Der gehäutete Hund
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Über dieses E-Book
Die Zivilisation in die Wildnis zu tragen, heißt die Männer zu Wilden werden lassen. Auf engem Raum zusammenlebend, bestimmen Kälte, Hunger und Einsamkeit den nackten Alltag. Der Roman spielt am Vorabend zweier Feiertage - eine Ausnahmesituation für die Barackenbewohner. Sex, Alkohol und Kartenspiel bilden im Verlauf des Abends eine explosive Mischung, die sich schließlich in einem Mord entlädt.
Minutiöse, naturalistische Schilderungen wechseln ab mit imaginierten Bildern, in denen das unglaubliche Geschehen sich für den Protagonisten verrätselt. Saprjanov zeigt Menschen in ihrem tragischen bis komischen Bemühen, als Individuen zu bestehen.
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Buchvorschau
Der gehäutete Hund - Christo Saprjanov
www.neuekritik.de
Inhalt
Text
Klappentext
Ihr Geschlechter der Sterblichen!
Wie zähl ich gleich und wie nichts
Euch Lebende.
Denn welcher, welcher Mann
Trägt mehr von Glück,
Als so weit, denn ihm scheint,
Und der im Schein lebt, abfällt.
Da ich dein Beispiel hab,
Und deinen Dämon, o Armer!
Preis ich der Sterblichen keinen glücklich.
Sophokles, »König Ödipus«
So denkt der Dummkopf, und sein einziges Streben
ist dies: Ein sattes Leben führen, und nie
fragt er, als was er eigentlich sein Leben
zubringt: als Mensch oder als ein Stück Vieh!
Christo Botew
Für Guillermo Mejia
Die ASSR der Komi. Taiga, Sümpfe und Nacht. Weiße Nächte. Ein Zug fuhr vorbei. Er kroch wie eine Schlange auf ihrer eigenen Spur. Es war ein alter Zug, und er kannte den Weg. Er transportierte Menschen. Arbeiter. Sie kamen von fern. Vorwiegend Männer. Bulgaren. Vom Schicksal getrieben, blieben sie, um hier, auf diesem herben Flecken Erde, Geld zu verdienen. Er war einer von ihnen. Niemand stand auf dem Bahnsteig. Sie wurden nur von Mückenschwärmen überfallen. Ein Bus wartete auf sie. Sie stiegen ein, und er fuhr los. Zu beiden Seiten blickte die Taiga auf sie. Sie folgten einem Lastwagen, der mit Baumstämmen beladen war. Ihre gezackten Spitzen ragten über die Ladefläche hinaus und wippten leicht als Antwort auf den holprigen Weg. Die Straße machte eine leichte Biegung. Der Lastwagen kam von der Fahrbahn ab und prallte auf die gegenüberliegenden Bäume. Der Autobus versuchte auszuweichen, aber es gelang ihm nicht. Er wurde von dem Bündel gestutzter Baumstämme durchbohrt.
Jetzt, da er so dahockte, die Vergangenheit im Rücken, die Hände über den Knien gekreuzt, das Kinn auf sie gestützt, und ins Feuer starrte, dachte er, er damals Glück gehabt hatte. Er hätte einer von ihnen sein können. Von den Toten. Von denen, die von den riesigen Spießen durchbohrt in der Luft hingen. Stöhnend und blutend. Doch er war es nicht. Der Tod war an ihm vorübergegangen und hatte in seinem Mund nur einen salzigen Blutgeschmack hinterlassen. Ein Schauder des Grauens, des Ekels und der Wonne durchfuhr ihn. Der Wonne, dass es ihn nicht getroffen hatte, dass er lebte, bespritzt mit fremdem Blut. Seitdem waren Monate vergangen, doch er spürte diesen Schauder in seinem Rückgrat noch immer. Er überkam ihn stets, wenn er sich daran erinnerte, aber gewöhnlich dachte er an anderes. An sie, an das Kind. Und je mehr Zeit verstrich, umso mehr vermisste er sie. Dieses Gefühl verstärkte sich durch die Bedingungen, unter denen er sein Dasein fristen musste. Er hatte den starken Wunsch, sie zu sehen, aber sie waren viel zu weit weg, Tausende Meilen von hier, und sicher dachten sie ab und zu an ihn. Er hoffte, dass es so war und dass sie auf ihn warteten. Ja, natürlich, und wenn es dann soweit wäre, würde alles wieder wie früher sein.
Er hatte ihnen nicht von dem Unglücksfall geschrieben. Er hatte es zwar gewollt, es dann aber nicht getan. Es war besser, wenn sie es nicht erfuhren. Sie hätten sich nur Sorgen gemacht, schließlich war er davongekommen, also hatte es keinen Sinn. Wichtig war, dass es ihm wieder gut ging und die Dinge eines nach dem anderen ins Lot kamen. Er hatte gewusst, dass es ihm nicht leichtfallen würde, aber trotzdem war vieles anders, als er es sich vorgestellt hatte. Seine schwerste Arbeit als Lehrer war es bisher gewesen, mit einem Stück Kreide etwas an die Tafel zu schreiben. Hier musste er einen Spaten in der Hand halten und damit den Beton glattstreichen. Das war eine ungewohnte Anstrengung für seinen Körper, zu Anfang wurde er ganz steif, dann gewöhnte er sich allmählich an den Rhythmus und meisterte seine Sache zunehmend besser. Er blieb in der Brigade, in der er angefangen hatte, und schon im zweiten Monat verdiente er gutes Geld. Die anderen Neuankömmlinge wechselten von Brigade zu Brigade, dort mussten sie bis zur Erschöpfung schuften, dann schmiss man sie raus, dabei hätten sie mindestens einen Monat lang in einer Gruppe arbeiten müssen, um das gleiche zu bekommen wie die anderen.
Mit den Arbeitern verstand er sich gut. Anfangs kamen sie ihm primitiv vor und wenig umgänglich, aber mit der Zeit gewöhnte er sich an sie und begriff, dass sie alle verschlossene, aber gute Männer waren: rauh und durch die Arbeit gestählt. Sie arbeiteten viel, alle zusammen, manchmal zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, besonders im Sommer, wenn der Tag kein Ende nahm.
Sie bauten eine Straße durch die Taiga. Sie gossen sie aus Beton, damit sie von der Winterkälte keine Risse bekam. Die Straße wurde immer länger, doch auch der Winter rückte immer näher. Der Boden war bereits vom Frost hart geworden, geschneit hatte es aber noch nicht. Jeden Augenblick konnte der erste Schnee fallen, dann würde die Arbeit schwer werden. Deshalb hatten es die Vorgesetzten eilig, der Plan musste erfüllt werden. Der technische Leiter trieb sie an. Er drohte, sie würden keine Prämien bekommen, wenn sie so weitermachten. Mager, ausgezehrt, in Lederstiefeln und schwarzem Parka stand er auf der Baustelle, die Hände in den Taschen vergraben, er rauchte und verfolgte ihre Arbeit aus seinen Knopfäuglein. Manchmal trat er dicht hinter sie, schnaufte laut, dann spuckte er auf den nassen, noch ungeglätteten Beton in der Verschalung, blickte sie mürrisch an und stieg in den Jeep, ohne ein Wort zu sagen. Sie mochten ihn nicht, und auch er mochte sie nicht. Er drohte ihnen ständig, er würde sie feuern und sie in den »fröhlichen« Zug setzen. So nannten sie den Zug, der jene wegbrachte, die gegen die Spielregeln hier verstießen, und vor allem die fristlos Entlassenen. Sie wurden nach Bulgarien zurückgeschickt. Die Kriminellen kamen vors Gericht, die anderen mussten eine Vertragsstrafe zahlen. Das war eine Menge Geld. Deshalb verhielten sie sich still und bemühten sich, nicht allzu oft mit ihm zu streiten, denn er war ein Mann des Direktors, und der große Chef würde jeden Kündigungsbrief unterschreiben, ohne mit der Wimper zu zucken.
Bis Ende des Jahres sollten sie den Fluss erreichen, aber er war ein ganz schönes Stück entfernt durch die Taiga. Der Beton wurde auch nicht immer rechtzeitig geliefert. Das verzögerte die Arbeit. Dann mussten sie herumsitzen und auf die Kipper warten. Im Sommer konnte man sich an einen Balken lehnen und ein Nickerchen machen, aber jetzt standen sie nur herum und froren. Manchmal machten sie ein Feuer, spielten Karten, erzählten sich irgendwelche Geschichten und rösteten Pilze am Spieß. Das Nichtstun ermüdete sie nicht weniger als die Arbeit, obwohl sie zuweilen eine Verschnaufpause brauchten. Wenn die Kipper mit dem Beton zurückkamen, war auch der Technische zur Stelle. Nervös und hastig ging er auf sie zu und rief: »Los, macht euch an die Arbeit, ihr seid ja schlaff wie geschmorter Porree.« Er heizte ihnen ein, weil sie es waren, die eigentlich das Geld machten. Die anderen stahlen es. Von ihnen. Überstunden wurden nie bezahlt, wenn es nötig war, mussten sie manchmal sogar sonntags schuften, so wie heute.
Es standen Feiertage bevor, und für sie wurde an den freien Tagen vorgearbeitet. Zuweilen mussten sie zwei, drei Wochen durcharbeiten, aber der Lohn war immer der gleiche. Die Männer wollten ausspannen, sie brauchten Alkohol und Freizeit, sie hatten keine Lust zu schuften. Was interessierte sie der Plan, es war ihnen gleich, ob sie den Fluss erreichen oder ins Jenseits kommen würden. Das war ihnen völlig Wurst. Heute hatten sie eigentlich nicht zur Arbeit gehen wollen, schließlich hatten sie es fluchend doch getan. Überflüssige Konflikte hatten keinen Sinn, man hatte sie ohnehin schon aufs Korn genommen. Wenn sie heute nicht zur Arbeit erschienen, würde sich ihre Lage nur noch verschlimmern, ändern würde sich nichts. Man würde ihnen den Mittelfinger zeigen und ihnen dann die Prämien streichen. Es war viel besser, sich damit abzufinden und nur so zu tun, als ob sie arbeiteten, deshalb waren sie an diesem Sonntag auf der Baustelle erschienen, damit niemand etwas sagen konnte.
Nur er war in der Baracke geblieben. Dem Technischen würden sie sagen, er habe einen Herzanfall bekommen. In letzter Zeit hatte er tatsächlich Schmerzen, Stiche bekam er seit eh und je, aber er hatte sie nie ernst genommen. Von Zeit zu Zeit bekam er einen Krampf, aber das ging dann wieder vorbei. Eine Bagatelle. Es war erträglich. In solchen Fällen brauchte er nur einen Augenblick Ruhe, er holte tief Luft, und schon verging der Schmerz. Einmal war ihm das auch während der Arbeit passiert, aber er hatte sich schnell wieder erholt. Gerade deshalb hatten sie ihn in der Baracke zurückgelassen. Er sollte Holz für die Feiertage hacken, damit sie genug fürs Feuer hätten.
Sobald sie fort waren, machte er sich an seine Aufgabe. Er zerschnitt ein paar Baumstämme mit der Motorsäge zu kleineren Kloben, nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz, sondern so, dass sie der Wucht entsprachen, mit der er mit der Axt auf sie einhieb. Nachdem er jeden Kloben zuerst in zwei, dann in vier Stücke gespalten hatte, reihte er sie an der Hinterwand der Baracke auf. Diese Arbeit war zeitaufwendig, aber ihm gefiel sie. Er liebte es zu sehen, wie die Klinge der Axt, von seiner eigenen Kraft getrieben, im Holz versank und es zerteilte, nach jedem Schlag spürte er seine körperliche Kraft und Geschicklichkeit.
Einen Teil der Holzscheite trug er in die Baracke und legte sie im Kamin zurecht, den sie aus Beton gegossen hatten, damit die hölzernen Wände kein Feuer fingen. Er wärmte gut, nicht schlechter als die Öfen, die man ihnen gab. Sie waren aus Blech und wurden schnell wieder kalt, während der Beton die Wärme bis zum Morgen speicherte.
Er ordnete die Scheite in der Mitte der Feuerstelle, ganz unten schob er ein paar Holzspäne dazwischen und zündete sie mit einem Streichholz an. Die Baracke war klein und wurde schnell warm. In ihr wohnten nur er und Jaska. Sie verstanden sich, obwohl er ein ziemlicher Sonderling war. Er trank viel, aber das tat jeder. Gewöhnlich schwieg er, manchmal machte er einen Scherz oder er lächelte nur. Das, was er über ihn wusste, hatte er von den anderen erfahren. Dass er zweimal verheiratet gewesen war, doch das erstemal ohne Glück, denn seine Frau verließ ihn, obwohl sie