Das Genom Projekt
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Buchvorschau
Das Genom Projekt - Martin Piotrowski
wurden.
IN NAHER ZUKUNFT …
Samstag, 08:00 Uhr
»Mein Gott! Was haben wir getan?«, murmelt der Mann ehrfürchtig und weicht von der Tür mit der Glasscheibe in der oberen Hälfte zurück. Dr. Schwarz dreht sich von der Experimentalkammer weg und blickt durch seine Brille mit kleinen runden Gläsern in das Laboratorium. Seine Augen wirken durch das dicke Glas stark vergrößert. Er streicht sich mit der Hand über seine Halbglatze, die von einem Kranz spärlicher weißer Haare umgeben ist. Die andere Hand hält er in der Tasche seines weißen Laborkittels, um ihr Zittern zu verstecken. Der Kittel ist für seine schmächtige Gestalt eine Nummer zu groß. Dr. Schwarz seufzt und bewegt seinen 60 Jahre alten Körper von der gesicherten Tür hinter ihm schlurfend weg. Die jahrelange Laborarbeit hat ihre Spuren in seinem fahlen Gesicht eingegraben.
Er befindet sich in einem großen Laborraum, in dem mehrere Tische und Stühle verteilt aufgebaut sind. Auf einigen Tischen stehen verschiedene Versuchsanordnungen, während auf anderen Tischen Zentrifugen ihren Platz finden. Von diesem Raum führen vier Türen in benachbarte Labore. Es gibt einen 37-Grad-Raum, einen Kühlraum mit Schränken, in dem hunderte Reagenzgläser mit diversen Proben lagern. Ein weiterer Raum wird als UV-Raum bezeichnet. Und dann gibt es da noch die »Kammer«, den Versuchsraum.
Der Ausgang zum Flur ist durch eine elektrische Schiebetür verschlossen. An der Decke läuft ein etwa ein Quadratmeter großer, quadratischer Metallschacht entlang, der die Anlage mit klimatisierter und sterilisierter Luft versorgt. Im Abstand von etwa drei Metern sind Lüftungsgitter an der Unterseite des Schachtes angebracht, um die Luft im Raum zirkulieren zu lassen. Der im Raum unter der Decke entlanglaufende Klimaschacht verschwindet über der Schiebetür und mündet auf den dahinterliegenden Flur, von wo er sich in dem gesamten Komplex dieser Ebene verteilt.
An einem Computerarbeitsplatz in der Mitte des Raumes sitzt ein junger Mann. Er arbeitet konzentriert an dem PC und sieht daher nicht, wie der alte Mann sichtlich erschüttert kopfschüttelnd zu ihm tritt. Dr. Schwarz blickt auf seinen jungen Assistenten. Tobias Möhle ist 29 und knapp 1,90 m groß. Er hat etwas Schlaksiges an sich, das ihn sympathisch wirken lässt. So, wie ein groß gewachsener Junge. Möhle trägt, wie Schwarz, eine Brille auf seiner blassen Nase. Sein Riechorgan ist lang und steht etwas gekrümmt in seinem Gesicht. Seine kurzen, blonden Haare wirken stoppelig. Als Kind hatten seine Eltern es versäumt, die abstehenden Ohren anlegen zu lassen. Möhle trägt ebenfalls einen weißen Laborkittel, aus dessen Brusttasche diverse Stifte und Kugelschreiber hervorschauen.
Die beiden Männer betrachten interessiert den großen Monitor. Auf dem Bildschirm läuft ein Computerprogramm, welches Zahlen, Daten und Skalen auf die Bildfläche projiziert. Auf dem oberen Monitorrand ist eine Kamera installiert, die mit ihrem Weitwinkel die Tätigkeiten des Computerarbeitsplatzes an einen anderen Ort und PC überträgt. Das rote Licht neben der Linse leuchtet matt. Sowohl Möhle als auch Schwarz ist bewusst, dass ihr Handeln nachvollzogen werden kann.
Möhle schiebt die Maus und der kleine Zeiger in Pfeilform gleitet über den Bildschirm auf ein Skalenfeld. Ein Rechtsklick und das Skalenfeld ändert sein Aussehen. Zusätzliche Fenster poppen auf, auf denen weitere Zahlen und Daten zu erkennen sind, die sich ständig verändern.
Möhle grunzt unzufrieden. Ein kleines Fenster zeigt einen Balken in rot und eine negative Zahl von 19 %. Der Assistent klickt ein anderes Symbol an und über den eingebauten Lautsprecher im Monitor erschallen rhythmische Geräusche. Das gleichmäßige dumpfe Stampfen aus den Lautsprechern zerrt nach kurzer Zeit an den Nerven der beiden Männer. Entschlossen klickt Möhle den Ton weg und blickt sorgenvoll auf Dr. Schwarz.
»Wir sollten Genom 23 erst zu Ende bringen, wenn wir sicher sind. Bei einer Fehlfunktion ist das Experiment nicht beherrschbar – zu gefährlich!«
Dr. Schwarz fasst sich ins faltige Gesicht und reibt sich sein Kinn.
»Professor Bachmann besteht darauf! Es muss dieses Wochenende durchgeführt werden. Er braucht eine Entscheidung. Schließlich will er am Montag dem Aufsichtsrat das Ergebnis präsentieren. Es geht um Geld – viel Geld. Sie fahren fort, wie besprochen. Wenn... etwas sein sollte, melden Sie es dem Sicherheitsdienst, der heute die Nachtschicht antritt. Der Tagdienst ist schon informiert, dass Sie sich hier aufhalten und übers Wochenende hier unten bleiben. Wünsche angenehmes Arbeiten, Möhle.«
Dr. Schwarz geht mit schnellen Schritten zum Ausgang. An der Tür hält er inne und blickt zu seinem Assistenten zurück.
»Machen Sie in Ruhe ihren Job, dann wird alles gut. Läuft es, wie erwartet, können Sie Montag mit einer fetten Gehaltserhöhung rechnen!«
Dr. Schwarz zieht eine Magnetkarte durch einen Schlitz an der Tür und die Schiebetür gleitet mit einem Zischen auf. Er tritt auf einen Flur, während hinter ihm der Eingang zum Labor mit einem sanften Seufzen zugleitet und seinen Assistenten allein zurücklässt. Der Gang ist gut drei Meter breit und etwa drei Meter hoch. An den Seiten stehen Kisten, Käfige und Rollcontainer in verschiedenen Größen und engen den Gang ein. An der Decke verläuft der Klimakanal in beide Richtungen. In Abständen von fünf Metern sind Neonröhren unter die Decke montiert, die mit ihrem kalten Licht den Flur in steriles Weiß tauchen. Dr. Schwarz blickt sorgenvoll auf die Notbeleuchtung, die an den Wänden entlang führt. Die roten Lampen sind dunkel und sehen wie blutige Pickel an der weißen Wand aus.
Schwarz blickt nach rechts und sieht am Ende des langen Ganges eine doppelflügelige Stahltür, die mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert ist. Der Wissenschaftler atmet tief ein und aus. Dann geht er nach links. Neben und gegenüber dem Hauptlabor, in dem Möhle auf ihr finales Experiment aufpasst, befinden sich weitere Labore und Versorgungsräume. Hinter Glastüren sind Tierschreie zu hören. Andere Räume sind dunkel. Der Wissenschaftler kreuzt Gänge, die zu anderen Räumlichkeiten und Labore führen. Schwarz eilt durch den schachbrettartigen Laborkomplex zu dem entfernten Fahrstuhl, der ihn wieder aus der klaustrophobischen Enge und der Tiefe an die Oberfläche der Anlage bringen wird.
*
Tobias Möhle flucht leise, als der alte Mann aus dem Labor verschwunden ist. Er steht auf und geht aus dem Sichtbereich der Kamera. Dann greift er das auf dem Tisch stehende Telefon und tippt auf die Null. Nach einer kurzen Verzögerung meldet sich eine verschlafene männliche Stimme.
»Zentrale.«
»Möhle hier. Bitte verbinden sie mich mit Essen, 47892613. Danke!«
Der Mann in der Zentrale brummt etwas Unverständliches und das Wartezeichen ertönt. Dann schaltet die Telefonanlage auf Ruf. Möhle zählt mit. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal, viermal...
»Schmitz hier«, erschallt eine weibliche Stimme von der anderen Seite der Leitung. Möhle grinst.
»Tobi hier. Morgen Schatz.«
»Oh, hi. Kannst es wohl ohne mich nicht aushalten, hm?«
»Ist ja schon zwei Stunden her, als ich dich das letzte Mal gefühlt habe.«
Möhle grinst diebisch und denkt an heute früh, als er Jasmin, seine langjährige Dauerfreundin, liebevoll überrascht hatte. Eine schnelle Nummer vor der Arbeit und sein Tag ist gerettet. Möhle weiß immer noch nicht genau, warum seine Freundin auf ihn steht. Vielleicht war es die eine Sache, die er immer noch gut drauf hat. Solange es mit ihm und Jasmin im Bett läuft, scheint sie keine Anstalten zu machen, sich nach einem besser aussehenden Typen oder einem besser verdienenden Mann umzusehen. Wobei er ihr ab Montag das liefern könnte, wenn alles so klappte, wie Dr. Schwarz und Professor Bachmann es vorausgesagt haben.
»Du weißt, ich muss dieses Wochenende hier im Labor verbringen. Wir haben gerade ein neues Experiment laufen, das ich überwachen muss. Ab Montag kann ich freinehmen. Dann können wir ein paar Tage weg. Wie wäre es mit einem Last Minute Flug von Düsseldorf ab in die Sonne?«
»Das wäre prima. Ich freue mich. Du verrückter Kerl mit deinen großen Ohren! Ich liebe dich. Pass auf dich auf, ok?«
»Wird schon schiefgehen, Jas. Wir sehen uns am Montag. Du kannst schon die Koffer packen. Lieb dich auch. Ciao!«
Möhle unterbricht die Verbindung und legt auf. Ein Piepen vom Monitor erregt seine Aufmerksamkeit. Seine Freundin und der Kurztrip in die Sonne rücken in den Hintergrund, als er um den Tisch zum Terminal zurückkehrt. Der negative Prozentsatz ist gestiegen und der rote Balken ist deutlich angewachsen. Besorgt lässt Möhle ein paar Tests laufen. Während die Software arbeitet, kaut er nervös auf seinen schmalen Lippen. Was, wenn doch was schief läuft, denkt er bei sich und beobachtet mit geschäftigem Blick den 27-Zöller.
Samstag, 08:30 Uhr
»Auf was habe ich mich eingelassen«, murmelt Sarah Pieters vor sich hin. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen um die vor ihr stehende Menschenmenge zu überblicken. Doch das war so gut wie unmöglich. Mit einer Hand streicht sie sich nervös über ihre rot-blonde Haarmähne. Die schulterlangen gelockten Haare liegen über ihrem dunklen Anorak. Die hübsche junge Frau wird von mehr als nur einem Mann aus der Menge taxiert. Mit ihrem Aussehen gleicht sie einem Teenager von vielleicht 17 Jahren, obwohl sie auf die Mitte 20 zugeht. Wer Sarah in die ernst blickenden meergrünen Augen schaut, merkt schnell, dass hinter der Fassade des Mädchens eine Frau mit Lebenserfahrung steckt. Aufmerksam betrachtet sie vom Rand des Parkplatzes die vor ihr skandierende Menge.
»Schluss mit Tierversuchen! Schluss mit Tierversuchen!«
Die Demonstranten schreien ihre Wut in Richtung Tor der B-T-I AG, die ihre Pforten am Technologiepark, auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Hubert in Essen-Frillendorf, geschlossen hatte. Das Biologisch-Technische-Institut wird durch die örtliche Polizei vor möglichen Übergriffen der demonstrierenden Menschen geschützt. Die in schweren Kampfanzügen gekleideten Gesetzeshüter haben einen Absperrriegel vor dem Zaun und dem Werkstor gezogen, und halten die Menge ab, sich dem Privatgelände weiter zu nähern. Vor dem Zaun stehen eine Reihe Kastanienbäume, die ihre dicken Äste in alle Richtungen strecken.
Sarah betrachtet den gut zwei Meter hohen Metallzaun. In kurzen Abständen sind Schilder angebracht, die das unbefugte Betreten verbieten. Zudem ist ein Symbol vorhanden, was darauf hinweist, dass die Zaunoberkante elektrisch gesichert wird. Sarah schaudert bei dem Gedanken, mit einem geladenen Eisenzaun in Berührung zu kommen. Hinter dem Zaun liegt eine gepflegte Rasenfläche, auf der in Abständen kleine, buschige Ziersträucher gepflanzt sind, die dem Gelände des Instituts etwas Parkähnliches verleihen. Dahinter erstreckt sich der zweigeschossige Bau der Firma.
Sarah wusste von ihren Ermittlungen, dass dies nur ein Teil des Betriebsgeländes ist, welches man von der Straße einsehen kann. Es befinden sich noch ältere Gebäude auf dem Areal, teilweise aus der Zeit der Zeche Helene. Das ganze Grundstück geht bis an die dahinter vorbeiführende A 40, der Hauptverkehrsader durch das Ruhrgebiet.
Die Demonstranten recken selbst gemalte Schilder in die Höhe. Plakate und Transparente werden geschwenkt. Sarah kann verschiedene Gruppen innerhalb der hier erschienenen Menschen ausmachen. Direkt vor dem Werkstor stehen Mitglieder des BDT