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Diamantdrache: Feuerrosen 1
Diamantdrache: Feuerrosen 1
Diamantdrache: Feuerrosen 1
eBook583 Seiten8 Stunden

Diamantdrache: Feuerrosen 1

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Über dieses E-Book

Nichts als Staub und Asche bedeckt das Königreich Candiora, über welches Ewalyn eines Tages herrschen soll. Auf ihren Schultern lastet die Bürde eines hungernden Volkes, das schon seit vielen Jahrhunderten von einem Drachen terrorisiert wird. Die Bestie von Dorion verbrennt Getreidespeicher, tötet ohne Reue und ist gleichzeitig der Hüter einer fremden Welt. Denn im Schatten der Berge von Dorion befindet sich Dahana. Dort gibt es einen Überfluss an Nahrung, fruchtbaren Boden und Hoffnung auf eine Zukunft.
Um ihren Untertanen zu helfen, begibt sich Ewa auf eine gefährliche Reise. Sie stellt sich der Bestie und erkennt, dass sich hinter den goldenen Augen ein Mann verbirgt, der einst einem mächtigen Fluch zum Opfer fiel. Nicht einmal die Liebe kann seinen Panzer durchdringen, denn sein Herz ist umschlossen von Diamant. Bereits ein einziger Kuss könnte für sie beide tödlich enden.
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum3. März 2017
ISBN9783946172352
Diamantdrache: Feuerrosen 1

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    Buchvorschau

    Diamantdrache - Marie-Luis Rönisch

    Nichts.

    Prolog

    Cassius blickte verträumt zum Himmel und malte sich eine Zukunft mit seiner wunderschönen Frau aus. Die Wolken formten sich zu freischwebenden Bildern und erinnerten ihn an eine Zeit, bevor er die Last der beiden Welten auf seinen Schultern tragen musste …

    Einst beschenkte ihn die Natur mit dem Hauch der Magie. Seine Selbstlosigkeit und Liebe hatten in den Göttern, welche verborgen in den Winden lebten, Hoffnung geweckt. Seit jeher war Cassius unvoreingenommen, hegte Gefühle für beide Reiche und kämpfte für jeden Unschuldigen, egal ob Mensch oder Wesen. Wesen, so wurden wohlwollend jene Geschöpfe genannt, die in Dahana, dem mystischen Reich neben dem der Sterblichen, lebten. Man sprach von niederen Kreaturen, die sich nach dem Blut der Menschen verzehrten und ihre Gaben zum Morden einsetzten. Diese Wesen sollten schon bald zu seiner Lebensaufgabe werden.

    Cassius folgte der Bitte der Götter und nahm sich derer an, die sich nicht allein zu verteidigen wussten. Er sprach vor den Menschen, seinen eigenen Leuten, um die Wesen von Dahana zu schützen. Schon immer waren es die Menschen gewesen, die sich – angetrieben durch einen gierigen König, naiven Thronerben oder grausamen Herrscher – das kostbare Land und die Gaben der dort lebenden Geschöpfe einverleiben wollten. Man beutete ihre Erde aus, stahl ihre Ressourcen, nahm ihnen das Heim, trennte Familien. Die Landschaft war durch Kriege gezeichnet. Die Herrschaft der Menschen dauerte bereits Jahrhunderte an und sollte nun, mit Cassius als Vermittler, enden. Statt ihn für seine Taten mit Reichtum zu überschütten, gaben ihm die Götter eine unvorstellbare Macht, um Gerechtigkeit in seiner Welt geltend machen zu können.

    Während Cassius treu seiner Aufgabe nachging, die ersten Schlachten stoppte oder hinauszögerte, verbrachte er die meiste Zeit im Kreise der Ausgestoßenen, der Töchter und Söhne von Dahana. Er vermochte nie mit Gewissheit zu sagen, welchem Geschöpf er gerade in die Augen sah. Meist erblickte er lediglich ein flüchtiges Funkeln in einer sonderbaren Farbe. Er versuchte, ihre Seelen zu ergründen und scharrte sie als Freunde um sich, bis er auf die Eine traf, die sein Herz zum Beben brachte.

    Myra war eine vollkommene Schönheit mit blondem Haar, einer roten Aura und einem Feuer in ihrer Iris, das zumindest ein wenig über ihre Herkunft preisgab. Als Anführerin ihres Stammes ragte sie aus der Gruppe heraus, trug ihre schwarze, hautenge Kleidung voller Stolz, denn sie war von den Flammen geküsst worden. Das Symbol des Phönixes leuchtete auf ihrem Schulterblatt und Cassius folgte dem Zwang, es zu berühren. Es brauchte nicht lange und die beiden verliebten sich ineinander.

    Die Völker, die ewige Zeiten im Krieg lagen, wurden durch dieses Band des Schicksals miteinander verknüpft. Das Paar erhielt Zuspruch auf beiden Seiten, denn Cassius zog es vor, die Menschen aufzuklären, und Myra nahm ihren Freunden, ihrer Familie, den Hass auf das Königreich hinter dem Nebel. Schon bald standen sie kurz vor einer Einigung und der Reichtum, den sie ihren Welten dadurch verleihen konnten, schien grenzenlos. Nicht allein Gold und Nahrung zählten zu den wichtigsten Gütern, sondern auch der Frieden, der das fröhliche Kinderlachen zurück auf die Straßen holen würde.

    Die Wolkenschleier hatten sich inzwischen zu einem Wesen mit sonderbaren Schwingen geformt. Die Abendröte ließ die Gestalt erstrahlen und erweckte den Gedanken, dass Cassius einen Phönix am Himmel betrachtete.

    Heute war ein wichtiger Tag für ihn. Myra und er würden gemeinsam die letzten Schritte für den Frieden planen und schon morgen ein Treffen mit dem König aushandeln. Noch immer ruhte Cassius auf der grasgrünen Wiese, die saftig genug war, dass sich so manche Pflanzenfresser hier tummelten. Schmatzend stand ein Accyn neben ihm, welches die frischen Kräuter genoss. Cassius richtete sich auf, strich dem Wesen über die Mähne und klopfte ihm sanft auf das Hinterteil. Das Accyn schnaufte und vergrub seinen Kopf wieder in den langen Halmen der Wiese.

    Cassius pflückte einige Blumen und band sie zu einem bunten Strauß zusammen. Dann machte er sich auf den Weg zu seiner Hütte, die am Fuße des Gebirges Dorion lag. Sie war aus einfachem Holz gebaut worden und bot gerade genug Platz für ein großes Ehebett, eine Nischenküche mit offener Feuerstelle und ein Vorratslager – was sich in seinem Fall auf ein altes Regal beschränkte. Seit einigen Wochen ruhte neben ihrem Bett eine Wiege, deren Holzstränge er selbst geflochten hatte. Myra hatte Cassius am ersten Sommertag zum glücklichsten Mann in beiden Reichen gemacht – durch die Geburt seines Kindes.

    Cassius lief den Hügel hinab, kam vorbei an einer eingefallenen Höhle eines Berges. Als er in der Ferne sein Haus erblickte, stockte sein Atem. Er sah keine Hütte aus Holz, keine Wäsche, die zum Trocknen in einer aufkommenden Brise flatterte, und er vernahm ebenfalls nicht das Lachen seiner Frau. Stattdessen schlugen Flammen bis zum Himmel hinauf, erleuchteten die Gegend und versengten selbst den angrenzenden Wald. Er hörte die Schreie seiner Geliebten, das Weinen seines Babys und rannte los. Das Verlangen, seine Frau und sein Kind zu schützen, stieg ins Unermessliche. Würde er sie rechtzeitig erreichen? Was war überhaupt geschehen?

    Cassius stolperte über einige Steine, denn der Boden zwischen dem Wald und dem Hügel bestand aus Geröll. Trotzdem hetzte er weiter. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die letzten Meter ließ er in wenigen Wimpernschlägen hinter sich. Dann war er da.

    Vor ihm tauchten etwa dreißig Männer auf – Soldaten des Königs – soweit er das erkennen konnte. In feine Rüstungen gehüllt, mit Schwertern bewaffnet und von einem General angetrieben, stürzten die Soldaten auf ihn zu. Sie hatten sich im Schatten des Berges aufgehalten und kamen für Cassius aus dem Nichts. Es war für ihn unverzeihlich, dass ihn dieser Angriff überraschte.

    Cassius streckte seine Hand aus. Er wollte diese Männer vor einer Dummheit bewahren. Seine Magie kitzelte an seinen Fingerspitzen. Ein unglaubliches Gefühl, das er nicht zulassen wollte. Würde er diesen Soldaten etwas antun, wäre ein Krieg unausweichlich.

    Seine Augen weiteten sich, als er einen jungen Burschen erblickte, der eine zierliche Frau in den Armen hielt. Er war der Einzige, der sich nicht an Cassius’ Hab und Gut vergriff. Dunkles Haar hing ihm wirr in die Stirn. Die silberne Rüstung funkelte auf eine seltsame Weise schwarz. Seine Augen leuchteten blau.

    Der Bursche wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine rechte Wange war mit Blut besudelt. Das Schwert war seinen behandschuhten Fingern längst entglitten. Die Klinge war rot vom Blut seines Opfers. Er zitterte, erbebte scheinbar unter dem Wissen der Schuld, die seine Miene völlig verzerrte. Er presste die Frau fester an sich und obwohl Cassius nicht in der Lage war, ihr Gesicht zu erkennen, wusste er, um wen es sich handelte. Myra. Seine geliebte Myra lag tot in den Armen ihres Mörders. An ihrer Brust ragte ein Bündel hervor. Sein Kind, eingehüllt in ein weißes Tuch, welches mehrere Blutflecken aufwies.

    „Was habt ihr getan?", schrie Cassius und wollte zu seiner Familie, doch die Soldaten drängten ihn zurück.

    Sie richteten ihre Schwerter auf ihn, attackierten ihn, konnten seinem Zorn allerdings nicht standhalten. Die Magie entlud sich über seine Fingerspitzen und er genoss das Kribbeln, das sich durch all seine angestaute Wut in ein schmerzendes Stechen verwandelte. Für diesen einen Augenblick verdrängte Cassius den Wunsch der Götter aus seinen Gedanken. Es war ihm gleich, was mit diesen Männern geschehen würde. Einzig ihr Tod konnte ihm die Erfüllung bringen, nach welcher er sich sehnte.

    Cassius stürzte nach vorn, breitete seine Arme in je eine Richtung aus und stieß unter dem Gebrauch seiner Macht seine Feinde von sich. Das Geräusch der metallischen Klingen, die die Luft zerschnitten, verhallte. Lediglich das Knistern der Flammen und das Keuchen des Mörders waren zu vernehmen.

    Cassius stellte sich ihm entgegen. Er war überwältigt von seinen Emotionen, unfähig, sich bei diesem Anblick länger auf den Beinen zu halten. Der junge Soldat legte Myra behutsam ab und trat einige Schritte zurück. Seine Augen baten um Vergebung, seine Lippen formten Worte, die seine Verzweiflung schließlich erstickte.

    Cassius ließ sich auf die Knie fallen. Behutsam zog er Myra zu sich, legte seine Stirn an ihre und lauschte ihrem längst nicht mehr schlagenden Herzen. Ihr Körper war warm, doch die innere Flamme war erloschen. Er fuhr mit seinen Fingern durch ihr von Blut verklebtes Haar. Hin und wieder lösten sich dabei einige blaue Funken von seiner Haut und huschten durch die blonden Strähnen. An ihrer Wange konnte man eine Schramme erkennen, der Rest ihres Gesichtes war bleich. Jemand hatte Myra geschlagen, sie aufs Schlimmste misshandelt. Unter ihren Nägeln sammelten sich Haut und Blut. Somit war sich Cassius sicher, dass seine Liebste bis zu ihrem Ende gekämpft hatte, um ihr Kind und sich selbst zu schützen. Das schneeweiße Kleid schmiegte sich, feucht von Blut, an ihre Taille. Cassius hielt ihren Kopf mit einer Hand und küsste sie innig. Ihre Lippen schmeckten metallisch und längst nicht mehr so süß, wie er es gewöhnt war. Tränen brannten in seinen Augen und raubten ihm die Sicht. Er musste sie beiseite wischen, um die verblassende Schönheit seiner geliebten Frau zu sehen.

    „Verlass mich nicht, Myra!", flehte er, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war. Er wiegte sie in seinen Armen. Sein Herz rebellierte in seiner Brust. Erst das Glucksen des Kindes forderte seine Aufmerksamkeit.

    Cassius nahm das Bündel an sich. Die Finger seiner Frau hielten es noch immer umklammert, als würde sie das Kind auch nach dem Tod weiterhin behüten wollen. Wie lange war er fort gewesen? Wann hatte der Tod Myras Leben gefordert?

    Von Wut gepackt, blickte er zu dem einzigen Feind hinüber, der ihm geblieben war. Dem Mörder. Ein junger Bursche, der seine Hände betend gen Himmel geneigt hatte. Seine Worte jedoch richtete er nicht an die Götter, sondern an Cassius selbst.

    „Ich wollte das nicht, versicherte er ihm. „Sie sollte nicht sterben! Seine Augen waren vom Weinen gerötet. Immer wieder biss er sich auf seine Unterlippe, sodass inzwischen ein Rinnsal an Blut daran hinab lief. „Ich konnte sie nicht retten."

    „Sie retten? Du hast sie getötet! Cassius presste sein Kind an sich. Es war das Einzige, das dieser unbarmherzige Soldat ihm nicht hatte nehmen können. „Deinetwegen ist sie tot!

    Dieser leugnete die Tat nicht einmal, sondern senkte lediglich seine Schultern. Cassius konnte deutlich seine Angst riechen und er rümpfte die Nase.

    „Steh zu deinem Vergehen, andernfalls wird dich die Unterwelt begrüßen und deine Seele in die Verdammnis stürzen."

    Der Soldat fiel vor Cassius auf seine Knie. „Bitte, Herr, vergebt mir!"

    Er fürchtete sich. Zu Recht! Was Cassius ihm antun würde, sollte die Jahrhunderte überdauern und für jeden seiner Feinde als Abschreckung dienen. Der Tod allein wäre eine gnädige Bestrafung und für einen Mörder wie ihn ein zu schnelles Ende. Daher entschied sich Cassius für einen mächtigen Fluch, den nicht einmal er selbst jemals brechen könnte. Er streckte eine Hand nach dem Mörder aus und nuschelte einige Worte in der Sprache der Dahaner, die von einem Schluchzer verschluckt wurden. Blaue Funken kitzelten an seinen Fingern und legten sich wie Ketten um die Gliedmaßen des Mannes. Er fasste sich an seine Brust, stieß ein Wimmern aus und riss sich sowohl Kleidung als auch Haut vom Leib. Sein Fleisch dampfte, brannte und erstrahlte in einem gefährlichen Rot, wie Glut, welche jedoch niemals erlöschen würde. Er wand sich, rutschte über den Boden und starb.

    Sowie er seine Augen, welche von Blut verklebt waren, wieder aufschlug, lauerte in ihnen ein gefährlicher, goldener Ton. Cassius wollte den Mörder seiner Frau leiden sehen. Deshalb erschuf er ein wahres Monster, das sowohl der König als auch seine Nachkommen zu fürchten hätten.

    Der Soldat verwandelte sich unter schrecklichen Qualen in ein Untier. Seine Knochen knackten in einem fürchterlichen Ton, sie wurden länger, brachen entzwei, um sich an einer anderen Stelle zu vereinen. Seine Haut riss auf, wuchs aber sofort nach und wurde mit Schuppen bedeckt. Sein letzter Schrei ging in ein hilfloses Keuchen über und schließlich war da nur Rauch, gefolgt von einem Atem aus Feuer.

    Cassius hatte den Soldaten in den ersten lebenden Drachen verwandelt, ein Kind der Flammen in seiner wahren Gestalt, unfähig, seine Erscheinung auf eigenen Wunsch hin zu verändern. Er würde dieses Geschöpf die Grenze zum Reich Dahana bewachen lassen. Jeder, der es wagte der Kreatur zu nahe zu kommen, wäre schon bald nur noch ein Häufchen Asche. „Ich verdamme dich dazu, mein Reich als Drache vor den Königen Candioras zu schützen. Und weil du mir das genommen hast, was ich am meisten begehrte, verfluche ich zudem dein Herz. Du wirst niemals in der Lage sein, schmerzlos zu lieben. Solltest du es dennoch versuchen, werden deine Gefühle einen qualvollen Tod bedeuten. Er atmete tief ein. „Dieser Fluch wird erst enden, wenn du das opferst, was dich am meisten innerlich zerstört.

    Macht staute sich in Cassius an, während sich der Hass durch ihn hindurchfraß. Er hatte mit Absicht verdrängt, wieso ihm die Geister der Natur diese Kräfte geschenkt hatten. Nun wollte er sie nutzen, um sich derer zu entledigen, die ihm alles genommen hatten. Sowie er einen Arm zum Himmel streckte, brach ein Sturm aus den Wolken hervor. Blitze sanken auf die Erde hinab und versengten das Getreide der Bauern auf den angrenzenden Feldern. Eine Flutwelle bäumte sich hinter Cassius auf, brachte den Fluss dazu, sich zu erheben. Die Welle kroch über das Land und riss Häuser mit sich. Elend überschwemmte Candiora, das Reich der Menschen. Ihre Nahrung würde zu Asche zerfallen und all das kostbare Wasser, das sie als selbstverständlich betrachteten, würde einem trügerischen Gift weichen. Die Winde würden den Geruch des Todes in alle Teile des Landes tragen. Jeder von ihnen würde den Fehler des Königs am eigenen Leib zu spüren bekommen.

    Cassius wandte sich ab. Er schmiegte das Baby an seine Brust und hielt es auf seinem rechten Arm, während er mit der freien Hand dem Drachen über die Schuppen streichelte. Seine Finger spürten die Zerstörungskraft, die in diesem Tier schlummerte. Dennoch spendete ihm die Wucht seines Hasses, mit der er die Menschen getroffen hatte, wenig Trost. Denn er könnte seinem Kind niemals das bieten, was es am meisten benötigte – eine Mutter. Darum beschloss er, sein Baby für die nächsten Jahre mit einem Zauber zu belegen, der es nicht altern lassen würde. Er plante, das Kind in einen tiefen Schlaf zu versetzen.

    Cassius zerschmetterte mit der Kraft seiner Gedanken das Gebirge von Dorion, direkt an der Grenze zu beiden Reichen. Er formte aus den Gesteinsbrocken einen Berg mit einer Höhle, die weit ins Innere reichte. Dort versteckte er seinen Erben. Mit einem Hauch von Magie erschuf er eine Schale, gepolstert und gerade groß genug, um das Kind wie in einem Bett ruhen zu lassen. Er ließ die Finger seiner freien Hand durch die Luft gleiten, bis blaue Funken dazu führten, dass sich seine Härchen aufstellten. Das Gestein entzog der Erde blutige Tropfen, filterte sie und füllte die Schale mit dem Lebenselixier des Drachen.

    Cassius dachte an die Überreste seiner Frau, die zwar in seinen Armen gelegen hatte, deren letzter Atemzug allerdings dem Fremden gehörte. Er rief den Phönix in ihr und erinnerte ihn an seine Pflicht. Asche ergoss sich aus seinem Ärmel, noch ehe er die flehenden Worte an seine tote Geliebte gerichtet hatte. Es waren die Überreste seiner Frau, welche sich nun mit dem Blut des Drachen vermischten. Wenn ein Phönix starb, konnte er zumeist aus seiner eigenen Asche auferstehen. Doch Myra war dies nicht gelungen, denn ihre Wunden stammten nicht von Feuer und Flammen, sondern von einem Menschen. Ihr war es keinesfalls vergönnt, dies zu überleben, hatte sie doch erst vor wenigen Wochen ihrem Kind das Leben geschenkt und somit an Kraft verloren. Nun sollten Mörder und Opfer auf ewig vereint sein, um den Schutz seines Kindes zu sichern. Blut und Asche würden das Kind während seines Schlafes behüten und vor Feinden bewahren.

    Er legte sein Baby sanft in die Schale hinein. Es streckte weinend die Finger nach Cassius aus. Er beugte sich vor und küsste es auf die Stirn. Cassius schluchzte, wollte es nicht verlassen. Das Baby schrie, als wüsste es, was nun folgen würde. Cassius wandte sich kurz ab, wischte seine Tränen von den Wangen. Sein Herz war schwer wie Blei.

    Der Drache schritt langsam auf die Wiege zu und so wie er das Kind musterte, verstummten die Schreie. Cassius drehte sich zu ihnen, streifte die Schuppen des Drachen. Er ließ seine Hände durch die Luft gleiten, sprach einige Worte, deren Sinn das Kind gewiss niemals verstehen würde und versetzte es in einen tiefen Schlaf. Der Drache würde das Kind behüten und mit seinem Leben verteidigen. Es sollte nicht eher erwachen, bis er eine Mutter gefunden hatte.

    Der Abschied von seinem Kind war schmerzhaft und herzzerreißend. Er gab seinem Erben einen Kuss auf die Stirn und wiederholte immer wieder den Namen seiner Frau, als könnte sich das Kind, gefangen in der Einsamkeit, daran klammern.

    Cassius verließ den unheilvollen Ort in dem Glauben, sein Kind wäre dort sicher. Er begab sich auf die Suche nach einer Würdigen, einer Frau voller Stärke und Vollkommenheit. Denn er hatte einen Plan geschmiedet und war bereit bis ans Äußerste zu gehen. Er würde einen Weg finden, um die Seele seiner Myra zu retten, und sobald die Familie wieder vereint wäre, würde er die Menschenwelt im Feuer ersticken …

    Es vergehen 758 Jahre.

    Kapitel 1

    Ungewollte Ehemänner

    Ewa strich sich das wirr in die Stirn hängende Haar beiseite und betrachtete ihr Ebenbild verunsichert im Spiegel. Das hellblaue Kleid mit den verspielten Rüschen an den Ärmeln passte perfekt zu ihrer bleichen Haut, den geröteten Wangen und dem Schmollmund, den sie aus reinem Frust zog. Jeder würde ihr einreden, dass sie wunderschön aussah, dabei besaß sie so viel Grazie wie ein Fuchs im Hühnerstall. Sie fühlte sich fehl am Platz, ganz zu schweigen davon, dass sie Kleider über alles hasste und sich nur für einen besonderen Anlass in diese furchtbaren Stoffe zwängte.

    Seufzend beugte sie sich vor, musterte die fein säuberlich genähten Ränder, die in der Mitte ihrer Taille zusammenliefen und von einem dunkelblauen Band mit schwarzen Enden abgedeckt wurden. Der Rock fiel locker um ihre Beine herum, man konnte dennoch keine größeren Schritte wagen – außer man wollte aussehen wie ein Morass, ein Greifvogel, der weniger zum Gehen und mehr zum Jagen und Fliegen geeignet war.

    Ewa wollte sich das Kleid von der Haut reißen, denn es ließ ihr Herz wild in ihrer Brust schlagen. Jedoch keineswegs aus Freude, sondern aus Scham. Sie war einfach nicht der Typ für diesen Frauenkram. Bereits im Kindesalter hatte es sie in den Stall zu den Tieren oder in die Arena gezogen, wo man die Krieger des Reiches ausbildete.

    Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. „Atme tief aus", meinte ihre Mutter, und Ewa brauchte sich nicht umzudrehen, um ihr Lächeln spüren zu können. Sie tat, wie ihr befohlen, und als ihre Mutter das angebrachte Korsett fester zog, wurde Ewa schwindelig. Keuchend fummelte sie mit ihren Fingern an den Bändern herum, konnte den Knoten aber nicht lösen.

    „Dieses Kleid wird mich umbringen", flüsterte sie und rang nach Luft.

    „Hast du jemals eine tote Frau im Ballsaal gesehen?", fragte ihre Mutter und nickte Ewa im Spiegel zu.

    Ewa zog ihre Brauen nach oben. Sie kannte die Antwort, dennoch protestierte sie innerlich, jene zu akzeptieren. „Wie lange muss ich dieses scheußliche Teil tragen?"

    Ihre Mutter drehte Ewa zu sich und stupste behutsam ihr Kinn nach oben. „Vergiss nicht deine Manieren. Die Hofschneiderin hat mehrere Wochen an diesem wunderschönen Kleid gearbeitet. Es betont alles, was du zu bieten hast." Sie tätschelte Ewas Taille, bevor sie nach der perfekt in Szene gesetzten Hochsteckfrisur tastete. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, deren Haar in einem edlen Pechschwarz leuchtete, war Ewa strohblond. Schon immer hatte sie sich gewundert, wie Mutter und Tochter sich äußerlich dermaßen unterscheiden konnten.

    „Es sieht aber eher aus, als würden meine Brüste gleich rausfallen. Bist du sicher, dass das so sein muss?" Die Schamesröte stieg Ewa in die Wangen, denn sie war es nicht gewöhnt, so viel von ihrer Weiblichkeit zu zeigen. In ihrer Freizeit, neben den Pflichten einer Prinzessin, ritt sie gerne mit einem Accyn aus und es kümmerte sie wenig, ob sich Schlammspritzer auf ihren Hosen sammelten.

    Die Accyns waren stolze Tiere mit den Vorderläufen eines Pferdes und den Sprungbeinen einer Raubkatze. Diese waren stark ausgeprägt und sie gaben die Musterung des Tieres an. Hatte man das Accyn mit einem Tiger gekreuzt, zierten lange Streifen in einem weißen Farbton das dunkle bis schwarze Fell. Es gab auch blau gemusterte mit gelben Flecken und in seltenen Fällen Wesen mit Fell so weiß wie Schnee. Zumeist verfügten die Accyns neben den spitzen, raubtierartigen Zähnen und den Klauen an den Hinterbeinen über vier lange Fühler an ihrem Kopf, die man sanft als Zügel benutzen konnte. Ewa liebte das Gefühl, wenn sie einen der Fühler in ihre Hand nahm. Das pelzige Ende erschien ihr wie der fluffige Bommel der Mütze, die ihr ihre Mutter im Winter als Kind stets aufgesetzt hatte.

    Seit jeher waren die Accyns treue Begleiter. Man hatte sie in den letzten Jahrhunderten mit so vielen Spezies gekreuzt, dass sich Ewa eher selten wunderte, wenn ihr ein neues Exemplar unter die Augen trat.

    „Unsinn. Du siehst aus wie eine Frau", holte ihre Mutter sie aus ihren Überlegungen und bedeutete Ewa, den Ankleideraum zu verlassen.

    „Wieso um alles in der Welt muss ich herumlaufen wie eine Puppe?", fragte sie und eilte den geräumigen Gang entlang. An jeder Ecke standen Diener, die ihr zuvorkommend zunickten oder sich verbeugten. Sie kam vorbei an dem geschichtlichen Pfad, der jeden König seiner Zeit zeigte. Ihr Urgroßvater hatte damals damit begonnen, ihre Gesichter und Köpfe in die steinernen Wände meißeln zu lassen, damit man sich auf ewig an sie erinnern würde. Ewa kannte die Legenden und sie wusste, was das Volk munkelte. Keiner wagte es offen auszusprechen, aber beinah ein jeder König war früher oder später dem Wahnsinn verfallen und hatte seine eigenen Leute verraten. Trotzdem hatte sie in jungen Jahren nie verstehen können, warum sie die erste Prinzessin dieses Reiches werden sollte. Jeder ihrer Ahnen hatte einen Sohn gezeugt, der wiederum als wahnsinniger König den Thron bestieg. Ewa war eine Frau, eine wahre Schande, ein niederes Geschlecht. Aber ihre Eltern zeigten ihr nie weniger Liebe oder Wertschätzung. Im Gegenteil: Ewa fühlte sich an manchen Tagen eindeutig zu sehr bemuttert und behütet, auf eine nervende, aber wunderbare Weise.

    „Dein Vater hat eine Überraschung für dich", verkündete ihre Mutter.

    Ewa hielt inne. „Er will mich doch nicht schon wieder zum Heiraten zwingen, oder?" Sie stemmte ihre Hände in die Seiten und zerknitterte dabei das Kleid.

    Ihre Mutter zupfte an dem Stoff herum, um ihn wieder in die richtige Form zu bringen. „Er macht sich Sorgen um sein Reich. Wer könnte ihm das verübeln? Sie seufzte. „Dieses Mal hat er sich etwas anderes einfallen lassen. Ihre Mutter schmunzelte, hob ihren Zeigefinger an die Lippen und zeigte Ewa damit, dass sie nichts verraten durfte.

    Ewa zuckte mit den Schultern. „Wann lernt er endlich, dass ich nicht die Art Frau bin, die sich Männer vorstellen?"

    Ohne weiter zu diskutieren, nahm Ewa all ihren Mut zusammen und trat in den Empfangssaal, wo ein Thron auf sie wartete.

    Nach den jahrelangen Kriegen zwischen den Dahanern und ihrem Volk war das alte Schloss bis auf die Grundmauern zerstört worden. Der Fluch des Magiers, den man in den alten Schriften Cassius nannte, hatte sowohl in den Menschen als auch in der Erde etwas ausgelöst. Das Vieh war gestorben, die Pflanzen waren verdorrt, die Fische aus den Flüssen verschwunden und die Quellen versiegt. Wer überleben wollte, musste sich mit dem zufriedengeben, was ihm die Götter des Windes gelassen hatten. Ewa mochte nicht an diese Zeit zurückdenken. Aber jedes Mal, wenn sie diese Halle betrat und den toten Baum, der zu einer steinernen Hülle erstarrt war, betrachtete, kam alles wieder hoch. Sie sah die alten Frauen, die das Leid beklagten, ihre Kinder verloren hatten und durch das verunreinigte Wasser aus dem Erdreich krank geworden waren. Sie sah die Tränen, die ein jeder von ihnen vergossen hatte, als wäre die Geschichte erst vor wenigen Tagen passiert und nicht bereits Jahrhunderte vor ihrer Geburt.

    Der Baum, der inmitten der Halle stand, war ein Symbol für all die Gräueltaten, die man dem Magier andichtete. Beim Wiederaufbau hatte man versucht diese eine Pflanze zu retten. Nichts als Staub war ihren Urahnen geblieben. Die Nahrung kam von Feldern direkt an der Grenze zu Dahana. Wer freiwillig Fisch aß, musste mit einer Immunschwäche rechnen.

    Trotz all dieser Vorkommnisse und der Tatsache, dass ihr Volk hungerte, war Ewas Tisch immer reichlich gedeckt. Meistens bekam sie keinen Bissen herunter, wenn sie die verstohlenen Blicke der Dienerschaft auffing. Gerne hätte sie ihr Hab und Gut geteilt. Früher hatte sie das nie in Erwägung gezogen. Der Sinneswandel kam, als sie durch Zufall bei einem Ausritt mit ihrem Accyn in den Armutsvierteln gelandet war. Der grauenvolle Gestank von Urin und Exkrementen, die abgemagerten Kinder, die Häuser, die nicht einmal einer Böe des Windes standhalten konnten – all diese Dinge hatten sie geprägt und verändert. Ewa wollte als Königin etwas gegen das Elend unternehmen und mit einem aufgezwungenen Ehemann könnte sie niemals ihre Pläne umsetzen.

    „Mein König", begrüßte sie ihren Vater und ließ sich neben ihn auf ihren kalten, steinernen Thron sinken. Die wenigen Treppenstufen, die auf die Anhöhe geführt hatten, waren für sie wie ein Spießrutenlauf gewesen. Alle Augen waren auf Ewa gerichtet und sie befürchtete, man könnte ihr ansehen, dass sie es hasste, hier in diesem Kleid anwesend zu sein.

    „Meine liebreizende Tochter, ich habe dich rufen lassen, um dir von meiner Idee zu erzählen." Ein zufriedenes Grinsen lag auf den Lippen ihres Vaters. Seine Miene war locker und offen, genau wie seine Haltung. Er bewies Anmut und Stolz, mit einem Hauch von Arroganz, der sich in einer geraden Falte über seine Brauen legte. Sein Umhang bestand aus einigen Fellen von seltenen, längst ausgestorbenen Tieren und bewies, wie viel Reichtum in seinen Kammern darauf wartete, das Land zu überschwemmen. Er war von Natur aus ein Geizhals, wie sein Vater vor ihm. Keinen einzigen Goldtaler hätte er freiwillig einem Bauern geliehen. Die Felder ließ er zwar bestellen, doch der Lohn dafür fiel mager aus. Zudem erhielt der König den größten Teil der Ernte, um sich, seine Familie und den Hofstaat zu versorgen.

    Bevor er mit Ewa ein Gespräch begann, flüsterte er seinem erhabenen Diener etwas ins Ohr. Eigentlich schickte sich eine solche Geste nicht, aber die beiden waren beinahe wie Brüder, kannten sich seit Ewas Geburt und nichts auf der Welt schien sie entzweien zu können.

    Der Mann neben ihrem Vater war von großer Statur und hatte ein kleines Bäuchlein, das unter der braunen Weste hervorragte. Zumeist verdeckte er dieses geschickt mit seinem Umhang. Er hörte auf den Namen Crowley, was laut der göttlichen Mythologie so viel wie Ausgestoßener bedeutete. Ewa hatte sich als Kind stets gefragt, wie es ausgerechnet dieser Mann in die Nähe ihres Vaters geschafft hatte. Seine Manieren waren dem Umfeld auch nach all der Zeit nicht angepasst, denn er pflegte Entscheidungen über den Kopf ihres Vaters hinweg zu treffen. Eine seltsame Angewohnheit, die den König schon mehrere schlaflose Nächte gekostet hatte, laut den Angaben ihrer Mutter. Heute jedoch schien er zufrieden. Er lachte, sodass kleine Grübchen in seinen Wangen zu erkennen waren. Der stoppelige, dunkelbraune Bart betonte seine eisblauen Augen, um die ihn jede Frau beneidete. Einige tuschelten gern über sein Aussehen. Am Hof war er als eine gute Partie bekannt. Es gab ein Sprichwort zu den Augenfarben in der Männerwelt, welches den Frauen oft und gern über die Lippen kam. Blaue Augen kalt wie Eis sind voller Sehnsucht, wie jeder weiß. Doch sie bürgen auch Gefahren, halten Frauen gern zum Narren. Verzehren sich nach Liebe, Lust und Leidenschaft, ein solcher Kerl verfügt über viel Manneskraft.

    Ewa schmunzelte, denn sie verstand nun endlich den Sinn. In ihrer Kindheit war sie nie dahinter gekommen, was dieses Sprichwort bedeutete. Mittlerweile war sie eine Frau, und obgleich sie es hasste, zu tratschen, so erfreute es sie, dass die Damen am Hof keinen Bogen um sie machten, nur weil sie die Prinzessin war. Stattdessen teilten sie eben solche Weisheiten mit ihr.

    Crowley nickte Ewa freundlich zu und verabschiedete sich. Sie hoffte inständig, dass er ihre geröteten Wangen nicht bemerken würde, denn sie galten weniger ihm und vielmehr der Neugierde, ob in der Welt auch auf sie eines Tages ein Mann mit blauen Augen warten würde.

    „Lasst die Männer eintreten." Ihr Vater winkte einem Soldaten zu und dieser ging zu den großen Toren, die wegen ihres schimmernden Goldes das Prunkstück der ganzen Halle waren.

    Der Soldat öffnete sie und fünf Männer traten ein. Gediegen näherten sie sich der königlichen Familie, als würde sie ihre Ehrfurcht zurückhalten.

    Ewa musterte einen jeden von ihnen, und als sie Thorald Cumare, einen guten Freund von ihr, erkannte, stockte ihr unweigerlich der Atem. Wenn sie schon jemanden heiraten musste, dann wäre er ihre erste Wahl gewesen. Thorald war beherrscht, liebevoll und mutig. Er hatte das Herz am rechten Fleck und sah durch seine wilde, hellbraune Mähne auf dem Kopf interessant aus. Seine Augen lachten vor Freude, heute hier sein zu dürfen und bevor er die erste Treppenstufe, die zur Anhöhe hinaufführte, erreicht hatte, fiel er auf seine Knie. Die anderen taten es ihm gleich. Sie zogen ihre Schwerter, streckten ihre Hände nach vorn und balancierten die Klinge auf ihren Fingerkuppen.

    „Mein Leben gehört Euch, König von Candiora", sangen sie im Chor.

    Ewas Vater erhob sich, berührte jeden von ihnen sanft an ihren Handgelenken und bat sie, sich wieder aufrecht hinzustellen, damit er ihnen in die Gesichter schauen konnte. Ewa zwinkerte Thor zu, denn es amüsierte sie, dass er heute hier war.

    „Ich habe euch herbestellt, damit ihr die Chance erhaltet, in den Geschichtsbüchern unsterblich zu werden."

    Ein Raunen ging durch die Halle und die Diener schienen genauso gespannt wie Ewa selbst, was die Aufgabe der Krieger war. Vielleicht würde ihr Vater Spiele veranstalten? Ein harmloses Duell? Oder würde er sie auf die Suche nach einer verbotenen Frucht schicken, die man nur an der Grenze zu Dahana finden konnte, und deren Süße sich bereits jetzt gedanklich auf Ewas Zunge legte?

    Der König kehrte zu seinem Thron zurück und setzte sich. „Seit Jahrhunderten lebt eine Kreatur zwischen den beiden Welten, die mein Reich der Unfruchtbarkeit verschrieben hat. Das Getreide zerfällt zu Staub, der wohltuende Regen bleibt aus, und sobald wir zu ein wenig Nahrung kommen, nimmt die Bestie sie uns, indem sie alles in Flammen erstickt."

    Ewa zuckte zusammen. Zu ihrer eigenen Überraschung schlug ihr Vater eine ganz andere Richtung ein.

    „Mein Volk stirbt. Nach all den Jahrhunderten des Überlebens, des Kämpfens und des Bangens wurde ich gestern informiert, dass dieses Ungeheuer jede Scheune an der Grenze niedergebrannt hat. Wir haben so gut wie nichts, um dem bevorstehenden Winter zu trotzen. Er atmete tief ein. Die folgenden Worte schienen ihm sichtlich schwerzufallen. „Viele werden verhungern, werden sterben – wegen ihm.

    „Der Drache", platzte es aus Ewa heraus. Im selben Moment nahm ihr Vater sanft ihre Hand und strich zärtlich über ihre Haut.

    „Ja, ich meine den Drachen." Es gab in ihrem Reich durch die offene Grenze viele Monster, die bezwungen werden mussten. Doch das Kind des Feuers war ein unangetasteter Gegner mit der Unsterblichkeit auf seiner Seite.

    „Vater, wo soll diese Unterhaltung hinführen?", fragte Ewa und zitterte allein bei dem Gedanken an dieses Monster.

    „Das Untier muss sterben", verkündete der König. Er schien abzuwägen, ob die Krieger von ihrer Angst ergriffen wurden oder der Gefahr mutig entgegenblickten.

    „Natürlich soll er das, seit mehr als siebenhundert Jahren", bestätigte Ewa, denn sie wollte verdeutlichen, wie viel zerstörerische Gewalt in diesem Monster steckte. Keinem Mann war es je gelungen, ihn zu bezwingen.

    Ihr Vater runzelte die Stirn. Die dunkelblonden Brauen hoben sich auffordernd und ließen seine blauen Augen herausstechen wie Kristalle in einem Berg. „Es gibt kein Zurück mehr. Wir müssen endlich handeln oder wir verlieren alles." Er zögerte. „Oder ich verliere alles", verbesserte er sich.

    Darum ging es also. Ewa hatte von den Aufständen in den Dörfern gehört und sie war alles andere als begeistert gewesen, wie ihr Vater darauf reagiert hatte. Er nahm sie seit Monaten schweigend zur Kenntnis, schickte hin und wieder einige Fladen Brot, um die Bevölkerung zu beruhigen. Er hatte scheinbar die Kontrolle verloren. Seine Miene spiegelte Furcht wider und als er sanft einen Kuss auf Ewas Wange hauchte, glaubte sie, seine Lippen würden sie warm und feucht berühren.

    „Ich gebe demjenigen meine Tochter zur Frau, der den Drachen erschlägt und mir einen Schneidezahn der Bestie als Beweis bringt. Darüber hinaus erhaltet ihr in absehbarer Zeit als mein Erbe ein Anrecht auf den Thron und meinen Reichtum. Es wird einem von euch in der Zukunft an nichts fehlen." Ewas Vater wandte sich nun direkt den Soldaten zu und ließ seinen Vorschlag wirken.

    Einige schauten verunsichert, andere neugierig. Kein Zweifel, die Legenden über den Drachen waren jeder Seele bekannt, aber niemand glaubte daran, sich der Bestie je stellen zu müssen. Die Soldaten senkten ihre Köpfe und ihre Mienen versteinerten.

    „Das ist Selbstmord. Versucht es erst gar nicht", warf Ewa ein, denn es wäre ein törichter und äußerst tödlicher Versuch.

    „Eine solche Echse macht mir keine Angst. Was erwartet mich schon, außer Schuppen und ein wenig Feuer?", fragte einer der Männer hochnäsig.

    Thor seufzte. Er fuhr sich angespannt durch sein leicht gelocktes, wildes Haar. „Mein Freund, du hast scheinbar keine Ahnung, von welcher Bestie wir hier reden. Er meint keine Libellenechse, die ausgewachsen vielleicht knapp einen Meter groß ist, sondern einen echten Drachen. Wenn er Feuer speit, sind die Flammen so dicht, dass es deine Haut schmelzen kann. Er hat Klauen, so scharf wie tausend Klingen, Zähne, so gebieterisch, dass er dich zermalmen wird, und eine Haut, so dick, dass keine mir bekannte Waffe sie je durchdringen konnte."

    Ewa lächelte, denn Thor war ihr bei der Aufklärung über den Drachen zuvorgekommen. Die silberne Rüstung, die aus einer besonderen Metalllegierung hergestellt worden war und an einigen Stellen den schwarzen Obsidian zeigte, stand ihm unverschämt gut.

    „Ich gehe, mein Herr", sagte er und zog sein Schwert zurück. Verhalten steckte er es in die Metallscheide und wagte es, zu Ewa hinaufzuschauen. Nur kurz trafen sich ihre Blicke. Es war dieser eine Moment, der ausreichte, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

    Ohne eine Reaktion abzuwarten, stürmte Thor aus der Halle und Ewa sprang von ihrem Thron. Sie verfluchte das Kleid, das sie innehalten ließ. Ewa wollte ihn erreichen, bevor er sein Accyn satteln und etwas Dummes anstellen konnte. Nahm er diese Bürde nur ihretwegen auf sich? Was kümmerten Thor Reichtümer und ein Thron, wenn er einer der angesehensten Krieger am Hofe ihres Vaters war und mit seiner Stellung ein gutes Leben genoss?

    Das Kleid brachte Ewa fast zu Fall. Nur kurz schaute sie sich um, dann nahm sie den Stoff in ihre Hände und riss den Rock links und rechts an den Beinen entzwei. Endlich bekamen ihre Beine die Freiheit, die sie benötigten, um rechtzeitig zu Thor zu gelangen.

    Ewa stürzte nach draußen, eilte auf die Stallungen der Accyns zu. Sowie sie Thor erreichte, lockerte sie die Schnalle seines Sattels, ehe er das Accyn besteigen und losreiten konnte.

    „Was tust du da?", fragte er verwundert.

    Ewa gab ein Keuchen von sich. So schnell hatte sie sich seit Tagen nicht bewegt. Sie war nun mal ein Sportmuffel und das machte sich jetzt bemerkbar. „Ich …", presste sie hervor, während sie sich die Seite hielt. Sie hob ihren Zeigefinger und bedeutete ihm, kurz zu warten, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hätte.

    Thor starrte sie an. Ein charmantes Lächeln legte sich über seine perfekt geschwungenen Lippen, die unter dem Bart hervorlugten. „Ewa?" Der Klang seiner Stimme benebelte ihre Sinne.

    „Wie kannst du nur dem Vorschlag meines Vaters nachkommen? Bist du lebensmüde?" Sie klammerte sich am Sattel des Accyns fest, um sicherzustellen, dass Thor nicht mitten im Gespräch verschwinden würde.

    „Er hat recht."

    „Mein Vater? Das wäre mir neu", entgegnete sie.

    „Ich war in den Armenvierteln, ich habe das Elend gesehen. Die Menschen verhungern und zum ersten Mal in seinem Leben scheint er daran etwas ändern zu wollen."

    Thor wandte sich ab, doch Ewa hielt ihn zurück und legte zärtlich eine Hand auf seine Schulter. Ihr Kopf war auf Höhe seiner Brust und zu gerne hätte sie ihn genau dort vergraben, Thors Wärme in sich aufgenommen. Wie immer herrschte außerhalb des Schlosses eine klirrende Kälte, die alles vernichtete, was der Fluch verschont hatte.

    „Ein Mann allein kann den Drachen nicht zu Fall bringen", wisperte sie, als wäre es die logischste Sache der Welt.

    Thor nickte und sein langes Haar fiel über seine Schultern. „Ich kann es dennoch versuchen."

    „Wieso bist du so hartnäckig? Sehnst du dich nach dem Tod?" Ewas Hand rutschte von seiner Schulter hinab auf seine Brust.

    Thor schien diese Berührung zu genießen, denn er entspannte sich. Ohne Vorwarnung zog er sie an sich. Der innige Moment dauerte gefühlte Minuten, verhallte aber gewiss in Sekunden. Ewa streifte das kalte Metall seiner Rüstung. Wie gerne hätte sie seinen Körper und nicht das feuerfeste Obsidian gespürt.

    „Meine Schwester …" Mehr brachte Thor nicht heraus. Seine Stimme klang schwach, beinah kränklich.

    Ewa riss sich los. „Was ist mit ihr?"

    „Sie ist krank."

    „Aber wieso? Du bist ein Diener des Königs und wirst ausreichend belohnt und versorgt. Bitte um einen Arzt und Narzia wird genesen." Ewa fühlte, wie sich Verwirrung in ihr ausbreitete.

    „Dein Vater hat bereits vor Monaten aufgehört, uns zu bezahlen. Sieh dich um! Merkst du nicht, dass die Wachen am Tor nur noch Haut und Knochen sind? Dass deine Hofdamen und Dienerinnen sich erbrechen müssen, weil sie die falsche und dazu giftige Nahrung zu sich genommen haben? Hast du in den letzten Tagen je ein Kind im Hof spielen sehen? Sie sind alle krank, schwach und dem Tod näher als je zuvor. Dein Vater hat einen logischen Schritt veranlasst und jeden, nicht nur uns fünf, zusammengerufen, um das Schicksal von Candiora zu verändern. Was du im Thronsaal miterlebt hast, war eine Chance ausschließlich für jüngere Soldaten, die sich als würdig erweisen und später König werden könnten. Thors Lippen bebten und er ballte seine Hände zu Fäusten. „Unsere Welt ist kaputt und die Menschen sterben. Deshalb bin ich bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um die Bestie zu bezwingen. Scheitere ich, wird meine Schwester den Winter nicht überleben. Thor wandte sich ab, zog den Gürtel seines Ledersattels fest und setzte sich auf das Accyn. Er wollte gerade losreiten, als ein Grollen die leere Landschaft erfüllte.

    Ewa legte ihren Kopf in den Nacken und schaute ehrfürchtig zum Himmel hinauf. Nicht eine einzige Wolke war zu sehen, dennoch verdunkelte ein Schatten den Hof. Ein Kreischen setzte ein, sodass sich Ewa die Hände auf die Ohren presste und in die Knie ging, als sich das Untier über sie fortbewegte, direkt auf den Kornspeicher zu. Mit Entsetzen verfolgte sie seine Route und bevor sie verstand, was sie tat, bewegten sich ihre Beine. Thor schrie, um sie aufzuhalten, doch sie wich seinen flinken Fingern aus und rannte auf den Speicher zu. Um diese Uhrzeit arbeiteten dort fleißige Bauern und bei einer Attacke des Drachen wären sie wohl verloren. Väter, Brüder, Söhne. Ein Verlust, den ihr Volk niemals ertragen könnte, und der Ewa den Verstand rauben würde.

    Sie biss die Zähne zusammen, verdrängte den angsteinflößenden Ton aus ihrem Kopf, den der Drache erzeugte. Während das Untier am Himmel über seinem Ziel kreiste, stürzte sie in den Kornspeicher hinein. Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Herz raste vor Aufregung. Die Arbeiter musterten sie unwissend und Furcht spiegelte sich in ihren Mienen wider, als ihr der Schatten bis zum Eingang folgte und die Gegend plötzlich in vollkommene Stille tauchte. Die Morass hatten ihr Hoheitsgebiet, den Himmel, der Bestie überlassen. Die Accyn, welche bei den Stallungen wenige hundert Meter hinter Ewa auf ihre Reiter warteten, rissen an ihren Zügeln. Hatten die Tiere zuvor noch ihre altbekannten Laute von sich gegeben, so schwiegen sie nun, vor Angst unfähig, dem Monster etwas entgegenzubringen.

    „Sofort raus hier!", rief Ewa. Ein jeder von ihnen hätte sie auch blind verstanden, aber sie schrie sich die Seele aus dem Leib, bis der Letzte sich aufraffte, den Speicher zu räumen. Es blieb kaum Zeit, das wusste sie.

    Ein Dröhnen setzte ein und ein Feuerball traf das Ziegeldach. Die Flammen brachen durch einige Stellen hindurch und der Aufprall riss selbst Ewa von den Beinen. Der Boden bebte, als würde sich die Hölle unter ihren Füßen auftun. Der nächste Hieb mit den Klauen des Drachen ließ das Dach bersten und die Ziegel segelten wie Geschosse auf Ewa hinab. Sie sprang beiseite, rollte sich an die nächste Wand und stieß einen Fluch aus, der allerdings nichts an ihrer Situation zu ändern vermochte. Hinter ihr befand sich der Weg in die Freiheit, der von Trümmern verdeckt wurde. Vor ihr standen einige Arbeiter, die panisch versuchten, dem Speicher zu entfliehen.

    „Verschwindet endlich!", rief sie erneut. Die Arbeiter waren wie erstarrt. Als der Drache sich erneut dem Dach zuwandte, nutzen die Arbeiter ihre Chance und zwängten sich durch das offene Tor. Ihre Stimmen verhallten. Die Erde erbebte abermals und der Drache setzte sich direkt vor den Eingang.

    Ewa war wie versteinert, sie konnte sich kaum rühren. Die Angst, von einem Ziegel getroffen oder von dem Drachen gefressen zu werden, war zu groß. Sie erkannte seine muskulösen, schuppigen Beine und einen Teil seiner Brust, die glühend einen weiteren Schub an Feuer ankündigte. Ewa rollte sich auf die Seite und robbte voran. Sie musste verschwinden oder sie würde sterben.

    Ewa presste ihren Körper an die mittlerweile aufgeheizte Wand. Ihr Atem ging unregelmäßig und ihre Lider flatterten. Sie japste nach Luft. Ihre Kehle war staubtrocken. Was hätte sie nicht alles für ein Glas kaltes Wasser gegeben!

    Ewa lugte um die Ecke. Sie erblickte die roten und schwarzen Schuppen des Untiers, welches sich nun herab beugte und durch das offen stehende Tor hineinschaute. Das Korn lag ungeschützt herum, es hätte ein gesamtes Volk sicher durch den Winter bringen können. Ewa wusste, dass sie etwas tun sollte, allerdings war ihre Situation ausweglos. Sie rief sich die hungernden Menschen in ihren Verstand zurück, hörte deren Klagen in ihren Gedanken widerhallen und sie entschloss sich, ihrem törichten Herzen zu folgen. Es war kein Mut, der sie zu dieser Tat trieb, sondern die pure Verzweiflung, ihrem Volk eines Tages eine schlechte Königin gewesen zu sein. Würde sie heute sterben, dann zumindest bei dem Versuch, ihren Landsleuten zu helfen.

    Ewa stieß sich von der Wand ab und taumelte einige Schritte vorwärts, bis ihre Beine sie sicher voran trugen. Sie erblickte die ersten Züge eines Gesichtes, einer langen Schnauze mit messerscharfen Zähnen, die über die Lippen hinausragten, und an denen dunkler Geifer hinab lief. Die Miene des Tieres war zu einer Fratze verzerrt und in ihr lag so viel Tiefe, dass Ewa erschauderte. Die goldenen Augen zogen Ewa in ihren Bann und sie erstarrte.

    Das Untier öffnete seinen Schlund und stieß ein tiefes Knurren aus, als würde sie allein zwischen seinem Ziel und seiner Aufgabe stehen, die Ausführung verhindern. Fort waren ihre Zweifel, ihre Gedanken, ihre Hoffnung. In Ewa brodelte die Furcht und vermischte sich mit Panik. Wie hatte sie nur eine Sekunde glauben können, dass sie etwas

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