Zidane schweigt: Die Équipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft
Von Frédéric Valin
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Über dieses E-Book
Warum aber steht eben diese Mannschaft Jahre später für das Auseinanderbrechen der französischen Gesellschaft und das Scheitern des Multikulturalismus? Warum erlebt der rechtsextreme Front National in dieser Zeit seinen größten Aufschwung? Und warum ist Patrick Vieira eigentlich ein viel interessanterer Spieler als der große Zidane?
Frédéric Valin widmet sich diesen Fragen neben vielen anderen in seinem Essay "Zidane schweigt" und verknüpft in dichten Momentaufnahmen Fußball- mit Sozialgeschichte, Alltagsbeobachtungen mit Spielanalysen, persönliche Begeisterung mit dem Blick auf das gesellschaftliche Ganze. So entsteht eine Studie der französischen Gesellschaft, die ihren Ausgangspunkt auf dem Rasen hat. "Was ist Frankreich? Das ist es. Dieses Tor, dieser Jubel. Dieser Konfettiregen."
Mit "Zidane schweigt" startet die neue eBook-Reihe des Verbrecher Verlags: die "Edition Elektrobibliothek". In dieser Reihe werden demnächst Romane, Erzählungen und Essays in ausschließlich elektronischer Form veröffentlicht.
Ähnlich wie Zidane schweigt
Titel in dieser Serie (3)
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Buchvorschau
Zidane schweigt - Frédéric Valin
Frédéric Valin
Zidane schweigt
Die Équipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft
ES IST DER 12. JULI 1998, kurz vor halb zehn, ein Vorort von Paris. 80.000 Menschen stehen in einer lauen Sommernacht und schauen auf das Stück Rasen vor ihnen. Überall auf der Welt reden Kommentatoren davon, dass heute Geschichte geschrieben werde. Es ist das Finale der WM, Frankreich gegen Brasilien.
Brasilien steht hinten drin und wartet. Den Gegner kommen lassen. Man hat einen Plan. Frankreich spielt quasi ohne Angreifer. Vorne drin steht Guivarc'h, der wahrscheinlich schlechteste Mittelstürmer, der je ein großes Turnier gewinnen wird. Selbst wohlmeinende Kommentatoren sagen zu seinen Qualitäten: Er läuft viel. Nach der Vorrunde haben ausschließlich Verteidiger die Tore für Frankreich gemacht, einmal Blanc, zweimal Thuram. Vorne das Elend, hinten die Not: Im Tor der Franzosen steht Barthez, die Knalltüte. Bei Flanken eiert er durch den Strafraum wie ein Flummi. Mit etwas Glück fällt irgendeinem der Brasilianer ein Ball auf den Kopf, und dann ab dafür. Brasilien hat Rivaldo, Ronaldo und Bebeto im Sturm, jeder von denen kann in einem hellen Moment die französische Abwehr zu einem Kranich falten. Man wartet auf eine ihrer Eingebungen.
Bis jetzt ist Frankreich, wie man heute sagt, griffiger in den Zweikämpfen, es wird nach dem Spiel viel von Wille und Einsatzbereitschaft zu lesen sein. Die einzige Großchance aber hatte Brasilien. Bis zur 27. Minute, als Frankreich zu seinem ersten Eckball kommt. Vernünftigerweise kann der eigentlich nur drei Abnehmer haben: Desailly, Lebœuf oder Thuram. Die sind zugestellt. Der Ball aber segelt an den ersten Pfosten, Zidane wuchtet sich in die Flugbahn, Kopfballtor, kurz vor der Halbzeit wird er ein zweites nachlegen. Wer darauf gewettet hat, hat genug Geld gemacht, um dieses Buch auf dem Sonnendeck seiner Jacht vor Kreta lesen zu können.
Brasilien hat jetzt nichts mehr auf der Pfanne. Ronaldo hätte nach Willen vieler Beobachter bei dieser WM seine Metamorphose vom Star zur Legende vollenden sollen; heute verkantet er sich immer wieder in der französischen Viererkette. Hinterher wird es heißen, er sei nicht fit gewesen und mit fragwürdigen Substanzen gesundgespritzt worden; andernfalls natürlich, wer weiß schon, was andernfalls geschehen wäre. Jedenfalls wird danach sehr viel über Ronaldos Knie gesprochen werden.
Das Thema verdeckt den tatsächlichen Grund für das Scheitern Brasiliens: dass nämlich der Trainer Zagallo keinen Offensivplan haben zu müssen glaubte. Den aber hätte es gebraucht, mindestens als Alternative. Verteidigung lässt sich einfacher organisieren als Angriff. Und in einem Finale in Rückstand zu geraten, ist fast schon gleichbedeutend mit einer Niederlage; das letzte Mal ein Spiel drehen konnten die Deutschen, 1974, 24 Jahre ist das her. Seither ist es nur noch einer Mannschaft gelungen; Italien 2006 gegen Frankreich. Brasilien gelingt es nicht.
Schlussendlich ist ein anderer zur Legende aufgestiegen: Zinédine Zidane. Bereits an diesem Abend verdichtet sich seine Aura ins Halbgotthafte. 2006 wird sich seine Einzigartigkeit auf dem Platz noch ein letztes Mal manifestieren. Danach wird er sich für ewig in die Geschichte des französischen Fußballs eingeschrieben haben; mehr noch: in die Geschichte Frankreichs.
Also, was im Fußball halt ›ewig‹ heißt. Ein paar Jahrzehnte auf jeden Fall.
Der Titelgewinn 1998 kommt zu einer untypischen Zeit: Gerade in Frankreich sind die 90er eine Zeit des Niedergangs, eine Epoche der lähmenden Krise. Nach Fukuyamas ›Ende der Geschichte‹ füllen Apokalypsen die Feuilletons: Der Kommunismus ist passé, die Revolution endgültig Historie, selbst die Literatur gilt als erledigt.
Das Land ist müde. Seit 1974 geht nichts mehr voran. Der Ölschock hat dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit – den ›trente glorieuses‹ – ein Ende gesetzt, seither hat sich die Wirtschaft nicht mehr erholt. Die Arbeitslosenquote stagniert seither auf plusminus zehn Prozent.
Anfang der 80er versucht sich Frankreich an einer Alternative: Die Konservativen werden abgewählt, eine sozialistisch-kommunistische Regierung kommt an die Macht. Sie hat versprochen, das Diktum der Austeritätspolitik zu durchbrechen und – zumindest vorsichtig – das Wirtschaftssystem im Sinne der Arbeitnehmer umzubauen.
Der Beginn ist vielversprechend: Große Unternehmen werden verstaatlicht, der Mindestlohn heraufgesetzt, die Zinssätze abgesenkt. Es ist die Zeit des ›état de grâce‹, des Gnadenstaates. Die Ausgaben wachsen, man hofft auf eine baldige Erholung der Weltwirtschaft.
Hilfreich wäre ein generelles Konjunkturprogramm. Aber die anderen Länder beharren auf der bisherigen Linie der strikten Kostenkontrolle. Frankreich isoliert sich mit seinem Versuch, einen anderen Weg zu