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Mallorcas schönste Kurven: Rennradfahrer sucht Traumfrau
Mallorcas schönste Kurven: Rennradfahrer sucht Traumfrau
Mallorcas schönste Kurven: Rennradfahrer sucht Traumfrau
eBook362 Seiten5 Stunden

Mallorcas schönste Kurven: Rennradfahrer sucht Traumfrau

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Über dieses E-Book

Traumfrausuche mit Platten, Pech und Pannen
Marbod Jaeger ist einer von denen, die ihr Leben um die Ausfahrten mit und ohne Trainingsgruppe herum organisieren und vorzugsweise dann Kontakt zu anderen Familienmitgliedern halten, wenn diese zwischen 80 und 200 Kilometer entfernt wohnen. Jobs werden nach Rad-Anfahrtsweg bewertet (ab 30 Kilometer akzeptabel), Urlaube nach Rennkalendern organisiert. Nur bei Beziehungen zum anderen Geschlecht hat er bisher nicht auf dessen Einstellung zum Radsport geachtet. Das soll sich nun ändern.
Nachdem er seine Traumfrau bei einer Trainingsrunde in den Alpen findet und sofort tags darauf wieder verliert, begibt er sich ins Trainingslager nach Mallorca, wo er hofft, sie wiederzufinden. Zusammen mit seiner Trainingsgruppe radelt er von einer Panne zur nächsten – und damit sind nicht unbedingt Defekte an den Rennrädern gemeint.
Hinweis: Dieses Buch hilft garantiert nicht dabei, eine Traumfrau zu finden!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Aug. 2016
ISBN9783667107497
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    Buchvorschau

    Mallorcas schönste Kurven - Marbod Jaeger

    Endspurt

    Noch sieben Kilometer bis zur Passhöhe. Genau der Sonne entgegen. Es ist heiß. Ich hasse Hitze. Mir läuft der Schweiß in die Augen. Die Luft steht. Ungefähr 200 Meter vor mir fährt sie, die absolute Traumfrau. Jetzt nichts überstürzen. Bis oben werde ich sie sicherlich eingeholt haben. Ihre unter dem grünen Helm hervorkommenden Haarspitzen glänzen hell im Sonnenlicht. Kurz geht sie aus dem Sattel und fährt einige Kurbelumdrehungen im Stehen. Es sieht federleicht aus, wie sie dabei den Abstand zwischen uns erhöht. Meine Beine brennen. Im Gegensatz zu ihr trete ich eine wesentlich höhere Übersetzung. Mit voller Kraft stampfe ich in die Pedale. Sie soll mir nicht entkommen. Ich zerre an meinem Rennlenker, meine Hände schmerzen. Ich ändere die Griffposition. Hat sich der Abstand zu ihr verringert? Eher nicht. Der Puls hämmert in meinen Schläfen. Mit der Schulter wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Helm und Sonnenbrille verrutschen. In dem Moment werde ich von einem anderen Radfahrer überholt. »Hey.« Er sieht sehr athletisch aus. Lange blonde Haare. So eine Schwuchtel! Team Sweden steht auf seinem Trikot. An dem werde ich jetzt dranbleiben. Seine Kette läuft gut geölt über das 17er-Ritzel. Ein leises Surren. Leicht übertönt vom schwungvollen Abrollgeräusch seiner Reifen. Meine heftige Atmung vermiest mir den Hörgenuss.

    Ich kämpfe an seinem Hinterrad. Ja, so werde ich meine Traumfrau da vorne bald eingeholt haben. Wie von einem Motor angetrieben, bewegt sich der Schwede scheinbar mühelos den Berg hinauf. Kraftvoller Wiegetritt. Jetzt geht auch die Traumfrau wieder aus dem Sattel. Der Abstand zwischen uns hat sich verkleinert, aber er liegt immer noch bei gut 200 Metern. Meine Beine fühlen sich schwer und unwillig an. Meine Atmung übertönt alles. Wenn ich nicht gleich vom Rad kippen will, muss ich den blonden Mann mit den braun gebrannten Waden ziehen lassen. Besser ist es, wenn ich mein eigenes Tempo fahre. Ich hebe den Kopf, schiebe meine Brille zurecht und sehe nach oben. Die wundervolle Traumfrau fest im Blick. Die Straße macht weiter vorne einen Knick nach rechts, und ich kann sie nun von der Seite sehen. Topfigur!

    Der Schwede ist jetzt fast bei ihr. Er fährt neben sie. Sie dreht ihren Kopf in seine Richtung. Er quatscht sie an. So ein Arschloch! Ich kann sie lachen hören. Mit Wut im Bauch kann ich etwas beschleunigen. Dann muss ich wieder kurz mit dem Treten aufhören und erst mal meine Sitzposition verändern. Ich falle mehr und mehr zurück. Der Typ da vorne verschwindet gerade mit meiner Traumfrau, und ich kann nichts dagegen tun. Als sie um die nächste Ecke biegen, sacke ich resigniert in mich zusammen. Aber aufgeben will ich noch nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Nach der nächsten Kurve sind sie in den Serpentinen über mir schon nicht mehr zu sehen. Ich bin allein. Aussichtslos abgehängt. Ich kann nicht mehr. Noch fünf Kilometer bis zum Coll dels Reis.

    Partytime

    Neun Monate vorher. Die Turmuhr schlägt elf. Von draußen sind fröhliche Stimmen zu hören. Durch das Fenster lacht ein herrlicher Sommertag herein. Es ist warm. Ich liege noch im Bett. Nicht allein.

    Normalerweise würde ich an so einem Sonntag längst auf dem Rad sitzen und um diese Uhrzeit schon über 100 Kilometer auf dem Tacho haben. Aber mein Lebensabschnitt ist momentan eher als etwas unruhig zu bezeichnen. Die Trennung von meiner Ex ist noch nicht allzu lange her. Ich dachte, es sei die große Liebe gewesen. Ihretwegen hatte ich damals mein vorheriges Leben völlig umgekrempelt. Es war die Reaktion auf eine Art Midlife-Crisis. Endlich schien ich von allen Zwängen frei zu sein.

    Endlich schien ich die Traumfrau gefunden zu haben. Doch die größte Gemeinsamkeit, die wir hatten, war, dass wir beide gerne Rennrad fuhren. Jedenfalls zu Beginn. Bei anderen Paaren lässt mit der Zeit die sexuelle Leidenschaft nach. Bei uns wurden die gemeinsamen Radtouren immer seltener. Die meisten Kilometer musste ich alleine abspulen. Das war jedoch nicht das einzige Problem. Und schon gar nicht das größte. Ich hätte anfangs vielleicht auf mehr als nur auf ihre Beine achten müssen. Natürlich muss man die Fehler auch immer bei sich selber suchen. Aber irgendwann war ich dann aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen.

    Obwohl mir in meiner neuen Wohnung vor Einsamkeit die Decke auf den Kopf fiel, fand ich auf dem Rad nicht mehr die gewohnte Ablenkung. So besuchte ich einen Freund in Köln. Ein Wochenende ohne Fahrrad. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich davor das letzte Mal so etwas gemacht hatte. Ich kann mich ebenso wenig daran erinnern, wann ich das letzte Mal zuvor mehr als ein Bier an einem Abend getrunken hatte. Aber ich kann mich noch daran erinnern, dass wir gegen Mitternacht ein Lokal betraten, im dem, obwohl es Mitte Juni war, alle Gäste außer uns kostümiert waren und ausgelassen Karnevalslieder sangen. Gefeiert wurde das »Bergfest«, die zeitliche Mitte zwischen Aschermittwoch und dem 11.11.

    Die Luft in dem Laden war so schlecht, dass ich eigentlich auf dem Absatz kehrtmachen wollte. Doch bevor ich meine Absicht anmelden konnte, war mein Freund Tim schon in der dichten Menge verschwunden. Fasziniert staunte ich über die fröhlichen Menschen und ihre Gesänge in Stadionlautstärke. Nach einer Minute drückte mir eine blonde Piratin ein Glas Kölsch in die Hand. Ich war nicht mehr allein. Dachte ich. Aber die Piratin hatte zusätzlich noch an anderen Jecken Gefallen. Das nächste Bier bekam ich von einer Frau, deren Aufmachung wohl eine Indianerin darstellen sollte. Und ihr dritter Satz an mich war ihre Telefonnummer, die ich dienstbeflissen in mein Handy speicherte. Kurz darauf kam es trotz der Lautstärke in dem Lokal zu einer für alle unüberhörbaren Auseinandersetzung zwischen einer Piratin und einer Indianerin. Soviel ich verstehen konnte, ging es in dem Streit wohl darum, wessen Eroberung ich nun sei. Ich war mir keiner Schuld bewusst, stand aber plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Auf Unterstützung von Tim brauchte ich nicht zu hoffen. Der war schon vor einer Weile mit einer gelb-schwarzen Hummel abgezogen, die ihm später das Bett vollkotzen sollte.

    Als ich das Lokal, in dem diese unerträglich stickige Luft herrschte, mit der Indianerin im Arm verließ, war es draußen bereits wieder hell. »Wie heißt du eigentlich?«, wollte sie wissen. Ich musste kurz überlegen. Alkohol vertrage ich nur in kleinen Mengen. Anscheinend wollte sie mich zu sich nach Hause abschleppen. Ich bin aber nicht mitgegangen. Schließlich war ich ja drei Stunden später zu einer Radausfahrt verabredet. Tim hatte mir ein Leihrad von einem Kumpel besorgt.

    Auf der für jenen Vormittag vereinbarten Mountainbiketour zum Altenberger Dom waren Tim und ich dann allerdings in absolut desolater Form.

    Die folgenden Wochenenden liefen nach einem ähnlichen Muster ab. Party in schlecht belüfteten Diskotheken, Ausschlafen bis in die Puppen, verstärkter Alkoholkonsum, bestes Wetter, null Kilometer.

    Und jetzt liege ich hier im Bett mit einer noch tief und fest schlafenden Frau neben mir, die dieser Indianerin verdammt ähnlich sieht. Mir fällt auf, wie doof sie atmet. Einer ihrer unsportlichen Unterschenkel guckt unter der Bettdecke hervor. Ich erinnere mich an unseren gestrigen Spaziergang, bei dem es nur quälend langsam vorwärtsging. Missmutig schiele ich auf die Unbekannte in meinem Bett und dann zum Sonnenlicht, welches durchs Fenster in eine Ecke des Zimmers scheint. Das Licht strahlt genau auf meine Radschuhe, die dadurch wie in einem Werbespot wirken. Ich fühle mich elendig. Während meine alten Radfahrfreunde sicher eine schöne lange Runde durch den Odenwald fahren, male ich mir mein heutiges Restprogramm aus. Schlendern im Schneckentempo durch die romantische, aber überlaufene Heidelberger Altstadt, Kaffee und Kuchen auf einer Burgterrasse, mehrgängiges Schlemmermenü zu exorbitanten Preisen. Vielleicht sogar eine Bootsfahrt auf einem dieser überbuchten Neckardampfer. Ist das jetzt mein neues Leben?

    Als meine Begleiterin nach dem Frühstück ihre Lust auf eine große Portion Pommes anmeldet, beschließe ich, die Sache nicht mehr lange fortzuführen. Ganz so einfach ist das aber nicht. Ein weiteres Wochenende ohne einen einzigen Radkilometer geht zu Ende.

    Zudem knabbere ich immer noch an der gescheiterten Beziehung zur Exfreundin.

    Wollte ich nicht eigentlich etwas ganz anderes haben? Als ich im Frühsommer, noch vor meinem Auszug, aber bereits ohne meine Ex, das Jedermannrennen Les 3 Ballons durch die Vogesen gefahren war, wurde ich oben am Grand Ballon von zwei jungen hübschen am Straßenrand stehenden Frauen angefeuert. Was für eine tolle Unterstützung! So eine wunderbare Freundin hätte ich auch gerne gehabt. Und offenbar waren die Freunde der beiden lebenslustigen Ladies ja noch langsamer als ich unterwegs. Denn sonst hätten die zwei ja nicht mehr wartend auf der Passhöhe gestanden. Für mich nicht nur ein hoch motivierender Applaus, für den sich die ganzen Anstrengungen des Tages, das frühe Aufstehen und die weite Anreise mehr als gelohnt hatten. Ich kam zudem zu einer wichtigen Erkenntnis: Um die Frau meiner Träume zu finden, würde ich also nicht unbedingt schneller Radfahren können müssen.

    Eine Woche später sitze ich mit meinem Radfahrfreund Cerny vor einer Pizzeria. Ein lauer Sommerabend. Auf der Straße flanieren Menschen in ausgelassen heiterer Stimmung. Wir trinken Johannisbeersaftschorle. »Was machst du eigentlich für eine Scheiße?«, resümiert Cerny mein Verhalten der letzten Wochen.

    »Du brauchst deine Traumfrau nicht zu suchen. Sie wird von alleine kommen«, weiß Cerny. Und er rät: »Jetzt hast du endlich Zeit, das zu tun, was du am liebsten machst.«

    »Am liebsten fahre ich Alpenpässe!«, antworte ich.

    »Ja, mach das, was du am liebsten machst! Dort wirst du sie treffen.«

    Endlich ist der Groschen bei mir gefallen. Aber in anderer Hinsicht. Von Cernys Aussage bin ich nämlich nicht im Geringsten überzeugt, springe aber dennoch sofort von meinem Stuhl auf. Denn eine Idee hat sich in mir festgesetzt. Ich muss sofort ins Bett! Es ist schon nach 22 Uhr. Und morgen früh um vier Uhr will ich aufstehen und mit dem Auto nach Andermatt in die Zentralschweiz, um dort mit dem Rennrad über die drei Alpenpässe Susten, Grimsel und Furka zu fahren. Endlich das tun, was ich am liebsten mache. Ich bin frei!

    Als ich in Radklamotten in den dunklen Morgenstunden über das Kopfsteinpflaster der Altstadt auf den Carbonfelgen zu meinem Autoparkplatz rumpel, hat die Polizei gerade einen Großeinsatz, um besoffene Flaschenwerfer vor einem Partyklub einzufangen.

    In der Altstadt herrscht zu dieser nächtlichen Stunde mehr Trubel als an einem verkaufsoffenen Sonntagmittag. Hoffentlich fange ich mir auf den rumliegenden Glasscherben keinen Platten ein.

    Ich werfe mein Rennrad in den Kofferraum meines Autos. Das sonore Brummen des Fünfzylinders zaubert ein Lächeln in mein Gesicht. Ich bin ganz gewiss kein Autofreak. Aber heute wird der Kilometerstand meines irgendwann vor meiner Zeit als ambitionierter Radsportler mal neu gekauften Volvos die 390.000-Kilometer-Marke überschreiten. Euphorisch lasse ich die Stadt hinter mir.

    An der Ausfallstraße zur Autobahn gerate ich in eine frühmorgendliche Alkoholkontrolle. Als die Beamten meinen Dress und das hinten im Auto liegende Rennrad erkennen, winken sie mich umgehend vorbei. Ich starte durch. Weg von den Stadtmenschen, rauf in die Berge!

    Ausflug

    In Andermatt komme ich eine Stunde früher an als gedacht. Zeitplanung ist nicht meine Stärke. Es ist ziemlich kühl. Das Hochtal liegt noch im Schatten. Aber langsam schiebt sich das Sonnenlicht die gegenüberliegenden Hänge hinab. Darüber strahlt tiefblau ein weiter Himmel. Wahrlich ein Tag zum Bäume ausreißen.

    Als Erstes suche ich mir ein Zimmer in einer einfachen Pension. Im Haus Edelweiß bekomme ich ein günstiges Einzelzimmer, dessen schmales Bett mich an mein Kinderzimmer erinnert. Fließend Wasser gibt es in dem Zimmer ebenfalls. Schnell sind meine beiden Trinkflaschen mit köstlichem Bergquellwasser gefüllt. Die Radklamotten habe ich ja schon an. An den Füßen trage ich jetzt Radschuhe. So brauche ich nur noch mein Rennrad aus dem Volvo zu ziehen und kann in einen herrlichen Sommertag starten.

    Die Tour von Andermatt über die Pässe Susten, Grimsel und Furka führt erst einmal hinab durch die Schlucht von Göschenen bis in den Talort Wassen. Mit schnellen, kraftvollen Pedaltritten verlasse ich Andermatt talwärts. Aber in der schattigen Abfahrt beginne ich schon bald mit den Zähnen zu klappern. Ich friere und frage mich, ob das wirklich so eine gute Idee war. Wäre es jetzt nicht schöner mit einer Indianerin im warmen Bett zu liegen, als hier die durch das dünne Lycra beißende Kälte zu ertragen? Doch der blaue Himmel über mir hält die Gewissheit aufrecht, dass der Tag sein Versprechen halten wird.

    Als ich in Wassen links in den Anstieg zum Sustenpass abbiege, werde ich bereits nach wenigen Minuten hinter zwei kurzen Tunneldurchfahrten vom warmen Sonnenlicht erfasst. Gerettet. Die ersten Meter fahre ich noch verhalten. Ich muss erst die Kälte aus meinem Körper bekommen. Allzu tief ist sie mir aber nicht in die Knochen gekrochen. Schon bald kann ich mein Tempo erhöhen. Ich sehe nach oben. Blau. Was für ein genialer Tag! Der Himmel scheint mich regelrecht anzuziehen. Das Fahren fällt mir trotz der Steigung spielerisch leicht. Nur einige wenige Autos haben mich bisher überholt.

    Da erkenne ich in den Kurven vor mir ein rotes Trikot. Ein anderer Radfahrer! Der scheint langsamer unterwegs zu sein als ich. Sofort gehe ich in den Wiegetritt und schalte zwei Ritzel herunter. Ich werde ihn bald einholen. Was für ein herrlicher Tag! Wieso habe ich das nicht schon letztes Wochenende gemacht? Und über welche Pässe werde ich am kommenden Wochenende fahren?

    Meine Carbonlaufräder schwirren. Am roten Trikot fliege ich regelrecht vorbei. Natürlich nicht, ohne einen kurzen Gruß zu räuspern. Mein hohes Tempo behalte ich bei. Aber werde ich es bis oben durchziehen können? Wohl kaum, es sind ja noch mehr als 15 Kilometer. Ich setze mich wieder zurück in den Sattel. Hoffentlich hat mir das rote Trikot nicht nachgesetzt. Dann würde aus einem gemütlichen Ausflug ganz schnell ein unerbittliches Rennen werden, das sich eventuell über den ganzen Tag ziehen könnte, falls das rote Trikot zufällig die gleiche Runde wie ich geplant hat.

    Irgendwann drehe ich mich vorsichtig nach hinten um. Weit unter mir schleicht ein roter Mann durch die grünen Wiesen. Der Typ ist abgehängt. Erleichtert kann ich wieder meinen Gedanken nachgehen.

    Die saubere Bergluft inhaliere ich tief in meine Lungen. Mein Blick haftet an den in der Sonne glänzenden Bergspitzen. Die Straße gehört mir ganz allein. Pfiffe von Murmeltieren durchbrechen ab und zu die Stille. Der Geruch der Almkühe dringt in meine Nase. Und der Duft von sämtlichen Kräutern der bekannten Schweizer Hustenbonbons. So einen Tag muss man sich gut merken. Im Winter werde ich bei meinen Trainingsfahrten wieder monatelang durch Schnee und Matsch fahren müssen. Von der Sonne wird wochenlang nichts zu sehen sein.

    Von vorne kommt ein Surren auf mich zu. Zwei Rennradfahrer rasen mir in schneller Fahrt entgegen. Im Windschatten des vorderen Mannes saust eine Frau an mir vorbei abwärts. Die Glücklichen! Ich beneide den Mann. Mit so einer Partnerin würde ich diesen grandiosen Tag jetzt auch gerne teilen.

    Schließlich erreiche ich in den Sustenpass, ziehe mir meine Windweste an und stürze mich in die Abfahrt nach Innertkirchen. Die vor mir liegende Strecke ist noch weit. Zudem warten noch etliche Höhenmeter auf mich. Bei nächster Gelegenheit will ich meine Verpflegung auffüllen. In rasanter Fahrt geht es in Serpentinen talwärts. Gegenüber strahlt das Weiß des beeindruckenden Steingletschers. Eigentlich müsste ich hier für ein Foto anhalten. Aber der Rausch der Abfahrt hat mich erfasst.

    In Innertkirchen muss ich an der Kreuzung links zum Grimselpass abbiegen. Zeit für einen kleinen Imbiss. An der Ecke befindet sich ein kleiner Platz, an dessen linkem Rand ein Supermarkt geöffnet hat. Ich kaufe mir ein Trinkjoghurt und zwei süße Gipfeli, die ich auf dem sonnigen Plätzchen konsumieren will. Als ich mir das Trinkjoghurt in den Hals kippe, höre ich hinter mir Stimmen. An den Sitzbänken am anderen Ende des kleinen Platzes haben drei Rennradfahrer zu einer Pause angehalten. Ich kann nicht verstehen, worüber sie reden. Einige Wortfetzen Schweizerdeutsch dringen zu mir herüber. Aber weder wohin sie weiterfahren noch wann sie wieder aufbrechen wollen, erschließt sich mir. Ich möchte die drei gut trainiert aussehenden Fahrer gleich nicht im Nacken haben, deshalb will ich sie lieber vor mir starten lassen. Entspannt kaue ich den letzten Bissen meines Snacks. Noch mal mit einem Schluck Joghurt nachspülen. Ich sehe mich wieder nach den drei Schweizern um. Was ist jetzt los mit euch? Sie machen überhaupt keine Anstalten, in Kürze weiterfahren zu wollen. Ich will aber nicht länger warten, sonst verliere ich zu viel Zeit.

    Also steige ich schnell wieder auf mein Rennrad und verlasse zügig das Dorf in Richtung Grimsel. Ich will mir einen guten Vorsprung rausfahren, damit mich die drei Kollegen nicht allzu früh einholen können. Im Vorbeifahren erkenne ich rechts auf einem Parkplatz eine Frau im grünen Radtrikot, die gerade ihr Rennrad aus ihrem Auto auslädt. Oder einlädt? Es ist schließlich schon fast Mittag. Vielleicht hat sie ihre Ausfahrt bereits hinter sich.

    Nach ein paar Kilometern schneller Fahrt werfe ich einen Blick zurück. Bevor die Straße hier um eine Felsnase nach links verschwindet, kann ich noch mal einen längeren Abschnitt hinter mir überblicken. Niemand ist zu sehen. Vorerst wird mich kein anderer Radfahrer einholen. Ich kann es etwas ruhiger angehen lassen.

    Vor mir ein Tunnelportal. Die Durchfahrt ist für Radfahrer gesperrt. Die Ausschilderung führt mich auf ein schmales Sträßchen, auf dem ich den Tunnel außenherum durch eine enge Klamm umfahre. Eine wilde Szenerie. Von diesem schönen Tag habe ich heute noch gar kein Erinnerungsfoto gemacht. Hier ist eine geeignete Stelle, um von mir ein Selfie zu machen. Ich baue die Kamera auf, starte die Automatik, drehe eine kleine Schleife und fahre, einen kraftvollen Bergsprint simulierend, durchs Bild. Klick.

    Zufrieden mit dem gelungenen Foto, packe ich meine Utensilien wieder in die Trikottaschen. »Hallo«, säuselt eine freundliche Frauenstimme. Hinter meinem Rücken huscht die Radfahrerin in dem grünen Trikot an mir vorbei. Also hat sie ihr Rad eben doch aus- und nicht eingeladen! Sofort nehme ich die Verfolgung auf. Schon bald habe ich sie eingeholt. Ich bleibe hinter ihrem Hinterrad. Sie ist schnell unterwegs. Ich versuche erst mal, meinen Puls zu beruhigen. Das will mir aber nicht gelingen. Meine Beine sind vom ersten Pass schon angezählt. Und die Beine der Frau vor mir sehen nicht so aus, als ob ich locker an ihnen dranbleiben könnte. Dennoch genieße ich es, hinter dieser sportlichen Frau den Berg hinaufzufahren. Ja, im Grunde fahren wir doch zusammen. Genau das, was ich mir heute Morgen noch gewünscht hatte. Aber verdammt noch mal, sie ist ziemlich schnell. Bestimmt eine routinierte Rennfahrerin. Ob das überhaupt meine Kragenweite ist? Sie hat eine Topfigur, und so, wie sie die bisherigen Höhenmeter bewältigt hat, scheint sie federleicht zu sein. Bei dem Tempo werde ich ihr unmöglich bis oben folgen können. Wieso bin ich ihr so leichtfertig hinterhergesprintet? Jetzt habe ich das Problem. Wie komme ich nun, ohne das Gesicht zu verlieren, wieder aus der Nummer raus? Bestimmt hat sie schon längst registriert, dass ich hinter ihr bin. Wenn ich mich nun einfach zurückfallen lasse, wird sie sich in der nächsten Kurve nach mir umsehen. Und mich als Versager abstempeln. Oder sogar auslachen. Lange halte ich die von ihr angeschlagene Geschwindigkeit aber nicht mehr durch. Bestimmt trainiert sie nach Puls. Bestimmt folgt sie einem anspruchsvollen Trainingsplan. Bestimmt ist sie ein Profi.

    Schon dreimal hatte ich mich damit motiviert, wenigstens bis zur folgenden Kurve an ihr dranzubleiben. Aber jetzt diese lange Gerade, die werde ich nicht überstehen. Meine Fresse, ist die Straße steil. Ich muss mir schnell etwas einfallen lassen.

    Ja, das ist die Idee! Bestimmt fühlt sich die professionelle Fahrerin vor mir durch mein kaum noch zu überhörendes Keuchen an ihrem Hinterrad in ihrem Training beeinträchtigt.

    »Störe ich dich?«, frage ich von hinten.

    Sie dreht sich zu mir um. Wow! Diese Ausstrahlung. Meine Traumfrau lächelt mich an und antwortet: »Nein, du störst überhaupt nicht.« Was? Damit hatte ich jetzt aber nicht gerechnet. Eigentlich wollte ich mich doch als vermeintlicher Störenfried generös zurückziehen. Aber kein Gedanke mehr an ein Zurückfallenlassen. Sie nimmt sogar ein wenig Tempo raus. Sodass wir nun nebeneinander fahren und uns unterhalten können.

    In allen europäischen Ländern außer der Schweiz gibt es eine Regel, was den Sicherheitsabstand beim Überholen von Zweirädern betrifft. Da die Schweizer für alles im Leben eine Regel brauchen, an die sie sich halten können, gelingt es ihnen deshalb als Autofahrer leider nicht, Radfahrer in einem gebührenden Abstand zu überholen. Immer wieder werden wir äußerst knapp von dem allmählich zunehmenden Autoverkehr überholt. Aber das stört mich nicht. Ich werde dieser Traumfrau nicht mehr von der Seite weichen.

    Schon bald ist klar, dass wir beide die gleiche Runde fahren wollen. Nach wenigen Kilometern haben wir uns schon gegenseitig unsere jeweiligen Lebensgeschichten erzählt und dabei viele Parallelen entdeckt. Natürlich gibt es auch Momente des gemeinsamen Schweigens. Einträchtig kurbeln wir nebeneinander den Grimselpass hinauf. Ich will ihr gerade berichten, dass ich neulich einen Alpenmarathon zusammen mit dem Exprofi Marcel Wüst absolviert habe, als sie mich fragt: »Wie heißt du eigentlich?«

    Meinen Namen muss ich neuen Bekanntschaften in der Regel erst mal buchstabieren. Mir fehlt immer noch die Luft für ausführliche Sätze, und aus irgendeinem blödsinnigen Grund antworte ich deswegen mit »Marcel Wüst«.

    »Aha, sehr interessant.«

    Dann sagt

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