditionellen Stil ist oft weitgehend darauf ausgerichtet, wie man sich richtig bewegt. Nur gelegentlich wird dann auch (mehr oder weniger methodisch) auf den angemessenen mentalen Zustand hingearbeitet: größtmögliche Bewusstheit, größtmögliche „Absichtslosigkeit" usw. Die technik- und körperbetonte Art der Unterweisung ist von der Erfahrung (oder zumindest von der Vorstellung) geprägt, dass das fortwährende körperliche Wiederholen zugleich als eine Art Schleifstein oder Poliermittel für die Seele wirkt. Der Schüler verleibt sich in stiller Übung und Auseinandersetzung die vorgegebene Überlieferung der Bewegungen ein. Nach und nach lernt er dabei auch, sein Ego mit seinen störenden Anhaftungen zurückzunehmen, das die Klarheit der Bewegungen und Begegnungen trübt. So kommt er dem Bewegungs- und Begegnungsideal immer näher. Dieser Prozess vollzieht sich langsam und streckenweise unbemerkt.
Es ist dies der traditionelle ostasiatische Weg zur Meisterschaft, ausgehend von der Idee einer Kunst, „die den Einzelnen vollständig in die Überlieferung einbindet, ihn auf ein feststehendes Ideal verpflichtet (KLOPFENSTEIN, 136), wofür persönliche Interessen und Impulse zu reduzieren sind. Durch das ständige Üben werden Körper und Geist „geschliffen und poliert
– so die Ausdrucksweise in alten japanischen Schwertschulen (HEIJO MUTEKI SHO, 6f.).
Morihei Ueshiba, der Begründer des Aikido, bezeichnet die Aikido-Praxis, das Üben im Dojo, als Misogi, als „die Reinigung von Körper und Geist auf allen Ebenen." (UESHIBA 2010, 97 u. ö.) Misogi ist eigentlich der Ausdruck für verschiedene kultische Reinigungsrituale im Shinto. Am bekanntesten ist wohl die Praxis des Meditierens in einem Wasserfall. In Ueshibas Sprachgebrauch und Wahrnehmung zählte Aikido ebenfalls zum Misogi.
Nach einem guten, physisch intensiven Training erleben das Aikidoka immer wieder: Sie fühlen sich klar und geordnet, sie sind „ganz bei sich, und wenn sie aus dem Dojo hinaustreten, stellen sie fest, dass ihnen ihr „Bei-sich-Sein
hilft, alltägliche Anforderungen und Konflikte gelassen und konstruktiv zu bewältigen. Das traditionelle Modell des Budo-Lernens hat also definitiv seine Berechtigung.
Kaerimiru – Selbstreflexion im Fokus
Morihei Ueshiba forderte seine Schüler aber auch auf, Anstrengungen in der Selbstreflexion (Kaerimiru; wörtlich: „zurückschauen") zu unternehmen (HOLIDAY, 152). Sie sollten in sich gehen und über ihr Verhalten nachdenken, ihre Fehler bedauern, sich angesichts der Kürze des Lebens zu einem Wandel motivieren zu lassen und so zum Verstehen und zur Erleuchtung durchdringen (HOLIDAY, 141f.).
Ein Miteinander von Praxis und Reflexion – das funktioniert im Budo allerdings nur als Nebeneinander und Nacheinander, nicht als gleichzeitiges Geschehen. Die oben formulierten Fragen der Selbstreflexion kann ich mir nicht während des Übens stellen. Sie würden die Unmittelbarkeit der Begegnung mit dem Partner stören. Vielmehr muss ich anstreben, mit „leerem Kopf zu üben, die Bewegung als „Nicht-Tun
(s. Kap. 3.4.5 „Nicht-Tun – Mu-I) auszuführen im „Geist des Nicht-Geists
(s. Kap. 3.4.7 „Nicht-Geist – Mushin). Jede Reflexion wäre eine Unterbrechung dieses „absichtslosen Fließenlassens
.
Reflexion ist nur außerhalb der körperlichen Trainingszeiten möglich. Dann aber kann ich mich durchaus mit der Frage beschäftigen, wie gut mir die Umsetzung gelungen ist oder was mich dabei behindert hat. Nicht selten geschieht dies sowieso nach dem Training unter dem Eindruck der letzten Übungen, vielleicht schon bei den Gesprächen im Umkleideraum oder am Stammtisch. Oder später beim persönlichen Nach-Denken des Erlebten zuhause. Der Kyudoka Diethard Leopold spricht vom „existentiellen Zanshin" (LEOPOLD, 130), dem Nachschwingen-Lassen der Übung lange über die eigentliche Übungsphase im Dojo hinaus.
So überprüfe ich in der Distanz mich, meinen Fortschritt, meine Fähigkeiten und Schwierigkeiten. Dadurch richte ich auch den Fokus meiner Aufmerksamkeit für die nächsten Übungsstunden aus. Und wahrscheinlich sind es nicht so sehr die vernünftigen Interpretationen und Entscheidungen, die mein weiteres Lernen beeinflussen. Viel wichtiger ist wohl die so bewirkte Aufmerksamkeitslenkung, die mir hilft, Hürden zu erkennen, zu verstehen und zu überwinden.