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Im Heuschreck
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eBook255 Seiten3 Stunden

Im Heuschreck

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Über dieses E-Book

Es wird viel passieren im Universum. Herr Berchtold wird zu Fuß nach Afrika gehen und im Weltall landen, die fesche Frau Meier wird eine Altersliebe finden, der afrikanische Nachbar Josef wird einen Pajero kaufen, der Geheimdienstmann Herr Sessouma wird eine geheime Mission haben, sein ehemaliger Lehrer Herr Yussuf wird aus einem philosophischen Buch zitieren, und Metzger Schwegler wird ein Raumschiff besorgen müssen. Am Ende werden sich Zeit und Raum wieder einrenken, und Pfister und seine Frau Heidi werden sich Fetisch sein.

Krimi, surreale Komödie, Fetischroman, philosophisches Kabinett, Reiseroman – dies alles und noch viel mehr ist der dritte Roman von Heinz Emmenegger.
SpracheDeutsch
Herausgeberlectorbooks
Erscheinungsdatum13. Apr. 2017
ISBN9783906913063
Im Heuschreck

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    Buchvorschau

    Im Heuschreck - Heinz Emmenegger

    AUTOR

    Eines Tages wird Pfister mit seiner Frau Heidi zum Begräbnis von Herrn Kummer spazieren. Dieser Tag wird ein trauriger Tag sein. Ein Vegetarier wird abgedankt werden, ein Verlust an ökologischer und moralischer Verseelung. Die Asche eines bescheidenen, schlanken und immer noch gesunden Mannes von dreiundsiebzig Jahren wird in einer hübschen, einfachen Urne aus afrikanischem Ebenholz in Form einer übergroßen Heuschrecke zu Grabe getragen werden. Dieser Ebenholzheuschreck wird Herrn Kummers letztes Reisesouvenir sein, heimgebracht aus einem afrikanischen Land voll begabter Sarg- und Urnenschnitzer. Herrn Kummers Reste werden im Magen des Heuschrecks liegen, eingefüllt über den dünnen Hals, auf den der Kopf geschraubt ist, geschmückt mit ebenholzschimmernden Augen.

    Auch Herr Berchtold wird zu diesem Begräbnis spazieren. Herr Berchtold, der Herrn Kummer die Reise nach Afrika vermittelte. Herr Berchtold, der eines der Motivationsteile gewesen ist, die Herrn Kummer im Alter noch beinahe zum Fleischfresser gemacht hätten und ihm immerhin einen erheblichen Konsum an Insekten ermöglichten. Herr Berchtold wird vielleicht der traurigste Trauergast sein, hat er doch Herrn Kummer die letzten Jahre sehr lieb gewonnen. Beide, Herr Kummer und Herr Berchtold, haben sich lieb gewonnen, ihr Alter Ego im anderen entdeckt und aufs Alter hin schätzen gelernt.

    Hier und jetzt wird er gehen, der Herr Berchtold mit seiner Legionärsvergangenheit, seiner Zuneigung zu fröhlich feschen Frauen, seinem täglichen Fleischkonsum, am liebsten Rind und Kalb, seinem gepflegten, mehrere Jahrzehnte alten Ford Granada, seinem entschlossenen Auftreten als Hausbesitzer und ehemaliger Versicherungsdetektiv.

    Weit weg wird Herr Kummer selig und zerstäubt liegen, ehemals gesegnet mit seinem Hang zu Askese, Fußgängertum, Nacktbaden, empfindsamen, ausweichenden Damen, pflanzlicher Nahrung und im Alter der Einnahme von Heuschrecken sowie auch gern ein paar gesammelten Hirschhornkäfern, denen man mit Vorteil erst das Horn bricht und es als Trophäe sammelt, bevor man sie zu sich nimmt.

    Beiden gemeinsam wird das Faible für Gesundheit, Schlankheit und Sport sowie eine erkämpfte Sanftmut gewesen sein, welche es solchen Herren erst erlaubt, sich näherzukommen und auszutauschen, und es Herrn Berchtold ermöglichen würde, bei der Bestattung von Herrn Kummer Tränen zu vergießen.

    Pfister und seine Frau Heidi werden Herrn Berchtold auf dem Trottoir beim dick aufgemalten Zebrastreifen treffen, um Abschied zu nehmen von ihrem gemeinsamen Freund und Nachbarn Herrn Kummer. Pfister als Vater und nun endlich multifunktionaler Fernsehangestellter wird aus seinem Status als überaus sinnvolles Mitglied der Gesellschaft viel Trost schöpfen. Heidi wird sich diesem Trost anschließen. Beide werden keine Tränen vergießen, aber der Trauergemeinschaft etwas von ihrem Glück abgeben.

    Es wird ein schönes, würdiges und anregendes Trauermahl geben, gestiftet vom Metzger Schwegler, zwar nicht ohne Rücksicht auf die zahlreichen Vegetarier, aber halt doch im Sinne des Vegetariers Kummer, der kurz vor der Schwelle zum Fleischkonsum gestanden und über Herrn Berchtold auch ein freundschaftliches Verhältnis zum Metzger Schwegler aufgebaut haben wird.

    Ein Salatbuffet wird den Mittelpunkt bilden, etwas kaltes Fleisch vom Rind, Schwein und Schaf, dazu diverse Käse, Brote und Brötchen, abgerundet mit einer Handvoll frischen, kurz gedünsteten und ungewürzten Alpenheuschrecken, von Schwegler vor Ort zubereitet.

    Herrn Kummers Vegetarierfreunde werden verwundert sein, werden etwas ungläubig erstmals zur Kenntnis nehmen müssen, dass Herr Kummer aufs Alter hin offenbar schwach geworden ist, werden seinen eigentlich frühen Tod in Erwägung von Herrn Kummers äußerlich gesunder Erscheinung womöglich auf diesen offenbar in die Wege geleiteten Fleischkonsum zurückführen, auch wenn er bei den Heuschrecken stecken geblieben ist, denn das Hirn isst mit und disponiert schon mal um in Erwartung möglicher Änderungen im Verdauungswesen. Solche Überlegungen werden sich selbstverständlich nicht nur auf die Vegetarier beschränken, sondern beinahe alle Mitessenden und Mittrauernden befallen. Änderte Herr Kummer seinen Lebensstil angesichts des nahenden Todes oder überhaupt des Todes, oder führte der sich ändernde Lebensstil zum Kollaps? Weise und langweilig, wie das Publikum ist, wird es beiden Möglichkeiten Platz einräumen.

    Zuvor aber werden Pfister, seine Frau Heidi und Herr Berchtold sich spazierenderweise beim immer noch neu scheinenden und etwas dick aufgetragenen Zebrastreifen an der Kreuzung beim Quartierladen treffen und sich gegenseitig in ihrer Kleidung begutachten.

    Herr Berchtold wird schon seit längerer Zeit bedauern und dieses Bedauern auch bei Herrn Kummers Bestattung mit sich tragen, dass eine gewisse Verluderung im Tragen der adäquaten Trauerkleidung eingekehrt ist. Nicht dass ein Trauergast nur in Schwarz daherkommen muss, doch wenigstens für diesen Anlass gehörte eine anständige, saubere und vor allem nicht vom Alltagsgebrauch gekennzeichnete Kleidung unbedingt zur respektvollen Ausstattung eines jeden Trauergastes. Was Herrn Berchtold besonders stört und stören wird, sind Daunenjacken anstatt Mäntel, Jeans anstatt richtiger Hosen, Turnschuhe sowie alle Art abgelaufenes und vor allem billiges Schuhwerk. Die Köpfe verdienten oftmals auch ausgetauscht zu werden, keine Würde, keine Wertschätzung des besonderen Anlasses ist im Gesicht abzulesen.

    Obwohl nur durch romantischen Fehl in die Fremdenlegion gelangt und von all dem blutigen, eitrigen und psychiatrischen Elend der Truppe sowie dem sozialen und kulinarischen Elend der zu traktierenden Bevölkerung ein für alle Mal zum größten Teil vom Militarismus befreit, erinnert sich Herr Berchtold auch zukünftig doch immer gern der hübschen militärischen Begräbnisse, die auch unter widrigen Umständen durchzuführen waren. Soldaten schätzen den Tod. Herr Berchtold selbst wird braun erscheinen mit schwarzer Krawatte und schwarzen Schuhen, Pfister dunkelblau mit ebenfalls schwarzer Krawatte und schwarzen Schuhen, Heidi schwarz mit blauem Foulard und schwarzen Schuhen. Herr Berchtold wird zufrieden sein, auch mit dem Zustand der Kleidung, und sich ohne Scham nun dem Paar anschließen können.

    Heidi wird sich ebenfalls an Herrn Berchtolds gefälliger Erscheinung erfreuen, auch mit jener ihres Mannes zufrieden sein und sich dabei vorstellen, wie die beiden im pflegebedürftigen Alter zu handhaben und anzuschauen wären; Herr Berchtold wohl früher, viel früher, wenn überhaupt noch, der ihr zur Pflege anvertraute Pfister erst in ein paar Jahrzehnten, wenigen Jahrzehnten, Herr Berchtold aber schon bald, auch wenn er jetzt noch drahtig daherkam. Wenige Jahre trennten ihn vom Totsein und zuvor vom Hilflossein, und sei es nur für Tage oder Minuten. Bei Herrn Kummer wird dies nicht der Fall gewesen sein, als Vegetarier stirbt man unverblödet, rasch, selig und gesund, so jedenfalls wird sich nicht nur Heidi das vorstellen. Die beiden Fleischfresser Pfister und Herr Berchtold dagegen würden sicher zuvor etwas abbauen in ihren geistigen und mentalen Fähigkeiten, ja, werden teilweise jetzt schon so weit sein. Doch Heidi wird wissen oder auch ahnen, dass blöde Männer einen gewissen Sexappeal haben, der tiefer und unerklärlicher gründet, als oft gewünscht.

    Pfister wird sich bei Herrn Berchtolds Anblick auf der anderen Seite des dick aufgemalten Zebrastreifens ebenfalls nicht enthalten können, einige Gedanken an die Endlichkeit ihrer aller drei zu verschwenden. Er wird sich vorstellen, wie er auch bei Herrn Berchtolds Beisetzung zu einem sicherlich schmackhaften Leichenschmaus geladen werden wird, wohl ohne Heuschrecken, aber mit Rinderbraten. Die Vorstellung des eigenen Abgehens wird Pfister darob hübsch verstecken können.

    Herr Berchtold wird Pfisters über die Straße gereichten stummen Vorschlag zwiespältig aufnehmen, ihm selbstverständlich ein deftiges Leichenmahl nicht verwehren wollen, aber dem eigenen Ableben etwas widerborstig entgegensehen. Zwanzig Jahre wird er sich schon noch gönnen wollen, in bestem Zustand natürlich. Zwar wird ihn Herrn Kummers Tod nachdenklich stimmen, beinahe nachdenklicher als der alltägliche Tod während seiner Legionärszeit, der ausweichlicher war, freier gewählt als das unweigerliche Alterssterben. Doch Herr Berchtold wird entschlossen sein, Haltung zu bewahren, auch wenn er zunehmend einzigartiger sein wird in seiner Generation und bald jeden Monat zu Begräbnissen geladen werden wird.

    So werden sie sich begegnen am dick aufgemalten Zebrastreifen und zusammen zum Friedhof spazieren, während Pfisters und Heidis Kind von den Klötzen weg sich in eine von der Krippenleiterin herbeigerufene Kinderrunde begeben wird, um bei einem Singspiel mitzumachen.

    Herr Kummer wird in der Heuschreckurne warten, geduldig, staubig, nicht bei Sinnen. Es war nicht nur schön gewesen in Afrika, faszinierend und beeindruckend zwar schon, aber auch anstrengend und bedrückend. Doch der Sargmacher in Ghana hatte es Herrn Kummer angetan, und so ließ Herr Kummer sich die Urne fertigen.

    Afrikanische Heuschrecken, fliegende Crevetten, fantastisch in Geschmack und Biss, derentwegen war er überhaupt gegangen. Für den Anfänger waren sicherlich die kleineren mitteleuropäischen Kaliber geeigneter, um die erste Scheu zu überwinden. So eine afrikanische Heuschrecke dagegen, da sah man mehr und spürte auf der Zunge, was in den Magen gelangen sollte. In Afrika lernte Herr Kummer nicht nur Riesenheuschrecken kennen. Töpfe voller lebendiger Maden, groß, saftig und absolut deliziös, zierten manchen Marktstand. Aber Herr Kummer mochte die Heuschrecken am liebsten, sie waren schöne Tiere, sauber und knackig. Käfer waren schwieriger, der Panzer doch etwas fester und oft nicht ohne Schälen oder Vorbehandlung wirklich genießbar, geschweige denn die Geweihe der Hirschhornkäfer, die andernorts achtlos im Abfall landeten, bei Herrn Kummer jedoch lose angesammelt in Zigarrenkisten lagen, um bei Gelegenheit präsentabel hergerichtet zu werden. Dies würde vielleicht eine Aufgabe für den Metzger Schwegler werden, als Kompensation für dessen abgebrannte Modellbahn und die damit hingegangene Möglichkeit, seinem feinmotorischen und überväterlichen Drang nachzugehen.

    Schwegler wird sich ja nur schon als Ausrichter des Buffets zur Trauerfeier von Herrn Kummer begeben, eines Vegetariers, der zeitlebens nie einen Kauf in Schweglers Metzgerei getätigt hat, aber in seinen letzten Lebensjahren Schwegler immer nähergekommen ist. Die Vorbereitungen für einen Engrosladen für Insektenesser in Schweglers zuerst ehemaligem Schlacht- und danach auch ehemaligem Modellbahnraum, der nach dem Brand nun wiederhergestellt ist, werden schon weit gediehen sein. Nun aber wird Herr Kummer sein Alterswerk nicht persönlich weiterführen dürfen, sondern als Asche lediglich darauf hoffen, dass Schwegler daran festzuhalten gedenkt und dabei vielleicht auch die Hirschhornkäfergeweihsammlung zur Ausstellung bringen wird. Schade nur, dass nicht auch Herr Kummer selbst als Urneninhalt zur Schaustellung gebracht werden kann, eine schöne Urne, zu schade, um in einem Urnenloch versenkt zu werden. Die schweglersche Metzgerei wäre der adäquate Platz und würde Herrn Kummer das richtige Andenken vor allem im Quartier bescheren. Die Lebensmittelverordnung aber wird dem wohl im Wege stehen. Zum Insektenesser wird noch mancher werden, doch Herrn Kummers Urne in Schweglers Metzgerei grenzt an Kannibalismus, verschlossen oder offen.

    Herr Berchtold wird denken während des mit Pfisters gemeinsam absolvierten Ganges zu Herrn Kummers Abgangsfeierlichkeiten. Herr Berchtold tut das nicht immer, denn schon seit einigen Jahren hat er sich angewöhnt, hin und wieder nicht zu denken. Erst ganz bewusst, inzwischen auch spontan und etwas unkontrolliert. Er denkt dann: »Nun denke ich nicht.«

    Dies hat Herrn Berchtold das erste Mal sehr verwundert, was den Sachverhalt recht genau trifft, denn anstatt zu denken, wunderte er sich.

    Dieses Wundern war Herrn Berchtold recht angenehm und er mochte es gar nicht mehr missen. Herr Berchtold hatte als Versicherungsinspektor sehr viel gedacht und sich nur selten gewundert. Ja, es war seine Aufgabe gewesen, dem Wundern den Garaus zu machen. Nach der Pensionierung jedoch gelang es ihm, sich zu wundern.

    Nun war aber das Wundern Herrn Berchtold nicht ganz unbekannt, schließlich war er aus Liebeskummer in jungen Jahren in die Fremdenlegion eingetreten, kaum ein sehr gedankenvoller Akt, und hatte in Afrika doch einige Wunderlichkeiten erlebt, Wunderlichkeiten, die er im Nachhinein sicher weniger wunderlich empfindet oder beurteilt, je nach Modus, Denk- oder Wundermodus, der eben sein Hirn regiert. Und so wurde Herr Berchtold im damals für den jungen Legionär so wunderlichen Afrika zum Versicherungsinspektor und damit zum Denkenden, Wunderbegreifenden, um es als Pensionär wieder abzulegen, eine zweifellos beachtliche Leistung für einen Pensionär, der im Allgemeinen ja dazu neigt, in gewohntem Tritt weiterzudenken, bis es einfach aufhört.

    Herr Berchtold aber hat es geschafft, hin und wieder nicht zu denken und dabei anstatt in der Art der Jugend, sich in Un- oder Übermut zu verlieren, angenehme Ausgeglichenheit zu finden. Beinahe ließe sich vielleicht sagen, Herr Berchtold sei über das Erlebnis Fremdenlegion und die darauffolgende Meditation als Versicherungsinspektor zu einem Buddha geworden. Allerdings lässt es Herr Berchtold dann doch nicht ganz zu, diese Fähigkeit des gewollten Nichtdenkens allzu stark nach außen zu tragen. Er hat auch Spaß am Denken und an sich selbst als Figur. Die Figur Pensionierter Versicherungsinspektor Herr Berchtold ist ihm sympathisch und regt ihn zum Schmunzeln an. Dann schmunzelt er im Denkmodus einfach so über sich und denkt hübsch weiter, um weiteren Stoff fürs Schmunzeln zu haben. Er hält etwa vor sich selbst ein kleines Referat über Schmorbrandfälle und schmunzelt dazu oder nebenher oder darob. Man mag das Narzissmus nennen, Herr Berchtold schmunzelt trotzdem.

    Es ist ja so, dass Herr Berchtold nicht der einzige Nichtdenkende sein wird. Außer einigen darauf zu prüfenden Bestattungsteilnehmern wird vor allem Herr Kummer der große Nichtdenkende sein. Zerstäubt in der afrikanischen Heuschreckurne liegend, wird er das für alle erreichbare und leider Gottes auch unbedingte Vorbild sein, ob denkend oder nicht denkend. Herr Kummer wird jedoch sehr wohl denken, wie ja alle Toten noch etwas weiterdenken in den Köpfen der Trauernden, wenn man das Denken nur auf die Köpfe von menschlichen Wesen reduzieren will und nicht auch auf Friedhofsamseln, die durch den Anblick eines übergroßen Heuschrecks zum Denken angeregt werden, um der Irritation Herr zu werden, die eine solche Heuschreckurne bei Amseln bewirkt. Ganz nervös werden sie das Gewicht ihres grauschwarz befiederten Amselkörpers von einem Amselfuß auf den anderen gerade daneben verlagern.

    Doch noch wird es nicht so weit sein, denn Herr Kummer und seine Urne werden in der Aufbahrungskapelle auf die Trauernden warten und die Amseln draußen in den Büschen der Friedhofshecke. Die Hinterlassenschaft von Herrn Kummer wird in geordneter Weise beglücken.

    Afrika ist ein geordneter Kontinent, mitten im Dschungel und auf Elefantenrücken des Hochlandes entzweigeteilt durch den Äquator, gesäumt von Steppe und Wüste.

    Schwegler hat wieder eine geordnete Metzgerei.

    Pfister lebt in einem von seiner Frau geordneten Haushalt.

    Herr Berchtold hatte ein geordnetes Leben, beginnt aber nun doch langsam etwas zu verwahrlosen. Oh welch schöne Ordnung zuweilen in Herrn Berchtolds Kopf anzutreffen war. Früher aber und auch heute wieder und auch auf Herrn Kummers Beerdigung steht der vorhandenen Ordnung zu viel an Masse entgegen. Herr Berchtold wäre denn in lichten Momenten auch froh um etwas weniger Hirn, um der schrumpfenden Kraft des Ordnens etwas mehr Überblick und so effizienteres Denken im Kleinen zu verschaffen. In der Jugendzeit wurde dieses Missverhältnis von der Lehrerschaft und den Offizieren der Fremdenlegion zurechtgestutzt. Im Alter aber finden sich nicht immer zur rechten Zeit die richtigen Leute, Hirngärtner sozusagen, die einen adäquat stutzen und frisieren. Nicht alle Herren dieser Welt haben wie Pfister eine Frau wie Heidi zu Hause, die den Herrn schon in jungen Jahren gut beobachtet. Allerdings darf sich Herr Berchtold recht glücklich schätzen mit dem Verlauf seiner Altersverdummung, die, gewissen Menschen als Altersweisheit ausgelegt, sogar eine letzte Blüte ermöglicht. Generell lässt sich sicher sagen, dass die Vorbereitung auf die Verdummung in jeder Lebenslage äußerst angezeigt ist. Diese Art Vorbereitung ist von größerer Bedeutung als jede finanzielle und materielle Vorsorge. Die finanzielle und materielle Vorsorge sollte lediglich genau diesen Aspekt, eben den finanziellen und materiellen, abdecken oder schlicht erledigen und ist ja nicht gar so schwer wie eben die Vorbereitung auf die Verdummung. Die Verdummung aber bedroht uns immer, die Physiker reden von Entropie. Die Verdummung von Herrn Kummer wird bei seiner Bestattung den Höhepunkt erreichen, wie das so üblich ist, wenn man eingeäschert in der Urne liegt.

    Metzger Schwegler nun wird von der anderen Straßenseite her verhalten rufen: »Guten Morgen«, um sich dem Trauerzug anzuschließen, denn der Trauerzug Pfister Fredi, Pfister Heidi und Herr Berchtold wird etwas in sich gekehrt dahingehen. Nicht dass sich Schwegler unbedingt diesem Trauerzug wird anschließen wollen, es wird ihm in gewisser Weise sogar lieber sein, allein zu Herrn Kummers Urne zu gehen, aber er kann ja auch nicht unbemerkt auf der anderen Straßenseite bleiben. So wird Schwegler in den Zug aufgenommen werden, wird die Straße überqueren und alle mit etwas traurig gestelltem Blick per Handschlag begrüßen. Zu Hause wird währenddessen ein halbes Kalb im neu errichteten Kühlraum hängen.

    Schwegler ist immer wieder entsetzt über seinen Beruf, denkt aber nicht ans Aufhören. Die kalte Platte des Leichenmahls wird er spendieren. Herr Kummer wird es ihm danken, in der Urne drin. Schwegler wäre so gern Vegetarier geworden wie Herr Kummer Fleischfresser, gern und ambivalent. Schwegler schloss, schließt und wird nicht ausschließen, dass er aufs Alter hin tatsächlich noch zum Vegetarier wird.

    Das Kalb ist ein glückliches und weidet zurzeit noch zusammen mit seiner Mutter, Elsa gerufen, auf einer schönen Wiese, geziert mit Nuss- und Apfelbäumen. Auf dieser Wiese weiden achtzehn weitere Kühe, sieben Kälber und der Stier Anton. Anton ist von mildem Gemüt und lässt sich vom Bauer brav führen. Einen Nasenring hat er trotzdem. Anton ist noch jung und hat dank seines sanften Gemütes und gewissen genetischen Eigenschaften ein recht langes Leben vor sich. Er ist gut gebaut, gesund und wenig krankheitsanfällig, aber mit dem Austragen von Kälbern und deren Aufzucht kennt er sich nicht groß aus. Elsa aber, mit Anton nicht verwandt, ist schon recht routiniert in diesem Geschäft und stellt Kalb um Kalb auf die Welt.

    Es ist ein grausames Schauspiel, das Ende von Elsas Kälbern. Nicht für Elsa, nicht für die Kälber, vielleicht auch nicht für den Schlachter, für den unbeteiligten Besucher allerdings schon. Junge Kälber, hängend, tot, denen das Fell mit Ketten vom Leib gezogen wird. Schwegler hat es gemacht in seiner Lehrzeit, ja. Alles nicht so schlimm, auch das Töten, doch die Ketten, diese Ketten am Kalb. Für Schwegler nach wie vor das Schlimmste an der Schlachterei, die Ketten, nicht der Bolzenschuss, nicht die Messer, nicht die Säge, nicht das Abhacken der Kalbsfüße, nichts von dem, nur an die Ketten konnte er sich nie gewöhnen. Schwegler trägt Schweins- oder zumindest Rindsleder, Kalbsleder wenn möglich nicht.

    Pfister zieht es nach Afrika zu den Heuschrecken, Sahel vielleicht. Es wird ihn beim Promenieren dahinziehen,

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