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Leben und Werk des seligen Georg Matulaitis: Förderer des Friedens und der Verständigung
Leben und Werk des seligen Georg Matulaitis: Förderer des Friedens und der Verständigung
Leben und Werk des seligen Georg Matulaitis: Förderer des Friedens und der Verständigung
eBook937 Seiten10 Stunden

Leben und Werk des seligen Georg Matulaitis: Förderer des Friedens und der Verständigung

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Über dieses E-Book

„Er suchte Gott in allem, er lebte nur für ihn“
Diese Zeilen aus einem Lied zum sel. Georg Matulaitis fassen die Grundeinstellung dieses Ordensmannes und Bischofs zum Leben gut zusammen. Die Suche nach Gott und die Erfahrung seiner Gegenwart gaben ihm Kraft, sich den Herausforderungen seiner Zeit zu stellen und einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu Völkerverständigung und Frieden im Pulverfass Osteuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu leisten.
Aus Sicht seiner Freunde und Feinde, persönlichen Aufzeichnungen, Schriftverkehr, Erinnerungen und Zeitungsartikeln entsteht in dieser Biographie ein umfangreiches Bild seiner Persönlichkeit, das erkennen lässt, wie dieser Freund der Menschen die Zeichen seiner Zeit erkannte. Er zeigte durch sein Leben, dass es sich wirklich lohnt auf Gott zu vertrauen, selbst wenn alle Umstände gegen Gottes Wirken zu sprechen scheinen. Er machte Gottes Gegenwart spürbar.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Dez. 2015
ISBN9783739266695
Leben und Werk des seligen Georg Matulaitis: Förderer des Friedens und der Verständigung
Autor

Tadeusz Górski

Tadeusz Górski gehört der Regularklerikerkongregation Mariens von der Unbefleckten Empfängnis, kurz Marianer, an. Als Historiker und Mitglied des Instituts für Geschichte und Spiritualität der Marianer in Rom setzte er sich intensiv mit dem Wirken des sel. Georg Matulaitis, dem Erneuerer der Kongregation, auseinander, sammelte Quellen aus verschiedenen Archiven, Sprachen und von Zeitzeugen und schrieb zahlreiche Werke, die einen tieferen Zugang zu seinem Leben und Wirken ermöglichen.

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    Buchvorschau

    Leben und Werk des seligen Georg Matulaitis - Tadeusz Górski

    TEIL I

    JUGEND UND ERSTE ARBEITEN

    Kapelle in Lugine an der Stelle des Elternhauses von Georg Matulaitis

    1. Elternhaus und Schulzeit

    Das älteste Dokument mit unmittelbarem Bezug zu Georg Matulaitis ist die Heiratsurkunde seiner Eltern. Es war schon nicht alltäglich, dass an ein und demselben Tag, um dieselbe Uhrzeit und von demselben Priester zwei Brüder mit zwei Schwestern getraut wurden: Die beiden Brüder Matulaitis Andreas, der Vater von Georg, und sein jüngerer Bruder Joseph heirateten die beiden Schwestern Matulisowna - Ursula, Georgs Mutter, und ihre jüngere Schwester Helena. Die Urkunden wurden in polnischer Sprache ausgefertigt. Das folgende Zitat enthält ein größeres Fragment aus der Heiratsurkunde von Georgs Eltern, wobei die Originalschreibweise der Namen und Ortschaften beibehalten ist:

    „Heiratsurkunde von Andrzej Matułaytys, Junggeselle, mit Urszula Matulowna, Jungfrau. So geschehen in der Stadt Maryampole am dreizehnten Februar achtzehnhundertvierundvierzig um zwei Uhr nachmittags. Wir geben bekannt, dass in Gegenwart der Trauzeugen Antoni Widzbor, Schulze aus Nietyczkompie, Schwager der Neuvermählten, zweiundvierzig Jahre alt, und Józef Petter, Schulze aus Wekierotyszki, vierzig Jahre alt, am heutigen Tag der religiöse Bund der Ehe zwischen Andrzej Matułaytys, Junggeselle, Landwirt wohnhaft im Dorf Lugina, vierundzwanzig Jahre alt, geboren in demselben Dorf als Sohn der Eheleute Jan und Agnieszka geb. Waysam, Matułaytys, daselbst wohnhaft, mit Jungfrau Urszula Matulowna, Tochter der Eheleute Tomasz und Róża, geb. Bobrowicz Matulow, wohnhaft auf ihrem Hof im Dorf Woytyszki, zwanzig Jahre alt, ebendort geboren und bei den Elten verblieben, geschlossen wurde. [...] Die Trauung des Paares wurde von Pfarrer Jakób Malewski im Auftrag des Ortspfarrers vollzogen. Die Urkunde wurde den Erschienenen und Zeugen verlesen und durch uns und die Zeugen unterzeichnet. Die Eheleute sind des Schreibens nicht mächtig. [...]"'.⁰¹

    Der Familienname der Brüder wird immer „Matułaytys geschrieben, später nimmt er die Form Matulaitis an. Der Familienname der Mutter is „Matulowna aus der Familie „Matulow, bei ihrer Schwester Helene einmal „Matulewiczowna, ein anderes Mal „Matulowna, Tochter der „Eheleute Matulow⁰². Georg gab den Familiennamen seiner Mutter immer als Matulewiczówna an.⁰³ Der Familienname Matulewicz, den Georg in Zukunft annehmen wird, wurde auch damals schon in der Familie verwendet, so vom Bruder der Mutter P. Feliks Matulewicz, Pfarrer in Piaseczno bei Warschau, Kanoniker in Łowicz (1839-1902) und von Georgs Cousin, Jan Matulewicz aus Kielce, später Georgs Vormund.⁰⁴ Georgs Eltern waren des Schreibens nicht mächtig, jedoch der Bruder des Vaters.

    Das Heimatdorf trägt den Namen Ługina. Diese Schreibweise verwendet auch der Pfarrer 1873.⁰⁵ In den Kirchenbüchern findet man auch Ługinie. Ab 1912 tritt der heutige Name Lugine auf.⁰⁶

    Das Dorf Lugine, das nur 8 Bauernhöfe und 104 katholische Einwohner⁰⁷ zählte, lag in der Gemeinde Šunskai, ca. 5 km von der Kreisstadt Mariampol entfernt, im Gouvernat Suwałki, Königreich Polen. Es gehörte zur Pfarrgemeinde Mariampol in der Diözese Sejny.

    Das Umfeld, dem Georg entstammte, war moralisch gesund und religiös. P. Jerzy Czesnas schreibt 1873 in seinem Bericht an den Bischof:

    „Die Sitten der Menschen in der Pfarrgemeinde Mariampol sind im Allgemeinen sehr untadelig. Sie halten sich bis auf sehr seltene Ausnahmen von jeder Maßlosigkeit fern. Wenn sie auch mit einem Übermaß an Gastfreundschaft sündigen, so herrscht doch unter ihnen eine große Liebe und Einheit. Gebete und Gottesdienste ehren sie sehr und strömen an Sonn- und Feiertagen zur Kirche".⁰⁸

    Georgs Vater besaß 32 ha fruchtbarer Erde.⁰⁹ Der Hof lag am Fluss Šešupė, dem linken Hauptzufluss der Memel, von Mariampol aus gesehen am Ende des Dorfes, auf der anderen Flussseite. Die Eheleute Matulaitis hatten acht Kinder: Fünf Söhne und drei Töchter. Der früh verstorbene älteste Sohn Feliks wurde Gemeindeschreiber. Magdalena heiratete Mačys aus dem nahen Dorf Klevine. Das dritte Kind war Jan, der das väterliche Anwesen erbte und für Georgs Erziehung verantwortlich war. 1905 verkaufte er den Hof und lies sich in Mariampol nieder. Er starb 1919. Der nächste Sohn war Władysław (1852-1935), der eine Familie in Bliudžiškiai gründete. Von allen Geschwistern lebte er am längsten. Maria heiratete Radzevičius und wohnte in Kalwaria.

    Emilia ehelichte einen Grenzbeamten und wurde nahe der preußischen Grenze ansässig. Andrzej (1856-1932) beendete das mariampoler Gymnasium und studierte an der Universität Moskau. Wahrscheinlich gehörte er zu den zehn Stipendiaten, die als junge Litauer aufgrund ihrer Begabung von der zaristischen Regierung ausgewählt wurden. Er arbeitete in einer Bank in Moskau und leitete später die Sparkasse in Kaunas.¹⁰

    Georg war der Jüngste. Er wurde am 13. April 1871 geboren. Geburtsurkunde und Taufschein sind in russischer Sprache ausgefertigt, darauf ist zu lesen:

    „So geschehen am achten (zwanzigsten) April achtzehnhunderteinundsiebzig um vier Uhr nachmittags. Persönlich erschien Andrzej Matulaitis, Bauer, wohnhaft im Dorf Lugina, neunundvierzig Jahre alt, in Gegenwart von Tomasz Gryniewicz, achtundfünfzig Jahre, sowie Mateusz Letuwnik, fünfzig Jahre alt, Bauern, in Lugina wohnhaft, und stellt uns ein Kind männlichen Geschlechts vor und erklärte, es sei am ersten (dreizehnten) April um sechs Uhr morgens im Dorf Lugina durch seine rechtmäßige Ehefrau Urszula geb. Matulis, fünfundvierzig Jahre alt, zur Welt gebracht worden. In der durch P. Jerzy Czesnas erteilten heiligen Taufe waren dem Kind die Namen Georg (Jerzy) und Bolesław gegeben worden, Taufpaten waren: Abdon Gryncewicz und Jungfrau Aniela Burzyńska".¹¹

    P. Czesnas war Pfarrer in der Pfarrgemeinde und gleichzeitig Generaloberer der Marianer. So wurde schon bei der Taufe Georgs Band mit der Gemeinschaft der Marianer geknüpft. Sie bereiteten ihn auch auf die Erstkommunion vor und lehrten ihn die Grundsätze des Glaubens. Nach ihrem Vorbild wollte er Priester werden. In Zukunft würde er den Orden erneuern und selbst Generaloberer werden.

    Das familiäre Glück währte für Georg nur kurz. Sein Vater starb am 13. November 1874 im Alter von 55 Jahren¹², die Mutter im Alter von 58 Jahren am 15. Mai 1881¹³. Die Obhut über den zehnjährigen Georg übernahm der Bruder Jan, der auch den elterlichen Hof übernahm. Ein Jahr später heiratete er Weronika Vitkauskaite.¹⁴ Obwohl der Hof groß war, hatten die Übernahme und die Auszahlungspflicht der zahlreichen Geschwister zur Folge, dass Georg in Not aufwuchs.

    Um 1879 besuchte Georg die Elementarschule in Mariampol. Sein Lehrer war Tomasz Žičkauskas. Der Unterricht fand in russischer Sprache statt. Für Litauisch und Religion gab es eine Stunde pro Woche. Religion unterrichtete P. Wincenty Sękowski.¹⁵

    Der Kontakt mit Mariampol erweiterte Georgs geistigen Horizont. 1885 zählte die Stadt 5389 Einwohner. Neben Gliedern der katholischen Kirche, Litauern und einer Hand voll Polen, lebten hier auch zahlreiche Juden mit eigener Synagoge, deutsche Siedler mit einer evangelischen Kirche¹⁶ und russische Beamte und Militärangehörige, die dem russisch-orthodoxen Glauben angehörten. Dies stellte jenes Mosaik verschiedener Nationen und Religionen dar, mit dem Georg sein ganzes Leben immer wieder zu tun haben sollte.

    Im Sommer 1881 interessierte sich der Student Andrzej für seinen jüngeren Bruder. Ihm fiel auf, dass dieser ein intelligenter Junge war. Später sollte er sagen: „Es machte Spaß mit ihm zu arbeiten und spazieren zu gehen: er interessierte sich für jeden Grashalm, für die Natur, stellte Fragen, woher Blitz und Donner kommen, weshalb die eine Pflanze hier und die andere da wächst usw.."¹⁷ Eilig bereitete er Georg auf die Oberschule vor.

    Dies war ein siebenjähriges Gymnasium für Knaben mit klassischem Profil. 1883 zählte es 495 Schüler. Finanziert wurde es durch Gelder der Regierung und Schulgebühren von 20 – 25 Rubel pro Jahr. Georg hätte auch das Internat nutzen können, aber das konnte er sich nicht leisten. Der Unterricht fand in russischer Sprache statt, in beschränktem Maße waren auch Litauisch und Polnisch zugelassen.¹⁸

    Um die Schule in Mariampol zu besuchen, legte Georg jeden Tag 10 km zu Fuß zurück. Wincenty Šlekys aus dem Nachbardorf schrieb über seinen Schulkameraden:

    „Der Bruder sorgte schlecht für Georg [...]. im Winter waren wir Jungen warm angezogen, nur Georg ging in dünnen, abgerissenen Sachen zur Schule. Im Herbst holte er mich ab und zu von Zuhause ab und war ganz blau vor Kälte. Meine Mutter wärmte den vor Kälte zitternden Georg am Ofen und schimpfte über den Bruder, weil er sich nicht um ihn kümmerte."¹⁹

    Lediglich bei ganz schrecklichem Wetter wurde er zur Schule gefahren. Für Bücher hat er nicht immer Geld, also lieh er sie häufig aus. Religion hatte er wie in der Grundschule bei P. Wincenty Sękowski,²⁰ Dieser hat ihn mit Sicherheit auch auf die Erstkommunion vorbereitet, die in der Diözese Sejny im Alter von zwölf Jahren gespendet wurde, bei Georg wohl um das Jahr 1883. In den letzten Schuljahren (1884-1886) war der Diözesanpriester Jan Michniewicz²¹ Katechet am Gymnasium. Eine der Nachbarinnen erinnerte sich daran, wie Georg in der Kirche von Mariampol den Kreuzweg ging.²²

    In der ersten Klasse lernte Georg gemeinsam mit Justyn Staugaitis, dem späteren Bischof von Telšiai und politischem Funktionär. Er erinnert sich: „Georg war ein lieber und bescheidener Junge, der sich durch nichts auszeichnete. Augenscheinlich war er schlecht auf die erste Klasse vorbereitet, denn er gehörte eher zu den schwächeren Schülern."²³ Unter solchen Bedingungen wiederholte er die 4. Klasse, „wegen mangelhafter Kenntnis der Altsprachen²⁴. Man kann vermuten, dass sich gerade deshalb sein Bruder Władysław mit ihm beschäftigte und eine Unterkunft in Mariampol für ihn bezahlte.²⁵ Erhalten geblieben ist lediglich das Zeugnis für russische Sprache aus der wiederholten 4. Klasse. Darin wird festgestellt, dass Georg Matulaitis „sich durch vorbildliches Verhalten, gute Aufmerksamkeit und Fleiß auszeichnete. 1885/86 erhielt er als Schüler der 4.Klasse folgende Zensuren: Religion - 4,5, Russisch - 3,5, Griechisch - 4, Arithmetik - 5, Geometrie - 5, Algebra - 4,5, Geschichte - 4,5, Deutsch - 3,5, Litauisch - 4. Mit diesen Ergebnissen wurde er in die 5. Klasse versetzt.²⁶ [Anm. d. Red.: 5 entspricht der Note sehr gut, 1 bedeutet ungenügend]

    Das ist ein mehr als gutes Zeugnis. Selbst in der verflixten griechischen Sprache erhielt er eine gute Zensur, in Latein wird er in Zukunft zum Experten werden. Mit dem Besuch des Gymnasiums in Mariampol befand sich Georg im Zentrum der nationalen Wiedergeburt und wurde zum bewussten Litauer.

    Litauen, das mit Polen gemeinsam einen Staat bildete, wurde einer weitgehenden Polonisierung unterworfen. Russland beabsichtigte, nachdem es die litauischen Gebiete an sich gerissen hatte, eine Russifizierung, indem u.a. in den Jahren 1865-1904 die Herausgabe litauischer Druckerzeugnisse mit lateinischen Buchstaben verboten und die Orthodoxie verbreitet wurde.

    Die Befreiung der litauischen Bauern nach dem Januaraufstand verbesserte ihre Vermögenssituation und förderte wiederum den Drang der Bauernsöhne nach Bildung. Es entstand eine neue litauische Intelligenz, die sich für die eigene nationale Identität zu interessieren begann. Diese Bestrebungen griff Jonas Basanavičius, Zögling des mariampoler Gymnasiums, in der in Ragneta auf preußischem Gebiet herausgegebenen Monatsschrift „Aušra [„Morgenröte] (1883-1886) auf. Er verbreitete Wissen über Litauen und seine Größe, wobei er in der polnisch-litauischen Union die Wurzel allen Übels für das litauische Volk sah. Man beschäftigte sich mit der litauischen Sprache, ihrer Geschichte und Gegenwart, sowie ihrer Reform und Pflege.

    Diese Ideen fanden lebhaftes Echo und Verständnis und erzeugten den Wunsch ihrer Verwirklichung in Litauen, insbesondere in Mariampol und am Gymnasium selbst, wo ein Zentrum der sich herauskristallisierenden nationalen Bewegung entstand. Führend waren zwei Lehrer: Petras Kraučiunas, Lehrer für klassische Sprachen und Litauisch, und Petras Arminas, Dichter, Übersetzer und Lehrer für Litauisch.²⁷

    Unter ihrer Leitung wurde in Mariampol eine Gruppe junger Litauer herangezogen, die beim Aufbau des litauischen Staates und des gesellschaftlichen und religiösen Lebens eine wichtige Rolle spielte.²⁸

    Ein Echo dieser Ideen finden wir in Georgs Brief an seinen Freund Wincenty Šlekys, der bei dem illegalen Vertrieb von litauischen Druckerzeugnissen aus Preußen und später als Redakteur der litauischen Presse in den USA tätig war:

    „Vielleicht erinnerst auch du dich manchmal an die teuren Stunden, die wir gemeinsam, eingeschlossen in einem engen Raum verbrachten, aber mit den Gedanken weit an die Memel, die Düna und Neris geflogen sind, nach Kaunas und Vilnius, wo so viele unserer litauischen Brüder Elend leiden. Und wir wanderten durch unser teures Vaterland Litauen, besahen alle Wunden und Nöte, sprachen und beratschlagten, was zu tun wäre, um unser geliebtes Vaterland zu retten."²⁹

    Georg war sich dessen bewusst, dass für die „Wunden und Nöte" manchmal auch andere Völker verantwortlich sind. So entstand in ihm ein Gefühl, das für alle Mitstreiter der Wiedergeburtsbewegung typisch ist. Erst viele Jahre später vertraute er sich damit seinem Freund Jan Totoraitis an:

    „Früher konnte ich Juden nicht leiden und es gab eine Zeit, da ich Russen und Polen nicht leiden konnte. Aber Gott hat mich erleuchtet, er schenkte mir die Gnade und ich habe verstanden, dass das gegen die Lehre Christi ist, der uns lehrte den Nächsten zu lieben wie uns selbst, der sogar lehrte, die Feinde zu lieben, für sie zu beten und ihnen Gutes zu tun."³⁰

    1886 zeigte sich Georgs Krankheit zum ersten Mal,³¹ als sich eine gefährlich aussehende Wunde am Bein öffnete. Schwägerin Weronika brachte ihn zum Arzt Pavalkis, der meinte, das Bein müsse amputiert werden. Die kluge Frau ging mit ihm jedoch noch zu einem zweiten Arzt, zu Dr. Smólski. Als er die Diagnose seines Kollegen hörte, sagte er: „Doktor Pavalkis gehört der Kopf amputiert." Die Wunde heilte, aber nicht die Krankheit.³² Es war Knochen-Tuberkulose, die erst mehr als ein Dutzend Jahre später in der Schweiz diagnostiziert wurde. Wenn es ihm schlecht ging, konnte er nur an Krücken laufen. In dieser Situation verzichtete er im Oktober 1886 darauf, in die 5. Klasse zu wechseln und blieb zu Hause.³³

    Nach Kräften half er dem Bruder in der großen Landwirtschaft. Er tränkte die Tiere, pflügte und schärfte in der Pause beim Schmied die Metallteile und half bei der Getreideernte. Im Winter arbeitete er im Wald. Er baute selber Werkzeuge wie Rechen und für sich selbst Holzschuhe. Im Winter trug er einen Pelz. Weil das Land am Fluss in der Nähe des Waldes gelegen war und sie ein großes Haus hatten, kam im Sommer die Gattin des Notars von Mariampol, Frau Koceliene, zu ihnen aufs Land zur Erholung. Sie verlangte, nach Mariampol in die Kirche gefahren zu werden. Diese Aufgabe fiel Georg zu, der sich ihr entziehen wollte. Grund war, dass es ihm an passender Kleidung fehlte, mit der er sich in der Stadt hätte zeigen lassen können. Dem schaffte sie Abhilfe, indem sie ihm neue Kleider kaufte.³⁴ Bei seiner Arbeit trug er immer den Rosenkranz und ein Buch bei sich, von denen er in der freien Zeit Gebrauch machte. Das beeindruckte die Dörfler sehr. „Seht her, sagten sie, „der Knecht vom Malulaitis ist ein Gelehrter.³⁵

    Dieser Zustand dauerte etwa drei Jahre. Es schien, als sollte Georg sein ganzes Leben lang der kranke Knecht bleiben. Dank seines Cousins, Jan Matulewicz, der Lehrer am Gymnasium in Kielce war, änderte sich das jedoch radikal.


    01  LVIA, 1236,3, Vol. 394, K. 460, Nr. 11.

    02  Ebd., Nr. 12.

    03  AGM, Acta JM, Personalia Nr. 8, Auszug aus dem Meldebuch in Warschau, Piękna-Straße 24/26, Nr. 1097

    04  B. Załuski, Studien und Erinnerungen an den Erneuerer, in: Erinnerungen, S. 149-151.

    05  LCVA, 1676, l, Vol. 19, K. 2-3

    06  W. Jemielity, Mariampoler Wurzeln des seligen Georg, [auf dem Symposium am 28.06.1997 in Warschau gehaltenen Referat], „Immaculata" 1997, Nr. 393-394, S. 18.

    07  LCVA, 1676, I, Vol. 19, K. 3, Angaben von 1873.

    08  LCVA, 1676, 1 Vol. 19, K. 13.

    09  J. Sakevičius, Nuo lopsio ligi altoriaus, in: AJM, S. 5

    10  Ebd., S. 6

    11  LVIA, 1462, 1, Vol. 4, K. 444, Nr. 189, Original; Georg Matulaitis selbst gab das falsche Geburtsdatum an: 23. April (Catalogus ecclesiarum et cleri Dioecesis Vilnensis [...] 1925, S. 7; Litterae, S. 33).

    12  LVIA, 1236,3, Vol. 438, K. 415, Nr. 483, Original in russischer Sprache.

    13  LVIA, 1462, 1, Vol. 4, K. 444, Nr. 150, Original in russischer Sprache

    14  J. Sakevičius, (wie Anm. I.1,9), in: AJM, S. 8

    15  Ebd., S. 7; Damals gab es Schulbezirke, er hätte auf die Gemeindeschule in Szumsk gehen müssen, (W. Jemielity, Mariampoler..., (wie Anm. I.1,6), „Immaculata" 1997, Nr. 393-394. S. 21), in den Erinnerungen verschiedener Personen kommt aber tatsächlich Mariampol vor.

    16  Geografisches Wörterbuch des Königreichs Polen und angrenzender Länder, unter Red. von B. Chlebowski [...], Band 6, Warschau 1885, S. 145-146.

    17  J. Sakevičius, (wie Anm. I.1,9), in: AJM, S. 8.

    18  W. Jemielity, Mariampoler..., (wie Anm. I.1,6), S. 8.

    19  Vgl. M. Wiśniewski, Erneuerer, S. 35

    20  J. Sakevičius, AJM, S. 7. (wie Anm. I.1,9), in AJM, S. 7.

    21  W. Jemielity, (wie Anm. I.1,6), S. 20.

    22  J. Sakevičius, (wie Anm. I.1,9), in: AJM, S. 8.

    23  Ebd., S. 8

    24  LCVA, 1674, 2, Vol. 2, K. 2, Abschlusszeugnis der vierten Klasse in russischer Sprache, 5.[17.] 02.1887

    25  J. Sakevičius, (wie Anm. I.1,9), in: AJM, S. 8.

    26  Ebd.

    27  J. Ochmański, Die litauische nationale und kulturelle Bewegung im 19. Jahrhundert (bis 1890), Białystok 1965, S. 166-168.

    28  P. Łossowski, Litauen, 13-26; Warschau 2001, J. Ochmański, die litauische [...] Bewegung (wie Anm.I.1,27), S. 166 – 168.

    29  LL, S. 590, Brief an W. Šlekys, 25.09.1897.

    30  LL, S. 652, 08.01.1913.

    31  LP, B. I, S. 120, an E. Kulesza 23.01.1923 schrieb er: „Seit dem fünfzehnten Lebensjahr kämpfe ich mit der Knochen-Tbc".

    32  Erneuerer, S. 37

    33  LCVA, 1674,2, Vol. 2, K. 2. Schulzeugnis

    34  J. Sakevičius, (wie Anm. I.1,9), in AJM, S. 9-10.

    35  J. Vaišnora, Ich habe den Diener Gottes gesehen, in: Erinnerungen, S. 21

    2. Die Ausbildung zum Priester

    Kielce

    Im Sommer 1889 besuchte Georgs Cousin Jan Matulewicz³⁶, vermutlich Sohn von Josef und Helena, Professor für Altsprachen am Gymnasium in Kielce, die alte Heimat. Er erkannte die Situation und Begabung seines Verwandten und lud ihn in sein Haus nach Kielce ein. Dies war entscheidend für Georgs weiteres Leben. Jahre später widmete er seine Doktorarbeit gerade ihm, meinem teuersten Cousin, meinem huldvollen Betreuer und zweiten Vater.³⁷

    Jan Matulewicz beendete das Gymnasium in Kielce 1864, studierte an der Historisch-Philologischen Fakultät der Warschauer Hochschule Szkoła Główna und danach 1869 – 1871 an der Zaristischen Universität Warschau. Am Gymnasium Kielce unterrichtete er Sprachen der Antike (1875-1901) sowie Sprache, Literatur und Geschichte Russlands (1886 – 1893).³⁸ Später hielt er Vorlesungen zur russischen Sprache und zur Geschichte Russlands am Höheren Theologischen Seminar in Kielce³⁹ und wiederum später am Gymnasium in Suwałki. Er starb am 8. September 1914 in Warschau. In einem Nachruf steht: „Als glühender, mit ganzer Seele der Sache seines Volkes ergebener Patriot Litauens war der Verstorbene stets ein großer Freund der Polen und wirkte darauf hin, die Missverständnisse zwischen den beiden Brüdervölkern auszuräumen."⁴⁰

    Georg wohnte etwa zwei Jahre bei seinem Verwandten. Man kann annehmen, dass er bereits als er nach Kielce ging wusste, dass er einmal Priester werden wolle. Er machte sich den Umstand, dass sein Vormund im Gymnasium unterrichtete und ihm mit Leichtigkeit zum Abschluss der Oberschule und zum Abitur hätte verhelfen können, nicht zu Nutze, sondern bereitete sich nachdrücklich auf den Priesterstand vor. Unter Jans Anleitung studierte er alte Sprachen, insbesondere Latein, die Sprache der Kirche, durch deren Kenntnis er sich zeitlebens unter vielen anderen Geistlichen hervorhob. In Kielce erhielt er Behandlungen gegen sein Leiden, lernte besser Polnisch, trat in den kulturellen Kreis der Familie ein und bekam Kontakt zur polnischen Kultur. So vorbereitet bat er um Aufn41indent>Nachdem er vom 29. Juni bis 2. Juli 1891 die Aufnahmeprüfung absolviert hatte, wurde er ins Höhere Geistliche Seminar eingeschrieben. Die Prüfung legte er in zwei Fächern ab: Latein, in dem er eine gute Note erhielt und Polnisch, das mit ausreichend bewertet wurde.⁴¹ Bei der Einschreibung ins Seminar änderte er, wohl unter Einfluss seines Cousins, seinen Familiennamen von Matułajtys, der damaligen polnischen Schreibweise, in die ebenfalls in der Familie verwendete Form „Matulewicz". Beide Formen treten noch auf dem Abschlusszeugnis des Warschauer Seminars auf: „Matulewicz alias Matułajtys⁴². Den Familiennamen Matulewicz, ins Litauische rückübersetzt „Matulevičius, wird er sein ganzes Leben lang verwenden. Auf seinen ursprünglichen Familiennamen, der damals schon „Matulaitis" geschrieben wurde, griff er nur im Privatleben seiner ersten Priesterjahre zurück, beispielsweise zur Veröffentlichung von Artikeln in litauischer Sprache.

    Im Seminar gab es 64 Alumni in fünf Kursen: Vorbereitungskurs, Philosophie und drei theologische Kurse. Der Vorbereitungskurs, in den Georg aufgenommen wurde, zählte 24 Kleriker. Regens war P. Paweł Sawicki (1883-1893) und sein Stellvertreter P. Paweł Frelek (1883-1893).⁴³ Sowohl die Leitung des Seminars als auch die Professoren waren Absolventen der Geistlichen Akademie in Petersburg und besaßen den Titel eines Magisters der Theologie. Das Programm für den Vorbereitungskurs sah folgende Fächer vor: Latein, Geschichte, Logik, Polnisch, biblische Geographie, Katechetik, Heilige Schrift, Russisch und Geschichte Russland. Im ersten Studienjahr (Philosophie) studierte Georg Philosophie, Kirchengeschichte, die Heilige Schrift, Archäologie, Einführung in die Heilige Schrift, Patrologie, Katechetik, Latein, Liturgik sowie russische Literatur und Geschichte Russlands. Die auf Verbesserung des Niveaus bedachte Leitung des Seminars stellte hohe Anforderungen an die Studenten. Von 23 Studienanfängern erreichten den nächsten Kurs nur zwölf, darunter auch Georg.⁴⁴

    Die 1884 von Bischof Tomasz Kuliński verfasste Studienordnung legte für alle Alumni vier halbstündige geistliche Lesungen pro Woche fest. Ein Mal pro Woche, sonntags, hörten sie einen einstündigen geistlichen Vortrag des Regens oder seines Stellvertreters. Die Studienordnung verpflichtete zum täglichen Morgengebet, einer halbstündigen Andacht, Teilnahme an der Messe sowie zum Abendgebet mit Gewissenserforschung. Alle Zöglinge waren zwei Mal im Monat zum Empfang des Bußsakramentes und der Kommunion verpflichtet, hinzu kamen die Hochfeste des Herrn und der Heiligen Jungfrau Maria⁴⁵.

    Das letzte Semester (1882/1883) war sehr unruhig, vor allem durch Maßnahmen der zaristischen Herrscher. Am 20. Mai 1892 kündigte der Leiter der Wissenschaftsdirektion in Kielce Bischof Tomasz Kuliński an, dass er beabsichtige das Seminar zu visitieren. Dieser Einmischung des Staates in interne kirchliche Angelegenheiten widersprach der Bischof entschieden. Hinzu kamen von September 1892 bis Januar 1893 fünf Brände im Seminargebäude, die eine normale Arbeit unmöglich machten. Später stellte sich heraus, dass sie von Paweł Gawroński aus Georgs Kurs gelegt worden waren, der provozieren wollte. Die zaristischen Behörden forderten die Absetzung der Seminarleitung. Weil der Bischof dem nicht zustimmte, besetzte die Gendarmerie am 13. März 1893 das Seminargebäude und führte dort zehn Tage lang Hausdurchsuchungen durch. Beschlagnahmt wurden nichtzensierte Druckerzeugnisse und private Handschriften. Alle Professoren wurden verhaftet und nach einem fast zweijährigen Prozess nach Sibirien verbannt. Am 23. März 1893 wurde Bischof Kuliński in einem Schreiben informiert, dass das Seminar in Kielce für vier Jahre geschlossen werde, weil die dortigen Alumni in einer „äußerst ablehnenden Haltung zur Regierung" erzogen worden seien. 16 Kleriker wurden verhaftet. Wer von den Repressalien nicht betroffen war, wie auch Georg Matulaitis, konnte die Ausbildung an einem anderen Seminar fortsetzen. Gemeinsam mit vier Mitstudenten wurde er an das Erzbischöfliche Geistliche Seminar in Warschau delegiert⁴⁶.

    Warschau

    Der Aufenthalt von Georg Matulaitis in Warschau ließ seine Bindungen an Polen enger werden. Das Seminar befand sich bei der Kirche des Hl. Josef in den Mauern des ehemaligen Klosters der Unbeschuhten Karmeliten in der Straße Krakowskie Przedmieście. Regens war P. Wojciech Kubiak (1888-1898), er lehrte Pastoraltheologie. In der hier betrachteten Zeit war er gleichzeitig Ortspfarrer der Pfarrgemeinde Hl. Katharina in Służewo.⁴⁷ Sein Stellvertreter war P. Władysław Szczęśniak, Absolvent der Geistlichen Akademie in St. Petersburg, Kirchenhistoriker, während der Unabhängigkeit Polens Professor an der Universität Warschau und ab 1925 Suffragan von Warschau.⁴⁸ Weiter lehrten im Seminar P. Ludwik Ponewczyński, P. Roman Rembieliński, P. Aleksander Kakowski, P. Feliks Puchalski und P. Stanisław Gall.⁴⁹

    Das Seminar zählte gemeinsam mit den Klerikern aus Kielce 132 Alumni. Das Studium dauerte fünf Jahre: Zwei Jahre wurde Philosophie gelehrt, drei Jahre Theologie. Georg Matulaitis und seine Kommilitonen, die nur drei Semester abgeschlossen hatten, wurden in das erste Jahr Theologie aufgenommen, das 34 Studenten zählte. Mit einigen von ihnen schloss Georg Matulaitis dauerhafte Freundschaften, u.a. mit Antoni Ciepliński, der im unabhängigen Polen Visitator für Religion wurde und den er als seinen Suffragan nach Vilnius empfahl⁵⁰, und mit Henryk Przeździecki, der später Bischof von Podlachia o Janów wurde und seinerseits zur Ernennung von P. Georg Matulaitis zum Bischof von Vilnius beigetrug⁵¹. In den Erinnerungen schreibt Bischof Przeździecki über seinen Studienkollegen:

    „1893 kamen zwei Alumni aus dem durch die russischen Herrscher zerschlagenen Diözesanseminar in Kielce zu uns ins erste Jahr Theologie am Seminar in Warschau. Einer von ihnen war Georg Matulaitis. Vom ersten Augenblick an waren wir Alumni von seiner ungewöhnlichen Intelligenz, seinen Fähigkeiten und seiner geistlichen Bildung beeindruckt. Sofort nahm er unter uns den ersten Platz ein. Ruhig, überaus fleißig, dienstbereit, mit dem Feuer der Liebe brennend, eroberte er unsere Herzen. Wir wussten, dass er Litauer war. Wir achteten seine nationalen Gefühle und er die unseren. Wir liebten in ihm Litauen; er in uns Polen, beide Völker gleich leidend und unterdrückt."⁵²

    Zwei Jahre studierte Georg Matulaitis folgende Fächer: Einführung in die Heilige Schrift, Exegese der Heiligen Schrift, dogmatische Theologie, Moraltheologie, Pastoraltheologie, kanonisches Recht, Kirchengeschichte, Homiletik, Liturgik, Gesang und Zeremonien. Am Ende des 1. Studienjahres (nach zwei Semestern) erhielt er von 21 Zensuren alle „ausgezeichnet, mit Ausnahme einer Note „ausreichend - im Gesang.⁵³

    Der Regens des Seminars, P. Kubiak, informierte darüber die Würdenträger der Diözese Kielce und fügte folgende Beurteilung bei:

    „Was den Alumnus Georg Matulaitis betrifft, so herrscht die einheitliche Meinung aller Oberen und Professoren der hiesigen Hochschule, dass, wenn er im nächsten Jahr im gleichen Maße wie im Vorjahr fleißig beim Erwerb von Wissen und untadelig im Verhalten sein wird, man ihn bereits jetzt Seiner Exzellenz, dem Hochwürdigsten Herrn Bischof von Kielce vorstellen solle, damit er ihn zu seiner Zeit in den Kreis der Studenten für die Akademie in Petersburg aufnehmen möge."⁵⁴

    Es wurde ihm erlaubt, das zweite Jahr zu überspringen und mit dem dritten Studienjahr fortzufahren.⁵⁵

    Vorlesungen zur dogmatischen Theologie, zur Moraltheologie und zum kanonischen Recht fanden in Latein statt, die übrigen in polnischer Sprache.⁵⁶ Daher rührt die große Bedeutung der Lateinkenntnisse, die Georg im Haus seines Cousins in Kielce erworben hatte. Seine Kommilitonen erkannten sie an, indem sie ihm den Beinamen „Cicero" verliehen⁵⁷. Sein jüngerer Kommilitone aus Kielce, Edmund Górski, später Redemptorist, bestätigte mit folgender Erzählung die Anerkennung, die Georg im Seminar zu Teil wurde. Aus Anlass des geplanten Besuchs Zar Nikolaus II. 1895 in Warschau war es den Bischöfen des Königreichs Polen erlaubt, sich zu versammeln. Professor Roman Rembieliński organisierte eine Festveranstaltung, während der Kleriker Georg Matulaitis auf Latein die These über die Heilige Dreifaltigkeit gegenüber drei Opponenten verteidigte. Górski erinnert sich:

    „Die Verteidigung und das Referat waren so großartig und auf so hohem Niveau, dass nach Ende der Festveranstaltung alle Bischöfe zum Pult kamen, den Kleriker Georg Matulaitis küssten und ihre Bewunderung für sein ciceronisches Latein und sein riesiges Wissen zum Ausdruck brachten. Dem Bischof Kuliński von Kielce gratulierten sie zu einem solch großartigen und ernsthaften jungen Wissenschaftler, der schon jetzt dem gesamten Seminar zur Zierde gereiche."⁵⁸

    Im 3. Studienjahr Theologie erzielte Georg Matulaitis ähnliche Ergebnisse wie im Vorjahr. Von 22 Zensuren im ersten und zweiten Semester waren alle „ausgezeichnet mit Ausnahme einer Note „gut im Gesang.⁵⁹

    Am 30. Mai 1895 stellte Regens Kubiak ihm folgendes Zeugnis aus: „Mit vorliegendem Schreiben bestätige ich, dass Jerzy Matulewicz alias Matułajtys, Alumnus der Diözese Kielce nach Abschluss des Philosophiestudiums am Seminar in Kielce wegen ungünstiger Bedingungen sein Theologiestudium für zwei Jahre am Seminar in Warschau fortsetzte und sehr gute Noten, sogar mit Auszeichnung, erhielt und sich durch vorbildliches Verhalten und herausragende Fähigkeiten auszeichnete."⁶⁰

    Der Kleriker Georg Matulaitis besaß schon vier niedere Weihen und konnte jetzt um höhere Weihen oder ein Stipendium an der römisch-katholischen Geistlichen Akademie in St. Petersburg bitten. Er entschied sich für Letzteres. Wincenty Popiel, Erzbischof von Warschau, schlug ihn für ein staatliches Stipendium vor,⁶¹ das ihm der Generalgouverneur von Warschau mit einem Schreiben vom 24. August 1895 gewährte.⁶²

    Sankt Petersburg

    Dass Georg zum Theologiestudium nach St.Petersburg delegiert wurde, hielt die Familie für einen großen Erfolg. Sein Bruder Jan gab aus diesem Anlass einen großen Empfang.⁶³ Ausgestattet mit einem Zeugnis des Schulzen der Gemeinde Szumsk über die russische Staatsbürgerschaft begab er sich auf die Reise in die Hauptstadt des russischen Imperiums an die Geistliche Akademie. Georgs Beziehungen nach St.Petersburg sollten von langer Dauer sein: Erst als Student (1895-1899) und später als Professor (1907-1911). Hier vertiefte er seine geistliche und intellektuelle Reife, knüpfte weitreichende Kontakte mit der geistlichen Elite unter russischer Herrschaft und es entstand sein Konzept für die Erneuerung der Kongregation der Marianer. Er lernte die große Welt des Ostens kennen:

    Die russische Literatur und Geschichte, die orthodoxe Theologie und vor allem unzählig viele Menschen, die auf das Evangelium warteten. Die römisch-katholische Geistliche Akademie gab es in St.Petersburg seit 1842. Sie lag auf der Wasiljew-Insel, 1. Linie Nr. 52. Sie sollte eine dem Zaren ergebene obere Geistlichkeit hervorbringen. Ihr offizieller Name lautete Zaristische Römisch-Katholische Geistliche Akademie, obwohl sie den Erzbischöfen von Mohilew unterstand. Bis 1918 erhielten ca. 60 ihrer Absolventen die Bischofswürde. Nicht alle Absolventen waren den Machthabern treu, neun von ihnen wurden nach Sibirien verbannt.⁶⁴ Einigen, die den Mauern der Akademie entstammten, wurde die Ehre der Altäre zuteil: Neben dem Seligen Georg Matulaitis wurden Erzbischof Antoni Nowowiejski, Bischof Leon Wetmański, Erzbischof Zygmunt Szczęsny Feliński und aus dem St.Petersburger Seminar der MarianerP. Antoni Leszczewicz selig gesprochen; es laufen Prozesse für Erzbischof Jan Cieplak und Bischof Zygmunt Łoziński.⁶⁵

    Einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Akademie hatte ihr Rektor Bischof Franciszek Symon. Bischof Piotr Franciszek Bučys, Absolvent, langjähriger Professor und Vizerektor an der Akademie schätzt, dass Georg Matulaitis „zu ihrer schönsten Blütezeit an ihr studiert habe. „Das System von Prof. F. A. Symon war voll entfaltet und trug Früchte.⁶⁶

    Georg Matulaitis wurde am 1./12. September 1895 an der Akademie eingeschrieben. Die Hochschule zählte damals 62 Studenten in vier Kursen.

    Im ersten Studienjahr waren 26 Kleriker eingeschrieben.⁶⁷ Das war der zahlenmäßig stärkste Jahrgang in der Geschichte der Hochschule.⁶⁸ Georg traf hier Kommilitonen aus Warschau wieder: Henryk Przeździecki und Antoni Ciepliński sowie seine Landsleute Bučys und Juozapas Kukta, die in Zukunft seine engsten Mitarbeiter werden sollten.

    Rektor der Akademie war Bischof Franciszek Albin Symon (1884-1897), Doktor der Universität München, Kirchenhistoriker und Schriftgelehrter, Suffragan von Mohilew. Sein Nachfolger war Bischof Karol Antoni Niedziałkowski (1897-1901), Absolvent der Akademie, Apologet und Kirchenhistoriker, ebenfalls Suffragan von Mohilew. Die Inspektorenpflichten, d.h. das Amt des Vizerektors, erfüllten P. Bolesław Kłopotowski (1884-1898), Doktor des Rechts und Magister der Theologie, später Bischof von Mohilew und nachfolgend P. Andrzej Retke (1898-1902), Doktor der Theologie, Dozent für Recht.

    Bischof Bučys beschrieb das Leben an der Akademie so, dass es „hier strenger war als beim Militär."⁶⁹ Verbindlich war die durch Rektor Symon 1886 verfasste Ordnung, die sogenannte „Regulae"⁷⁰. Sie prägte Leben und Haltung des künftigen Ordensgründers, deshalb zitieren wir hier einige Fragmente:

    „Vor allem mögen sie, wie es den zum Dienste an Gott berufenen katholischen Jungmännern ansteht, höchsten Gehorsam gegenüber den Rechten und Vorschriften der katholischen Kirche erweisen, die sie sich mit großer Freude zu lernen mühen und mit echter Liebe erfüllen mögen." (Nr. 38)

    „Mögen sie alles in der entsprechenden Ordnung tun, auf entsprechende Art und Weise am entsprechenden Ort, denn «wer nach der Regel lebt, lebt für Gott» (Gregor von Nyssa). Möge jeder die Gewissheit haben, dass der Fortschritt in der Tugend wie auch in der Wissenschaft in großem Maße von der Einhaltung der Regeln, der Hausordnung und der Tagesregeln abhängt." (Nr. 54)

    Nach der Hausordnung wurde um fünf Uhr morgens geweckt. Um 5.30 Uhr waren Morgengebet, Andacht und Heilige Messe vorgesehen. Ähnlich waren abends entsprechende Gebete verbunden mit der Gewissenserforschung. Nachtruhe war für 21 – 22 Uhr angesetzt (Nr. 55). Die Alumni hatten die Pflicht, sich jährlich in der vor-österlichen Bußzeit achttägigen Exerzitien zu unterziehen (Nr. 5). Zu beichten hatte man mindestens ein Mal im Monat oder vor größeren Feiertagen (Nr. 6). Empfohlen war die Lesung der Heiligen Schrift, des Werkes De Imitatione Christi und des Catechismus Romanus (Nr 19). Die Akademie verlassen durften die Alumni nur mit Erlaubnis der Verantwortlichen und in Begleitung (Nr. 51). Das Verfassen und der Erhalt von Briefen geschahen über die Oberen (Nr. 52). Die Alumni schliefen in gemeinsamen Schlafsälen beim Schein einer Kerze. Für die Arbeit standen ihnen private Räume zur Verfügung.

    Es lohnt sich, noch ein Punkt des gemeinschaftlichen Lebens in diesem Konvikt mit vielen Nationalitäten zu zitieren: „Hüte sich jeder davor, dass die Einen über die aus anderen Ländern stammenden Anderen schlecht urteilen und sprechen. Sie sollten vielmehr gut über sie denken und sich mit besonderer Liebe verhalten." (Nr. 85)

    Die meiste Zeit widmete sich Georg der Wissenschaft. Er studierte folgende Fächer: Heilige Schrift mit Einführung, Archäologie und Exegese auf Grundlage lateinischer und griechischer Fragmente, dogmatische Theologie, Moraltheologie, Pastoraltheologie mit Homiletik, kanonisches Recht, Kirchengeschichte, Patrologie, Philosophie, Hebräisch, Latein, Griechisch, Russisch und russische Literatur, Geschichte Russlands und Französisch. Die Fächer mit Bezug zur russischen Sprache und Literatur wurden in Russisch gehalten, die übrigen in Latein.⁷¹ Der Professor für dogmatische Theologie, Jan Cieplak, verwendete das weit verbreitete Lehrbuch von Hugo Hurter S.J. (1832-1914), einem Vertreter der nichtscholastischen Option⁷². Der Philosophieprofessor Feliks Drzewiecki empfahl seinen Studenten das Buch des italienischen Jesuiten Mattaeo Liberatore (1810-1892)⁷³. Andrzej Retke lehrte kanonisches Recht nach den Schriften von Francesco Santi.⁷⁴ Andere Professoren verwendeten eigene Skripte.⁷⁵

    Ähnlich wie am Warschauer Seminar erzielte Georg Matulaitis hervorragende Leistungen. Von 37 Noten innerhalb von vier Jahren waren 29 „sehr gut, sieben „gut und eine „mehr als genügend" (in russischer Literatur).⁷⁶

    Mit einer entsprechenden Dissertation konnte man am Ende des dritten Jahres den Titel eines Kandidaten der Theologie erlangen. Unter der Betreuung von Jonas Matsulewicz, besser bekannt unter seinem literarischen Pseudonym Maironis, arbeitete er zum Thema „De momento s. Alphonsi in historia theologiae moralis („Über die Bedeutung des Hl. Alfonso in der Geschichte der Moraltheologie). In der Arbeit stellt er den Stand der gegenwärtigen Moraltheologie dar und betrachtet vor ihrem Hintergrund das System des Hl. Alfonso Maria de Liguori als ein System, das extreme Meinungen ablehnt und sich in der Moraltheologie für den goldenen Mittelweg ausspricht.⁷⁷ Die Arbeit wurde mit „cum eximia laude" bewertet.

    Gegen Ende des Studiums musste eine umfangreichere Arbeit zur Erlangung des Magistertitels vorgelegt werden. Im Zusammenhang damit wandte er sich (das erste Mal in seinem Leben) an die Kurie in Rom, um die Erlaubnis zur Lektüre verbotener Schriften zu bekommen.⁷⁸ Die Arbeit schrieb er wieder in Moraltheologie, P. Matsulewicz war sein Betreuer. Das Thema lautet: „De bello" (Über den Krieg)⁷⁹. Gestützt auf kirchliche Quellen und überwiegend westliche Literatur setzt er sich in der Arbeit mit drei Fragen auseinander: 1. Ist Krieg seinem Wesen nach immer böse und niederträchtig? 2. Über eine ehrliche Kriegsführung; 3. Was ist vom ewigen Frieden zu halten?

    Zu 1. erkennt er, dass Krieg seinem Wesen nach immer niederträchtig sei, stehe er doch im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand und der menschlichen Würde und verletze Gottes Gebot „Du sollst nicht töten". Krieg könne jedoch manchmal zulässig sein: Ein Mensch oder Staat, der überfallen wird, könne sich wehren, wenn friedliche Mittel versagen. Zum zweiten Punkt belegte er, dass Kriege ehrlich zu führen seien, ohne Misshandlung von Menschen und Zerstörung ihres Hab und Guts. Zum dritten Punkt stellt er fest, dass der ewige Friede möglich und in Übereinstimmung mit der Natur der Menschen sei. Die Menschheit habe immer danach gestrebt. Mit einer Anspielung auf die von Russland unterworfenen Völker gibt er diesem Umstand die Schuld für den fehlenden Frieden:

    „Es wäre niederträchtig, die Rechte und die Lage der Völker, die von anderen unterjocht sind mit Schweigen zu übergehen, um so mehr in unserer Zeit, in der nationale Bestrebungen wachsen, in der Völker zu Leben und Freiheit erwachen und jeder die Wiedererlangung seiner Rechte anstrebt."⁸⁰

    Sein Studiengefährte Bischof Bučys schreibt über ihn: „Matulaitis beendete die Akademie als primus inter primos summa cum laude." (als Ersten unter Ersten mit größter Ehre)⁸¹

    1882 wurden an der Akademie zwei Arten von Magisterprüfungen eingeführt: Die 1. Art für diejenigen, die in den Prüfungen sehr gute Ergebnisse erzielt hatten und die 2. Art für die anderen.⁸² Nur die ersteren schrieben eine zusätzliche Magisterarbeit über russische Literatur in russischer Sprache, um den Titel eines Magisters in Theologie zu erlangen. Georg Matulaitis wählte dazu Krylows Fabeln. Die Arbeit schrieb er unter Nikolai Nekrasow, Professor für russische Sprache und Literatur. Im Vorwort führt er aus, dass Iwan Krylow (1768-1844) über 200 Fabeln geschrieben habe, die schnell populär wurden. Seine Helden wurden in der Natur, Geschichte und Gegenwart Russlands angesiedelt, wodurch lebhaftes Interesse geweckt und erzieherische Erfolge erzielt wurden.⁸³

    Einer der Alumni, der Litauer Józef Skruodis, rief einen Askesekreis ins Leben, zu dem auch Georg gehörte. Über seine Reflexionen in diesem Kreis schrieb Georg für die litauische Presse in den Vereinigten Staaten, für „Garas Amerikos Lietuviu, wo seine Gefährten aus Mariampol Wincenty Šlekys und P. Antanas Milukas als Redakteure arbeiteten. Für den Versand der Zeitschrift nach St.Petersburg verlangte die Redaktion vier Artikel. Aus dem erhalten gebliebenen Brief an Šlekys geht hervor, dass Georg viele Artikel geschrieben haben müsse: „Wenn ich kann, werde ich mehr und häufiger als vier Mal vier Artikel schreiben, und jetzt schicke ich auch die Korrespondenz.⁸⁴ Da er aus Sicherheitsgründen die Artikel unsigniert ließ, kennen wir deren Inhalt nicht.

    Angelegenheiten, die ihn besonders bewegten, brachte er im Artikel „Einige Worte an unsere Priester" zum Ausdruck. Der Text zählt 27 Seiten und wurde – wie der Autor anmerkt - 1903 unverändert gedruckt, nachdem er sechs Jahre zuvor verfasst worden war.⁸⁵

    Beim Nachdenken darüber, ob Priester und Kleriker sich aktiv an der litauischen nationalen Wiedergeburt beteiligen können, arbeitete er zwei Fragen heraus: Wie ist die nationale Bewegung zu „taufen" und wie ist Litauen vor der Russifizierung und der Orthodoxie zu schützen?

    Die weltliche Intelligenz hat nach Matulaitis Meinung das Volk auf unchristliche Weise, häufig in Opposition zu Kirche und Klerus, aufgewiegelt. Die Existenz von Völkern ergebe sich aus dem Naturrecht und die Kirche richte sich nicht gegen die Natur, sondern vervollkommne sie, heilige sie und führe sie zu Gott. Die litauischen Bischöfe und Priester sollten demnach an der Spitze ihres Volkes stehen, wofür Bischof Maciej Valančius ein Beispiel gäbe. Die litauischen Priester sollten an der nationalen Bewegung mitwirken, wie es ihre heilige Pflicht sei. Jedoch

    „heißt, die Heimat zu lieben, nicht, andere Völker zu hassen. Ein Christ und umso mehr ein Priester muss sich darüber erhaben sein. Indem er sein Vaterland liebt, findet er in seinem Herzen auch Platz für andere Völker […]. Ein Priester muss als Priester alles in seinem Herzen bewegen. Die Kirche ist kein Ort für politische Ziele."⁸⁶

    Matulaitis beklagt, dass die Russifizierung Volk und Kirche schade. Die Okkupanten wollten den Litauern die Muttersprache und den katholischen Glauben entreißen, um Litauen im Meer der russischen Orthodoxie zu versenken und allmächtig herrschen zu können. Sie verboten die Presse, die Gründung von Organisationen, kauften Grund und Boden auf, schickten ihre Leute aus und russifizierten die Jugend in den Schulen und der Armee. Sie entzweiten Bischöfe und Papst, Priester und Bischöfe, Gläubige und Priester. Sie unterschieden in Getreue und Ungläubige, verbreiteten die Orthodoxie und zerschlugen die religiöse und nationale Einheit. Matulaitis spricht auch von der Schuld seiner Landsleute: Priester und Landeigentümer sprächen nur Polnisch, das Volk schäme sich der litauischen Sprache.

    Zum Abschluss appelliert er an die Priester um Einheit mit den Bischöfen im gemeinsamen Kampf um den nationalen und kirchlichen Geist.⁸⁷

    Die Korrespondenz und die Artikel in der Presse der Vereinigten Staaten blieben von der russischen Gendarmerie nicht unbemerkt. Auf Antrag des mariampoler Kommandanten, Andrzej Wonsiacki, wurde Anfang 1897 bei Matulaitis eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Die Polizei umstellte das Gebäude der Akademie. Es kamen der Oberst der Gendarmerie und der Staatsanwalt mit zwei Gendarmen ins Innere. In Begleitung des Vizerektors Bolesław Kłopotowski durchsuchten sie die Regale mit Georgs Büchern und persönlichen Sachen. Sie schauten die Handschriften durch, die jedoch in einer für sie unverständlichen Sprache verfasst waren. Sie baten den Vizerektor um Hilfe, welcher erklärte, dass es sich um Aufzeichnungen aus seinen Geschichtsvorlesungen handele. Tatsächlich befand sich darunter auch ein Text, der für die litauische Presse bestimmt war, wofür der Vizerektor dem Autor später einen Tadel erteilte.⁸⁸ Trotzdem nahmen sie einige Handschriften mit. Einige Monate später schrieb Matulaitis in einem Brief an Šlekys: „Ich bin von den Gendarmen freigekommen. Alles Papier, was sie mitgenommen hatten, haben sie zurückgegeben. Sie fragten auch nach dir."⁸⁹ Zum Glück war alles gut ausgegangen.

    Bischof Henryk Przeździecki erinnerte sich: „Ich sah Georgs immer größere geistliche und intellektuelle Entwicklung im Seminar, dann auf der Akademie in Petersburg. Er erstarkte mit jedem Augenblick. Genau wie in Warschau wurde er auch in Petersburg mit Hochachtung und Liebe umgeben."⁹⁰

    Als Musterstudent und guter Studienkollege erfreute sich Georg Matulaitis des Vertrauens von Klerikern und auch der Leitung. Daher vermittelte er in schwierigen Fällen. Im zweiten Studienjahr verlangte der Professor für Kirchengeschichte, P. Bolesław Kłopotowski, der gleichzeitig auch Inspektor war, von den Studenten die Kenntnis des Lehrbuches und seiner Vorlesungen. Die Studenten erachteten das als zu schwierig und schickten Matulaitis zum Professor, damit er unter Streikdrohung geringere Anforderungen aushandeln solle. Die Mission war heikel und nicht ungefährlich, trotzdem startete er einen Versuch, auch wenn dieser erfolglos blieb.⁹¹

    Nach den von Symon aufgestellten Regeln ernannte der Inspektor unter den Studenten in Absprache mit dem Rektor in jedem Jahrgang einen Senior. Er vertrat die Alumni gegenüber den Oberen sowohl an der Hochschule als auch nach außen und übermittelte deren Anweisungen an die Studenten.⁹² 1898 wurde Matulaitis zum Senior ernannt. Inspektor wurde P. Andrzej Retke, mit dem Georg keine gemeinsame Sprache fand und deshalb im Winter 1899 vom Amt zurücktrat.⁹³

    Ein Privileg des Senior, des Küsters und des Krankenpflegers war es, die Weihe ein Jahr früher empfangen zu können.⁹⁴ Georg nahm dies in Anspruch. Am 12. März 1898 wurde er in der Prokathedrale Mariä Himmelfahrt in St.Petersburg von Rektor Bischof Karol Niedziałkowski zum Diakon geweiht.⁹⁵ Während der Ferien hielt Georg als neu geweihter Diakon in Mariampol eine Predigt über wahre und falsche Frömmigkeit, die den Gemeindemitgliedern lange in Erinnerung blieb.⁹⁶

    Die Priesterweihe empfing er am 20. November 1898, dem 24. Sonntag nach Pfingsten, in der Akademiekapelle der Verklärung des Herrn, auch aus der Hand von Bischof Niedziałkowski.⁹⁷ Wahrscheinlich hielt er seine Primiz an demselben Ort, in Gegenwart der Leitung und der Kommilitonen, aber ohne Familie. Es war die Krönung großer Mühen und Entbehrungen.

    Er blieb noch ein paar Monate in der Akademie, schloss das Studium ab und schrieb seine Arbeit. Rektor Bischof Niedziałkowski bemühte sich für ihn um ein staatliches Stipendium, was jedoch fehlschlug. Er riet ihm, selbst Mittel für ein Auslandsstudium aufzutreiben und versprach ihm für die Zukunft die Übernahme seines Lehrstuhls für Fundamentaltheologie.⁹⁸

    Fribourg

    Mit dem Magisterdiplom der Theologie in der Tasche tauchte der 28-jährige Priester Georg Matulaitis zu Beginn der Sommerferien 1899 in der Diözese Kielce auf. Unterwegs hatte er bei seinem Onkel P. Feliks Matulewicz in Piaseczno bei Warschau und sicher zuvor bei seiner Familie in Lugine Halt gemacht⁹⁹. In Kielce erwartete ihn Arbeit im zwei Jahre zuvor wiedereröffneten Seminar und viele andere Beschäftigungen. Am 26. Juni 1899 stellte ihn Bischof Tomasz Kuliński dem Generalgouverneur von Warschau vor, damit er ihn als Vikar der nahe gelegenen Pfarrgemeinde Daleszyce bestätige¹⁰⁰. Es war eine der größeren Pfarrgemeinden in der Diözese mit 7873 Gläubigen. Neben der Pfarrkirche befanden sich in ihrem Einzugsbereich noch drei Kapellen. Ortspfarrer war P. Paweł Chęciński und erster Vikar P. Edmund Bieganik.¹⁰¹ Die Bestätigung erfolgte am 12. August 1899.¹⁰²

    Die Lebensumstände in Daleszyce waren hart, magere Verpflegung und ein kleiner, niedriger und feuchter Raum als Unterkunft. Sofort brach die nicht ausgeheilte Krankheit wieder aus.¹⁰³ Georg beschloss, sich in den Bädern Westeuropas zu kurieren.

    Am 5. Oktober 1899 erhielt er von den zaristischen Behörden einen Reisepass für 28 Tage nach Meran¹⁰⁴ und machte sich mit geliehenem Geld auf die Reise zur Heilbehandlung nach Tirol¹⁰⁵.

    In Bad Kreuznach machte er Station, wo er sich bei Dr. Felix Kremer behandeln ließ. Am 28. Dezember 1899 stellte der Arzt eine Bescheinigung darüber aus, dass sich Herr Matulaitis aus Kielce zur Behandlung in Bad Kreuznach aufhalte, eine intensive dreimonatige Behandlung notwendig sei und er noch ein halbes Jahr in Meran bleiben solle.¹⁰⁶

    Während der Behandlung bei Dr. Kremer schrieb er sich am 14. November 1899 unter falschem Namen, als Jerzy Narbut aus Lemberg, an der Universität in Fribourg für Philosophie ein.¹⁰⁷ Im Sommersemester 1900 finden wir Ihn bereits auf der Liste der Studenten der theologischen Fakultät¹⁰⁸. Der Bischof von Kielce hatte mit Sicherheit von den Studienplänen gewusst, obwohl es dafür keine Beweise gibt. Die Universität Fribourg bestand gerade einmal zehn Jahre. Die Führung der theologischen Fakultät war den Dominikanern anvertraut worden¹⁰⁹. 1899 studierten an der Universität Fribourg an vier Fakultäten nur 317 Studenten, in der Mehrzahl Ausländer.¹¹⁰ Obwohl es eine junge Hochschule war, hatte sie in der katholischen Welt einen guten Ruf. Es dominierte der von Papst Leon XIII. unterstützte Thomismus. Große Aufmerksamkeit widmete man gesellschaftlichen Fragen. Gerade in Fribourg wurden im Rahmen der sogenannten Freiburger Union Methoden der kirchlichen Sozialarbeit erarbeitet, auf die sich Leon XIII. stützte, als er die Enzyklika „Rerum novarum schrieb¹¹¹. In seinem Artikel über christliche Demokratie für die Powszechna Encyklopedia Katolicka [Allgemeine Katholische Enzyklopädie] zählt Georg Matulaitis die Universitätsprofessoren Gaspar Decurtins, Albert M. Weiss (Dozent für Apologetik und Dekan der theologischen Fakultät, den er zum Doktorvater wählte), P. Józef Beck (Pastoraltheologe) sowie den „Volksverein zu den führenden Vertretern der christlichen Gesellschaftsbewegung in der Schweiz¹¹². In Fribourg studierten viele Polen, einige von ihnen übten entscheidenden Einfluss auf die Form des Katholizismus in den polnischen Gebieten aus, wie zum Beispiel P. Jacek Woroniecki, P. Władysław Korniłowicz und P. Władysław Lewandowicz.

    Die Universität in Fribourg erkannte Magisterdiplome der Petersburger Geistlichen Akademie prinzipiell nicht an. Im Fall der besten Arbeiten ersuchte die Theologische Fakultät Rom jedoch um einen Dispens. P. Georg schrieb darüber an P. Bučys: „für uns beide erlangte die theologische Fakultät einen Dispens aus Rom. Ich erinnere mich, dass man auch noch etwas dafür bezahlen musste."¹¹³ Beide konnten also schon an ihrer Doktorarbeit arbeiten und ergänzend die Vorlesungen zu Summa contra gentiles des Hl. Thomas an der philosophischen Fakultät besuchen.

    P. Georg wohnte im Konvikt Canisianum für Priesterstudenten, einem von dreien an der Universität, in dem es etwas mehr als ein Dutzend Zimmer gab.¹¹⁴ Hier galt folgender Tagesablauf: Wecken um 5.30 Uhr, danach Morgengebet und halbstündige Meditation, Hl. Messe, danach 20 Minuten Schriftlesung. Während aller Mahlzeiten erfolgte eine gemeinsame Lesung aus religiösen Schriften: zum Frühstück auf Latein, zum Mittagessen auf Deutsch, zum Abendbrot auf Französisch. Samstags wurde gemeinsam Rosenkranz gebetet und sonntags gab es einen geistlicher Vortrag und eine gemeinsam gebetete Vesper.¹¹⁵ Der bescheidene Unterhalt kostete mit der Gebühr für das Konvikt 115 Franken monatlich. Das Kapital, von dem die studentischen Priester lebten, waren Messintentionen, für die sie 75 Franken erhalten konnten. Es fehlten also 40 Franken. In dieser Situation meldete sich Georg Matulaitis, der bereits recht gut Französisch sprach, zur Seelsorge in der Pfarrgemeinde des Hl. Johannes im Stadtbezirk Basse Ville. Der Ortspfarrer gewährte ihm Wohnung und Verpflegung. Dafür erfüllte Georg verschiedene Dienste in der Pfarrgemeinde: Er las zu bestimmten Uhrzeiten die Messe und hielt Gottesdienste, taufte, besuchte Kranke und predigte. Dem Ortspfarrer zahlte er für den Unterhalt 50 Franken. Die Bedingungen waren schwer, aber so konnte Georg sein Leben finanzieren. Es war für seine priesterliche Ausbildung von Vorteil, dass er Übung in der französischen Sprache erlangte und seelsorgerische Arbeit unter neuen Bedingungen kennenlernte. Seine Gesundheit war jedoch wieder gefährdet. Das Pfarrhaus lag an der Saane und der Raum war feucht. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich deutlich. Der örtliche Chirurg Dr. Krause stellte ihm am 28. Februar 1901 die Bescheinigung aus, dass er an einer akuten rheumatischen Entzündung erkrankt sei, die Behandlung und längere Erholung notwendig mache; er sei noch über längere Zeit nicht reisefähig.¹¹⁶ Die Studenten besaßen ein eigenes Hilfswerk, in dessen Rahmen sie von Ärzten behandelt wurden. Es kam vor, dass beide Ärzte der studentischen Ambulanz fehlten und von Dr. Meyer vertreten wurden. Dieser interessierte sich für die Krankheit von P. Georg, nahm Blutuntersuchungen vor und stellte fest, er nicht, wie bisher irrtümlich angenommen, unter Rheumatismus litt, sondern Knochentuberkulose hatte, die eine sofortige Operation absolut notwendig mache. Für diese Operation überwies er den Patienten an die örtliche Klinik von Dr. G. Clement.

    Die Diagnose stürzte Georg in Verzweiflung: Ihm wurde der ernste Zustand bewusst, der lebensbedrohlich war und dass er kein Geld für eine solch ernsthafte Behandlung hatte. Die Diagnose stellte auch sein weiteres Studium in Frage. Aber Dr. Meyer beruhigte ihn, dass Dr. Clement ein guter Mensch sei und keine unerfüllbaren Bedingungen stellen werde. Die Operation fand wahrscheinlich im April 1901 statt und dauerte zweieinhalb Stunden. Ausgeführt wurde sie von Dr. Clement selbst. Der Patient lag einige Wochen in der Klinik. Nachdem die Wunden verheilt waren, bekam er noch über mehrere Monate heiße Injektionen mit Iodoform und 2-Nafthol, die sofort gerannen. Nach der Operation und langer Behandlung fragte der Patient Dr. Clement mit innerer Unruhe, wie viel er ihm schulde. Der Arzt forderte eine symbolische Summe von 200 Franken.¹¹⁷ In der Bescheinigung vom 6. Februar 1902 schätzt Dr. Clement ein, dass sich der Gesundheitszustand des Kranken wesentlich gebessert habe, aber die Behandlung noch mindestens 3-4 Monate andauern sollte, wobei eine ergänzende Operation nicht ausgeschlossen sei.¹¹⁸

    Georg hatte einen Reisepass für vier Wochen erhalten, aber sein Aufenthalt im Ausland hatte sich deutlich verlängert. Nach geltendem Recht hätte er nach vier Monaten Urlaub vom Vikarsamt enthoben werden müssen.

    Im Zusammenhang damit übten die zaristischen Behörden Druck auf das Konsistorium in Kielce aus, um die Sache aufzuklären. Der Sekretär wandte sich mit einer in russischer Sprache verfassten Anfrage an Georg, warum er nicht zurückkehre, worüber doch die Verwaltung in Kenntnis zu setzen sei.¹¹⁹ Darauf antwortete Georg, dass er krank sei.¹²⁰ Dies wiederholte sich ein halbes Jahr später. Dieses Mal bat Bischof Kuliński um Aufklärung und ermahnte Georg, dass er in der Diözese gebraucht werde und die Behörden sich Sorgen machten. Als Antwort gab P. Georg dem Bischof am 6. Februar einen Bericht über den gesamten Krankheitsverlauf ab:

    „Als ich Ihre Exzellenz letztens verabschiedete, begab ich mich nach Bad Kreuznach, um meinen Rheumatismus zu kurieren, wobei sich erst später herausstellte, dass dies eine irrtümliche Diagnose war. Dort verbrachte ich 2,5 Monate und verlor unnötig Zeit und Geld. Dann begab ich mich in wärmere Gebiete in der Hoffnung, das mildere Klima möge meine Krankheit bessern. Endlich, als man mir fast schon eine Hand amputiert hatte, stellte man den wahren Grund meiner Krankheit fest: Tuberkulose und nicht Rheumatismus. Ich wurde operiert, aber das war noch nicht das Ende des Übels. Ich bekam Spritzen, die mir nicht nur entsetzliche Schmerzen verursachten, sondern auch meinen Geist in dem Maße schwächten, dass ich entkräftet und nicht immer bei Sinnen über Monate ein kaum menschliches Dasein fristete. Endlich, durch Gottes Gnade und die außerordentliche Fürsorge der Ärzte, begann ich der Krankheit zu trotzen. Nun ist es bereits der dritte Monat, seitdem mir schrittweise und langsam die körperlichen und geistigen Kräfte zurückkehren. Aber der Grund selbst ist noch nicht beseitigt. Ich muss immer noch in die Klinik gehen und Spritzen erhalten.

    Mehrfach habe ich meinen Arzt gebeten mir zu sagen, welches Ergebnis meine Behandlung bringen werde. Jetzt, als ich ihm die Sache in Eurem Namen, Hochwürdigster Bischof, vortrug, sagte er mir die ganze Wahrheit, dass es noch drei bis vier Monate zur vollständigen Heilung der Krankheit dauern werde. Vielleicht muss noch eine Operation vorgenommen werden, wenn auch eine kleinere. Zum Beweis füge ich das Schreiben des Arztes bei, das auch den Behörden vorgelegt werden kann."¹²¹

    Mit dem Attest von Dr. G. Clement wandte sich Bischof Kuliński am 17. Februar 1902 erneut mit der Bitte um Verlängerung des Reisepasses von P. Matulaitis um weitere vier Monate an den Generalgouverneur von Warschau.¹²² Nach einer Reihe von Anfragen seitens der Behörden und Antworten seitens des Bischofs und anderen, weshalb Georg Matulaitis noch nicht zurückgekehrt sei, warum er nicht von der Vikarsstelle in Daleszyce abberufen worden sei und wer für ihn Gehalt bezogen habe,¹²³ informierte die Kanzlei des Generalgouverneurs von Warschau Bischof Kuliński am 28. März/10. April 1902, dass der Reisepass von Georg Matulaitis aus Krankheitsgründen um weitere vier Monate verlängert worden sei.¹²⁴

    Unter solchen Bedingungen studierte Georg Matulaitis, schrieb und verteidigte seine Arbeit zur dogmatischen Theologie unter Leitung von Prof. Albert Weiss mit dem Titel „Doctrina Russorum de statu iustitiae originalis („russische Lehre über den Zustand der Urstandsgerechtigkeit).

    In der Einführung merkt er an, dass einige der Meinung seien, es gäbe mit Ausnahme des Primats des Papstes und der Herkunft des Heiligen Geistes keine Dogmen, welche die Orthodoxen von den Katholiken trennen würden.

    Dies sei eine völlig falsche Ansicht. Er zählte eine ganze Reihe von Fehlern der orthodoxen Theologen auf, welche die gesamte christliche Theologie verzerrten. Dazu gehören zum Beispiel ihre Aussagen, dass die deuterokanonischen Schriften nicht inspiriert seien, dass die Katholiken eine falsche Sicht auf den Sündenfall hätten, dass die Gottesmutter nicht ohne Erbsünde empfangen worden sei, dass die Kirche und der Papst nicht unfehlbar seien, dass die Firmung keinen unauflösbaren Charakter habe, dass die Ehe nicht unauflösbar sei, dass es kein Fegefeuer gäbe usw.

    Diese Fehler finden sind nicht nur in der privaten Lehre, sondern auch in den Beschlüssen der Heiligen Synode von Petersburg, der Lehrerin und Hüterin des Glaubens in Russland. Weil die Russen durch Zahl und Bedeutung anderen Orthodoxen überlegen sind, hat ihre Lehre auch auf andere Zentren der Orthodoxie Einfluss. Aus diesem Grund beschäftigte er sich mit der von ihnen verkündeten Doktrin. Die Untersuchungen begann er mit der Lehre vom Sündenfall, weil sie in der christlichen Lehre grundlegend ist.

    Gegenstand seiner Studien war die Lehre moderner russischer Theologen ab ungefähr 1840, weil ihnen die größte Bedeutung in der orthodoxen Theologie zugeschrieben wurde.¹²⁵

    Er behandelte einzelne Fragestellungen, unter anderem über den Zustand des ersten Menschen, seine Vorbestimmung und Fähigkeit ein Ziel zu erreichen bzw. über die göttliche Vorsehung bezüglich des ersten Menschen. Er stellte einen Abriss der Ansichten russischer Theologen dar, verglich sie mit Ansichten katholischer Autoren, zeigte Unterschiede auf und wehrte die den Katholiken gemachten Vorwürfe ab.

    Über seine Errungenschaften in der Arbeit schrieb P. Georg an P. Aleksandras Dambrauskas:

    „Dahingegen kann ich, langsam und stetig immer mit Bezug auf die russische Theologie arbeitend, ruhig ausrufen: Heureka! Schien mir doch die russische Theologie anfänglich wie ein schrecklich verfilztes Knäuel, an dem ich keinen Anfang des Fadens fand. Ich habe sozusagen begonnen, einen Faden nach dem anderen herauszuziehen und zur Seite zu legen. Als ich die Fehler gefunden hatte, fing ich an zu überlegen, woher diese rühren mögen, hatten doch die Russen begonnen, ein eigenes System zu schaffen. So habe ich mit rechtem Kopfzerbrechen das theologische System der Russen nachvollzogen. Alles erinnerte mich stark an die Fehler von Michel de Bay (Bajus). So begann ich, Bajus Lehre zu studieren und zu untersuchen, wie sein System aussah. Und wissen Sie, worauf ich gekommen bin? Dass die Russen und Bajus von gleichen Voraussetzungen ausgegangen waren und dieselben Fehler machten. Für mich war das ein wahres Heureka! Plötzlich wurde mir die gesamte russische Theologie verständlich; viele Dinge wurden mir klar. Erst jetzt verstand ich ihre Lehre de religione, revelatione, peccato originali, iustificatione etc.¹²⁶ [von der Religion, der Offenbarung, dem Sündenfall, der Rechtfertigung usw.]."

    Er bekannte, recht große Schwierigkeiten mit dem Beschaffen der benötigten russischen Literatur gehabt zu haben.¹²⁷ Die Literatur besorgte ihm P. Aleksandras Dambrauskas aus Kaunas, der seine Arbeit unterstütze.¹²⁸

    Die Verteidigung der Dissertation erfolgte am 19. Juli 1902.¹²⁹ Das Ergebnis verkündete der Dekan der Theologischen Fakultät am 21. Juli in einem kurzen Schreiben: „P. Georg Matulaitis aus der Diözese Kielce hat nach Vorlage der Dissertation De doctrina Russorum de statu iustitiae originalis eine mündliche Prüfung mit dem Ergebnis praeclarissime abgelegt und den Doktorgrad erhalten."¹³⁰

    Um den Titel auch führen zu können, war es nötig, die Arbeit drucken zu lassen. Darum wollte sich Mateusz Szczepkowski aus Warschau kümmern. Dieser wurde aber in der Zitadelle inhaftiert.¹³¹ Letztendlich wurde die Arbeit in Krakau in der Druckerei W. L. Anczyc durch den Autoren verlegt. Woher er das Geld hatte? Vielleicht hat er es als Erbe von seinem Onkel P. Feliks Matulewicz aus Piaseczno erhalten, der im Dezember 1902 verstorben war. Erst nach Veröffentlichung der Arbeit stellte die Universität am 8. Oktober 1903 eine feierliche, gedruckte Urkunde aus,¹³² die von Georg Matulaitis jedoch nie abgeholt wurde.

    Eine kurze Rezension erschien in der römischen Zeitung „La Civilta Cattolica".¹³³ Die Zeitung „Przegląd Powszechny publizierte eine umfangreiche Rezension von Jan Urban TJ,¹³⁴ der die These von der Ähnlichkeit der Ansichten der orthodoxen Russen und Michael de Bay (1513-1589) anfocht. 2002 schreibt P. Lucjan Balter in einer Rezension zum 100. Jubiläum von Matulaitis Doktorarbeit, dass die Lektüre der Arbeit „faszinierend und vielfach lehrreich sei: Sowohl durch die ausgezeichnete Kenntnis der behandelten Problematik als auch durch die makellose Methodologie. Er ist von der Kenntnis des Latein und der russischen Sprache begeistert, in der alle ursprünglichen Werke verfasst sind. Seiner Meinung nach gibt das Buch den Stand der dogmatischen Theologie mit ihrer polemischen und komparativen Ausrichtung am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder. Historische Erläuterungen ermöglichen es, Momente des Auseinanderklaffens beider theologischer Traditionen festzustellen. Das gründliche Studium der Doktorarbeit ermögliche es, sich den Weg, den die katholische Theologie genommen habe, vor Augen zu führen.¹³⁵

    Die Dissertation von Georg Matulaitis brachte etwas Neues in das westliche Schriftgut ein, war doch die russische Literatur wegen der Sprachbarriere wenig bekannt. Als dann später die Kandidatur von Georg Matulaitis für das Bischofsamt in Vilnius im Gespräch war, hielt es sein Doktorvater P. Albert Weiss für angemessen, an die Kurie in Rom wie folgt zu schreiben: „Er studierte Theologie und schrieb seine Doktorarbeit unter meiner Leitung. Ich schätzte und liebte ihn als einen meiner besten Schüler."¹³⁶

    Es verwundert also nicht, dass man den frisch gebackenen Doktor in Fribourg behalten wollte. Dieser erwähnt eine solche

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