Von Kindern, denen das Draußen gehörte: Kurzgeschichten und Scherenschnitte
Von Wulfhild Tank
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Über dieses E-Book
Wulfhild Tank
Wulfhild Tank wurde 1940 in Dortmund geboren und wuchs in einem kleinen Einfamilienhaus mit vier Geschwistern auf. Bereits als Dreizehnjährige lernte Wulfhild Tank im Gymnasium die Technik des Scherenschnitts kennen. Blumenbilder und Märchen-Illustrationen waren der Anfang in dieser schwarz-weißen Ausdrucksform, die ihren gedanklichen Vorstellungen am besten entsprach. Das hauptsächliche Thema ihrer Bilder war immer der Mensch in seinem Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Natur. Heute ist Wulfhild Tank als freischaffende Künstlerin, Autorin und Scherenschnitterin äußerst vielseitig. Ihre Scherenschnitte sind außerordentlich fein und exakt gestaltet. Das Blatt vor der Schere, nicht vor dem Mund ist ihr Motto. Die Künstlerin hat bereits im deutschen Scherenschnittmuseum in Vreden, sowie auf zahlreichen regionalen und überregionalen Einzel- und Sammelausstellungen ausgestellt. Bei ihr verbinden sich Gedankliches und Naturphilosophisches mit Erfindungsreichtum, guter Komposition und ausgefeilter Technik. Ihre Themen sind vielfältig und gehen über die gängigen Blumenmotive hinaus, z.B. mit Gesellschaftskritik, Suchterscheinungen und Mediengebrauch Das Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten begleitet sie bis heute. Sie verfasste ihr Buch "Leben in Zeit und in Raum. Scherenschnitte und Gedichte", (keine ISBN), sie ist Mitautorin des Buches -Treffpunkt Schlanke Mathilde (ISBN 978-3-89733-334-5) und sie ist Autorin des Buches "Schwelbrand" mit etlichen Scherenschnittbildern (keine ISBN).
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Buchvorschau
Von Kindern, denen das Draußen gehörte - Wulfhild Tank
Vorwort
Ich möchte Kinderleben in der Nazizeit und nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen, eine Zeit ohne aufwändiges Spielzeug und ohne den späteren Medienrummel. Eine Zeit, in der sich Kinder nicht ständig von ihren Eltern beobachtet fühlten, als Kinder noch miteinander spielten.
Damit beleuchte ich aber auch die pauschale Aussage, den Mythos von „unbeschwerter oder gar „glücklicher Kindheit
.
Inhalt
Vorwort
Frühe Kindheit
Tiere im Zoo
Kröte im Steinbruch
Grabrede
Gegrillter Speck
Narben aus der Kinderzeit
Wiedersehensfreude
Spätere Kindheit
Schokolade zur Schulspeise
Rosa
Zöpfe flechten
Eierken Scholl
Kascha Dobeck
Krippenspiel
Winterfreuden
Flaschen-Schiffchen
Das Brot
Milchmann
„Großvater"
Steineschlacht
Hygiene der Vergangenheit
Moorkartoffeln
Sparen für Weihnachten
Jugend
Weihnachten nach dem Zweiten Weltkrieg
Alf und Ocki
Einkaufstasche
Schlittenfahren
Verträumter See
Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Frühe Kindheit
Tiere im Zoo
Helga stand vor dem Zoo, früher Tierpark genannt und wartete auf ihren Enkel Enno. Die Kinderführung für Schüler von 6‒9 Jahren müsste jetzt beendet sein.
Sie sah die Anfänge dieses Zoos in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts vor sich. Doch ihre Gedanken blieben nicht hier, sondern gingen zurück zu ihren ersten Erlebnissen in einem Zoo. Das war in Breslau, 1943. Sie war drei Jahre alt geworden.
Helga erinnerte sich:
„Meine Mutter hatte sich von ihrer Patentante in Waldenburg überreden lassen, mit den vier kleinen Kindern aus dem bombardierten Ruhrgebiet zu ihr nach Schlesien zu kommen. Dort wohnten wir für zwei oder drei Monate, bis unser Vater ihr aus Ostpreußen einen Brandbrief geschickt hatte: sofort nach Dortmund zurückkehren! Schlesien sei der russischen Front viel zu nahe!
Während der Zeit in Waldenburg war Mutter mit uns Kindern zum Breslauer Zoo gefahren."
Helga dachte an das Affengehege dort, was völlig anders ausgesehen hatte als das neue hier in Dortmund. Aber sie konnte sich nicht erinnern, um welche Art von Affen es sich gehandelt hatte.
„Ich lag mit dem Bauch auf einer flachen Sandsteinmauer, einer Mauer ohne Geländer!
Alle Leute dort schauten wie ich in eine tiefe Grube. Unten war zuerst ein gerades Stück, dahinter kamen Felsen, unregelmäßig aufgeschichtet, aber stufenförmig immer weiter nach hinten; bis fast oben hin an die gegenüber liegende Mauer. Zwischen den Felsen gab es Höhlen, wo die Affen reinliefen. Vielleicht hatten sie ihre Ställe da drin. Denn der große Affe war einmal oben in einem Loch verschwunden und kam unten wieder heraus.
Wir hatten Bonbons runter geworfen, echte Karamellen!
Die Affen zankten sich darum. Mir tat ein kleiner Affe so leid: der hatte nie eins von den Bonbons erwischt. Was mich faszinierte war, wie so ein Tier dasaß und das klebrige Papier ganz sorgfältig ab pulte..."
Helgas Gedanken wanderten weiter durch den Breslauer Zoo:
„An einem anderen Gebäude waren von außen her Vogelkäfige zu sehen. Das war eine riesige Fläche aus senkrechten Gitterstäben. Vom jetzigen Gefühl her glaube ich, dass diese Käfigwand höher war als mein Elternhaus, etwa sieben Meter. Hinter den Stäben waren deutlich kleinere Käfigabteilungen zu sehen und in jeder davon waren Vögel. Unendlich viele Vögel auf einmal; es waren phantastische Farben dabei. Ein wirres Durcheinander von Geflatter und Vogelstimmen!
Mein großer Bruder musste mich von dort wegziehen."
Helga hörte noch die ungläubigen Vorwürfe der Mutter und der Geschwister, die ihr die eigenen Erinnerungen nicht zutrauten. Erst, als sie über ihre Gefühle den Elefanten gegenüber gesprochen hatte, hielten sie ihre Erzählungen doch für eigene Erlebnisse. Denn Empfindungen sind Eindrücke des Augenblicks, die keiner in ein anderes Gehirn einpflanzen kann.
Die Elefanten waren das Eindrucksvollste für Klein-Helga. Jetzt tauchte diese Begebenheit in ihren Gedanken auf:
„Es waren zwei oder drei auf einem flachen, recht weitläufigem Rasen. Im Hintergrund war irgendein Gebäude, die Ställe wahrscheinlich.
Ein Mann hatte riesige Birkenäste zu den Elefanten gezerrt. Der vordere Elefant schlang sein Rüsselende um den dicken Ast, hob ihn hoch, schob sich das ganze Geäst mit einem Mal unter seinen Mund und begann, die Blätter zu fressen. Seitdem hatten Elefanten für mich kein Tiermaul; ein Maul hatten nur Hunde und die anderen Tiere, die aus Näpfen oder von der Erde fressen.
Ich hockte mit den Knien auf einer niedrigen Mauer, genauso niedrig wie bei den Affen und auch ohne Geländer. Hinter dieser flachen, leicht nach hinten gerundeten Abmauerung lag ein Wassergraben. Für mich war dieser Graben breit, ja. Aber doch nicht für diese großen Elefanten! Ich schätzte damals, für deren Beine wäre es nur ein einziger riesiger Schritt, um das Gehege zu verlassen.
Dennoch hatte ich keine Angst: die anderen Leute standen und hockten genauso an der Mauer. Und der Mann mit den Birkenzweigen hatte sogar mit den Elefanten geredet und den vorderen getätschelt.
Scherenschnitt - Elefantengehege, 2008
Ich fragte mich, wieso diese Tiere einfach da drinnen blieben? Ich fand auch, der Auslauf wäre viel zu klein für einen Elefanten-Garten; unser Garten zu Hause erschien mir größer als der.
Als Erwachsene erst erfuhr ich, diese Tiere dürften keine weit ausladenden Schritte machen, sonst könnte ihre Wirbelsäule brechen."
Endlich kam Enno durch das Drehkreuz des Zoos auf seine Oma Helga zu gestürmt! Und schon wurde sie mit neuen spannenden Kindererlebnissen überschüttet.
Kröte im Steinbruch
Der steinige Weg ging recht steil bergauf, zuerst zwischen den lang gestreckten Gärten und Obstwiesen von zwei alten Häusern, die seit Langem am Fuße eines kargen Hügels standen. Der ausgetretene Weg an Maschendraht-Zaun und an Weißdorn-Hecken entlang nannte sich „An der Hühnerhecke".
In einem der Häuser konnte früher einmal der Betreiber des angrenzenden Steinbruchs gelebt haben, denn der schmale Weg dorthin lief direkt am Haus vorbei. Der halb runde Bruch sah in Richtung des Hügels so kahl aus, als seien vor nicht allzu langer Zeit noch Steine gebrochen worden. Die zum Wiesental hin flacheren Seiten waren mit Adlerfarn und Brombeeren verwuchert. In diesem ausgedehnten Kessel hatte die Stadt eine Parzelle zur Bebauung freigegeben. Oberhalb des Steinbruchs noch weitere Parzellen, die vom Weg 'An der Hühnerhecke' Zugang hatten.
Als Gisela vier Jahre alt war, standen sieben Häuser 'An der Hühnerhecke'. Doch mit den Gärten auf dem harten Untergrund hatten die Bewohner noch