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Jetzt sind wir jung
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eBook377 Seiten5 Stunden

Jetzt sind wir jung

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Über dieses E-Book

Als ob die Sache mit dem Erwachsenwerden nicht schon kompliziert genug wäre! Felix fragt sich, warum es ihm manche Menschen besonders schwer machen müssen. Seine Mutter will ihn einfach nicht loslassen, seine Freunde gehen ihm die meiste Zeit auf die Nerven - und dann ist auch noch sein Ex-Freund Martin plötzlich zurück in der Stadt. Felix weiß, dass die beiden eher früher als später aufeinandertreffen werden. Und er hat gute Gründe, sich vor der überfälligen Aussprache zu fürchten. Irgendwann fängt das Leben an, ernst zu werden. Und Felix hat das Gefühl, dass dieser Moment unmittelbar bevorsteht.

Unverschämt, witzig und berührend - das beeindruckende Romandebüt von Julian Mars.
SpracheDeutsch
HerausgeberAlbino Verlag
Erscheinungsdatum27. Nov. 2015
ISBN9783959850551
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    Buchvorschau

    Jetzt sind wir jung - Julian Mars

    nicht.

    Gestern habe ich Martin gesehen. Ohne Vorwarnung, im Supermarkt. Ich stand an Kasse eins, er an der drei. Direkte Sichtlinie. Keine Chance, sich hinter einem Regal zu verstecken. Was tun? Alles auf dem Kassenband liegen lassen und rausrennen? Hatte er mich schon gesehen? Das kannst du nicht machen, dachte ich. Das wäre oberpeinlich.

    Ich drehte den Kopf in Richtung Ausgang und schielte so weit nach rechts, dass mir die Augen wehtaten. Aber ich konnte ihn nicht sehen. Deshalb drehte ich mich doch ein kleines bisschen in seine Richtung. Er kramte in seinem Geldbeutel herum. Also hatte er mich nicht bemerkt. Oder zwang er sich auch nur, nicht rüberzuschauen? Er trug seine Haare jetzt länger, was echt dämlich aussah. Aber den Parka hatte er noch. Ich hätte gerne gewusst, ob der Rotweinfleck noch drauf war, aus der Nacht, in der … Plötzlich blickte er auf. Ich drehte mich erschrocken weg. Scheiße, dachte ich. Jetzt hat er dich bestimmt gesehen.

    Wenigstens war ich der Nächste in der Schlange. Vor ihm standen noch zwei Leute. Also Kopf runter und dem Drang widerstehen. Nicht rüberschauen, Felix.

    Nicht. Rüber. Schauen.

    Ruhig atmen. Bezahlen.

    Und raus.

    Gabriel hat gesagt, ich soll ein Buch schreiben.

    Ich saß bei ihm auf seiner roten Sperrmüll-Couch, und im Fernsehen war mal wieder mein Vater zu sehen.

    »›Klaus Lipfels, Publizist‹«, las ich die Einblendung vor, während er die erste Frage des Moderators beantwortete. Am Arsch.

    Homosexuelle sollen heiraten dürfen und Kinder großziehen und überhaupt die glücklichsten Menschen auf der Erde sein, das ist seit über zwei Jahren eines seiner Lieblingsthemen, mit dem er sich durch die Talkshows und Kommentarspalten der Republik schmarotzt. Ist mir echt egal, was er macht. Aber muss er da jedes Mal mich mit reinziehen? Das Coming-out seines einzigen Sohnes hätte ihn erst so richtig für dieses Thema sensibilisiert. Herzlichen Glückwunsch.

    »Noch schöner wäre es gewesen, wenn dich mein Coming-out auch etwas mehr für mich sensibilisiert hätte«, murmelte ich.

    »Hast du was gesagt, Prinzessin?« Gabriel blickte von seinem Fachbuch hoch, über dem er schon die ganze Zeit brütete.

    »›Klaus Lipfels, Arschloch‹«, sagte ich. »Wenn er wirklich so besorgt um mich gewesen wäre, wie er jetzt behauptet, wär ich vielleicht gar nicht schwul geworden.«

    »Da wäre ihm aber ein großes Thema durch die Lappen gegangen«, sagte Gabriel und wandte sich wieder seinem Aufsatz zu.

    »Gabriel, du brauchst ’nen Freund«, sagte ich. »Damit du mal was anderes markieren kannst als Textstellen.«

    »Mhm«, sagte er ohne aufzublicken. »Sehr witzig. Hab ja bei dir gesehen, wie glücklich so was macht.«

    Mein Vater saß zwischen einem Boygroup-Sänger und einem Fernsehmoderator, mit denen er zusammen den bunten Block bildete, der gegen eine fiese Alte von der CDU und einen schmallippigen Priester kämpfte.

    »Fühlst du dich von den zwei Schwulen da repräsentiert, Gabriel? Die Leute, die das anschauen, denken doch nachher, wir sind alle so wie die.«

    Gabriel zuckte nur mit den Schultern.

    »Immer die gleichen Gesichter im Fernsehen, inklusive meines bescheuerten Vaters, die für unsere Rechte kämpfen«, sagte ich. »Sind die mal von uns gewählt worden? Von mir nicht.«

    »Der weiße Mann kann nun mal besser mit Minderheiten umgehen, wenn die ein paar telegene Vertreter haben«, antwortete er gleichmütig.

    »Zu einer Minderheit zu gehören, ist doch Scheißdreck!«

    »Kannst ja jederzeit kündigen. Musst nur aufhören, Schwänze zu lutschen.«

    Ich resignierte. Seit Gabriel über Heraklit’sche Semiotik promovierte, konnte man über nichts mehr ernsthaft mit ihm diskutieren. Alles fließt. Alles vergeht. Also ist im Endeffekt auch alles egal. Na ja, geht so.

    Ich schaltete um, weil ich mir das nicht mehr anschauen konnte. Dabei bemerkte ich, wie Gabriel mich angestrengt beobachtete. Wie die meisten Hochbegabten leidet er an einer leichten Form von Asperger. Zumindest sage ich das gern, um ihn zu ärgern, weil er manchmal sehr schwer von Begriff ist, wenn es darum geht, menschliche Emotionen zu deuten. Offensichtlich war er nun nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass er mich irgendwie beschwichtigen sollte.

    »Na, sei doch froh«, sagte er. »Wir sind die Könige der Minderheiten. Weil wir Kaufkraft haben. Nicht auszudenken, wenn wir Zigeuner wären.«

    »Die haben wenigstens ’nen Zentralrat, den sie wählen können. Und Zigeuner soll man nicht mehr sagen.«

    »Schwule Sau soll man auch nicht mehr sagen. Hat mir aber heute Mittag einer hinterhergebrüllt, als ich im Park in die Büsche wollte.«

    Ich verschluckte mich fast an meiner Cola vor Lachen. Aber dann ärgerte ich mich über mich selbst.

    »Siehst du, das ist das Problem!«, sagte ich. »Die beschimpfen uns, und wir finden das noch lustig!«

    »Ich fand’s ja gar nicht lustig«, sagte Gabriel.

    »Ist auch besser so.«

    Er hob den Zeigefinger: »Heraklit sagt: – «

    Ich warf die Fernbedienung nach ihm, und weil Gabriel nicht nur über das Gefühlsleben, sondern auch über die körperlichen Reflexe eines Großintellektuellen verfügt, traf sie ihn an der Stirn, und er schaute mich empört an. »Na vielen Dank! Waren bestimmt tausend Gehirnzellen jetzt.«

    »Ich kann noch ein paar Sachen hinterherschmeißen, dann bist du vielleicht irgendwann normal.«

    »Und was muss man mit dir machen, damit du lustig wirst?«

    Er hatte recht.

    »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin heute komisch drauf.«

    »Ist ja was ganz Neues«, seufzte er und warf mir die Fernbedienung zurück. Sie kam einen halben Meter zu hoch und fast genauso weit zu links angeflogen. Ich fing sie problemlos.

    Im Fernsehen lief nur Schrott. Ich zappte ein paar Minuten herum und landete dann doch wieder bei der Talkshow. Dort wurde gerade eine Einspielung vom ersten schwulen Weihnachtsmarkt in Köln gezeigt, auf dem halb nackte Kerle mit Nikolausbart einen Tanz aufführten. Danach fragte der Moderator, ob schwule Männer wirklich Kinder großziehen sollten.

    »Komisch, dass die keine Bilder von randalierenden Hooligans zeigen und fragen, ob heterosexuelle Männer wirklich Kinder großziehen sollten«, sagte ich und verschränkte die Arme.

    Mein Vater antwortete, dass er keinen Grund sieht, warum sein homosexueller Sohn als Vater ungeeigneter sein solle als er selbst. Ich sah sogar tausend Gründe, weshalb ich dazu deutlich geeigneter wäre als er.

    »Ich kenne massenhaft Schwule, die niemals Eltern werden sollten«, sagte ich. »Aber ich kenne doppelt so viele Heteros, auf die das genauso zutrifft.«

    Gabriel schaute auf, und wahrscheinlich wollte er mich nur irgendwie ruhigstellen: »Vielleicht solltest du ein Buch schreiben, Prinzessin.«

    »Ein Buch? Und was soll ich da reinschreiben?«

    »Na alles, was du mir gerade erzählst. Dann kann ich’s bei Bedarf noch mal nachlesen.«

    »Mhm, ich lach mich tot«, antwortete ich.

    Die Sendung war zu Ende. Ich machte den Fernseher aus.

    »Wieso bist du überhaupt plötzlich wieder so politisch?«, fragte Gabriel.

    »Nur so.«

    »Nur so. Soso.«

    Eigentlich wollte ich es ihm gar nicht erzählen, weil ich erst versuchen wollte, mir selbst einen Reim auf die Sache zu machen. Es rutschte mir einfach so heraus: »Ich hab Martin gesehen, gestern im Supermarkt. Aber ich will nicht drüber reden.«

    »Seit wann ist der denn wieder – «

    »Ich will nicht drüber reden!«

    Ich sah im Augenwinkel, wie er mich beobachtete und dabei wahrscheinlich überlegte, ob ich das ernst meinte oder mich nur zierte.

    »Ich will wirklich nicht drüber reden.«

    »Ist ja gut.«

    Es beunruhigte mich, wie sehr mich die Begegnung mit Martin aus der Bahn warf. Aber was hatte ich erwartet? Dass ich ihm zuwinken und fröhlich nach Hause schlendern würde, nach allem, was passiert ist?

    »Ich verstehe nicht, warum er plötzlich wieder in Hamburg ist und Toastbrot kauft!«, sagte ich. »Denkst du, er wohnt jetzt wieder hier?«

    Armer Gabriel. Jetzt war er ganz verwirrt. »Also willst du doch darüber sprechen?«

    »Nein! Ich will nur sagen, dass ich nicht verstehe, warum er wieder da ist. Und was das bedeuten soll.«

    »Hast du seine Nummer noch? Frag ihn halt.«

    In gewisser Hinsicht ist Gabriel rein wie ein Kind, dem der menschliche Jahrmarkt der Eitelkeiten völlig fremd ist. Wenn man eine Information über eine Person haben möchte, was liegt dann näher, als sie anzurufen und nachzufragen?

    Das ging schon deshalb nicht, weil ich oft genug mitten in der Nacht Martins alte Nummer gewählt hatte, um zu wissen, dass sie nicht mehr existierte. Ich schüttelte den Kopf.

    »Wann ist diese Party von Tamara?«, fragte Gabriel.

    »In zwei Wochen. Warum?«

    »Na, wenn Martin dann noch in Hamburg ist, wird er bestimmt kommen, oder?«

    Mir wurde flau. Ich kramte die Einladungskarte aus meinem Rucksack, die Emilie mir vor ein paar Tagen feierlich überreicht hatte. Es war ein schmaler Flyer mit einem Bild von Tamara auf der Vorderseite, die von schräg hinten fotografiert auf einer Schaukel saß und sehnsüchtig den bananengelben Vollmond anstarrte, der links über ihr hing. Darunter stand in blutroter Schrift:

    MISS TAMARA TESTICLES SAYS GOODNIGHT

    Tamara Testicles, bürgerlich Benedetto Dingsbums, kommt eigentlich aus Italien und ist meiner Meinung nach die hässlichste Transe der Welt. Sie ist so etwas wie die Busenfreundin von Emilie, die wiederum so etwas wie meine Busenfreundin ist, und zwar schon seit ich denken kann.

    Ich drehte den Flyer um. Auf der Rückseite stand:

    FOR ONE VERY LAST TIME

    AUGUST 22nd

    2 A.M.

    THE USUAL PLACE

    THE USUAL RULES

    »Ihre Geburtstagseinladungen werden auch immer dramatischer«, sagte Gabriel. »Und wer fängt überhaupt nachts um zwei ’ne Party an?«

    »Transen«, sagte ich.

    Ich holte mein Handy aus der Tasche und schrieb Emilie eine Nachricht: ›Em, weißt du, ob Tamara Martin zu ihrem Geburtstag eingeladen hat?‹

    Die Antwort kam wie immer innerhalb von Sekunden: ›Das ist keine Geburtstagsparty!! Das ist eine Trauerfeier!‹

    Ich las es Gabriel vor, und selbst der verdrehte die Augen.

    Ich tippte mit zittrigen Fingern: ›Sag jetzt, ob Martin auch kommt!‹

    ›Keine Ahnung. Ist der wieder in Hamburg??‹

    ›Das versuche ich gerade herauszufinden. Ich hab ihn gestern gesehen. Aber nur von Weitem.‹

    Sie schickte ein sehr erschrockenes Emoji. ›Und wie geht’s dir jetzt??‹

    ›Weiß ich noch nicht‹, antwortete ich.

    ›Also ich weiß da nichts davon. Aber ich kann morgen Tamara fragen.‹

    ›Aber sag nicht, dass du von mir fragen sollst!‹

    Emilie war wirklich nicht sehr gut darin, Dinge für sich zu behalten. Ich bekam wieder dieses ungute Gefühl im Bauch, wie wenn man in der Achterbahn über eine Kuppe fährt und der Magen zwanzig Zentimeter nach oben hüpft.

    »Gabriel, meinst du, wenn ich ein Buch schreibe, kann ich da die ganze Sache mit Martin erzählen? Und von Sebastian?«

    »Klar kannst du. Wird bestimmt ein Bestseller, weil’s ein besseres schlechtes Beispiel als dich schon lang nicht mehr gegeben hat. Und am besten fängste ganz von vorne an, damit man auch versteht, wie das mit dir so weit kommen konnte.«

    Ich schaute ihn böse an, und anscheinend war selbst ihm jetzt klar, dass er sich besser vorsichtig ausdrückte. Denn er sprach sehr langsam und mit angestrengt zugekniffenen Augen weiter: »Muss ja kein Roman werden, Prinzessin. Aber ich denke … dass es dir vielleicht guttun könnte, mal alles aufzuschreiben.«

    »Inwiefern?« Ich wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Es war nur einfach zu süß mitanzusehen, wie er sich abquälte, um mir nicht auf den Schlips zu treten.

    »Na, du warst ja in letzter Zeit nicht wirklich ... glücklich. Und vielleicht würde dir das helfen, ein paar Dinge … abzuschließen. Weißt du?«

    »Wie soll ich mit Martin abschließen, wenn ich mich die ganze Zeit frage, ob ich ihn in zwei Wochen auf dieser blöden Party treffe?«

    »Na siehste, hat dein Buch schon einen Bösewicht. Und ein großes Finale, auf das die ganze Sache zusteuert. Das ist fast schon mehr, als man verlangen kann.«

    Martin als Bösewicht? Ich schaute aus dem Fenster und dachte nach. So konnte man ihn nicht unbedingt bezeichnen. Er hat sich zwar bescheuert verhalten, aber wenn einer die Sache verbockt hat, dann war ich das.

    »Und was mach ich, wenn er nachher doch nicht aufkreuzt? Dann fällt das Finale flach.«

    Gabriel zuckte mit den Schultern. »Ist dein Buch halt postmodern.«

    Ich stand auf. »Dann geh ich jetzt nach Hause und schreib ein Buch.«

    »Mhm«, sagte er. »Mach du mal. Aber mich hältst du da raus.«

    Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich – mich. Felix Aleksandr Lipfels.

    Eigentlich bin ich ganz gut geraten, auf den ersten Blick zumindest. Der Kerl, der müde aus dem Spiegel zurückschaut, ist vierundzwanzig Jahre alt, blond, schlank – also eigentlich alles bestens so weit. Seit ein paar Jahren habe ich nicht mal mehr Pickel, obwohl ich immer noch aussehe wie mitten in der Pubertät. Ich bin die Art von Kerl, die kaum ein Barthaar hat und die in meinem Alter mit etwas gutem Willen immer noch als vierzehn durchgeht.

    Martin gehört zu den Typen, die mit dem Alter immer attraktiver werden. Bis Anfang oder sogar Mitte fünfzig können die sich darauf verlassen, dass es immer besser wird – oder zumindest nicht schlechter. Bei mir wird es eher nicht so kommen. Ich kann schon froh sein, wenn ich mit Ende dreißig nicht aussehe wie ein altes Kind. Da nutzt man die Zeit, die man in seiner Blüte steht, besser gut aus.

    Es ist drei Uhr nachts, und seit ich vor ein paar Stunden von Gabriel nach Hause gekommen bin, sitze ich mit dem Laptop an meinem Küchentisch, trinke Gin und mache mir tiefschürfende Gedanken.

    Ich bin ein Kind reicher Eltern. Ich bin in einer Villa in Winterhude aufgewachsen, deren Terrasse größer war als die Wohnungen der meisten meiner Mitschüler. Ich lebe im einundzwanzigsten Jahrhundert in einem freien Land, in dem mir alle Türen offenstehen, und im Prinzip ist nicht mal die Tatsache, dass ich schwul bin, heute noch ein wirkliches Problem. Hier in Hamburg zumindest. Oder andersrum gedacht: Wenn schon schwul sein, dann doch lieber jetzt als vor hundert Jahren. Oder heute in Russland.

    Im Prinzip schlage ich mich nur mit Dingen rum, die Gabriel als First World Problems bezeichnet. Und er hat ja recht. Aber es wäre auch ein bisschen zu leicht, wenn wir alle automatisch fröhlich wären, nur weil wir jeden Tag genug zu beißen haben.

    Wahrscheinlich ist es einfach Veranlagung, dass ich so zum Grübeln neige. Wenn ja, dann hab ich das definitiv von meiner Mutter, deren russische Schwermut früher manchmal tagelang über dem Haus hing wie eine dicke, fette Regenwolke. Auch wenn meine Schwester Anna meint, dass die Sache mit der Schwermut nichts weiter als ein Euphemismus für eine handfeste Depression ist. Und Anna hat immerhin Psychologie studiert.

    Genau dieser Schwermut (oder wie man das jetzt nennen möchte) verdankt meine Schwester auch ihren Namen. Richtig, wegen Anna Karenina, dem Lieblingsbuch unserer Mutter. Deswegen sollte ich eigentlich auch Leo heißen. Aber da ist mein Vater dazwischen gegangen, weil er darauf bestand, dass dieses Kind einen etwas glückverheißenderen Namen bekommen sollte. Daraus wurde dann – buchstäblich – Felix.

    Das passt auch deshalb, weil wahrscheinlich meine ganze Existenz nichts als Glück ist, sozusagen ein Nebeneffekt der Weltgeschichte.

    Ich bin am 1. Juli 1991 geboren. Jahrelang habe ich da nicht weiter drüber nachgedacht, bis Anna irgendwann beiläufig meinte, ich sei bestimmt in der Nacht der Wiedervereinigung gezeugt worden. Wahrscheinlich hat sie das im Spaß gesagt. Aber es spricht tatsächlich alles dafür. Irgendein feierlicher Anlass muss es auf jeden Fall gewesen sein, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass meine Eltern damals noch freiwillig in einem Bett geschlafen haben, zumindest nicht nüchtern. Und mein Vater ist immerhin der Sohn von Republikflüchtlingen. An dem Tag gab es bei uns zu Hause bestimmt kein Halten mehr. Man lacht, man trinkt, man tanzt auf dem Tisch. Und dann tut man etwas, das man seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht hat. Man treibt es miteinander. Und denkt keine Sekunde drüber nach, dass da fast zehn Jahre nach der Geburt der einzigen Tochter noch was passieren könnte. Aber so sind die Erwachsenen. Die meinen, sie hätten alles erlebt und alles im Griff und es könnte ihnen nichts mehr passieren. Und dann werden sie schwanger.

    Als ich mit sechzehn das erste Mal meine Schwester in Berlin besucht habe und wir vor der East Side Gallery standen, habe ich Anna gefragt, ob sie das ernst gemeint hatte mit mir und der Wiedervereinigung. Sie wusste erst gar nicht, was ich meinte, und hat dann nur gelacht.

    »Hat dich das so schwer beschäftigt?«

    »Glaubst du, es stimmt?«, fragte ich mit flauem Magen.

    »Keine Ahnung, könnte sein. Sei doch froh drüber.« Sie wuschelte mir durchs Haar. »Ich bin jedenfalls froh.«

    Meine Schwester ist also der Meinung, dass Mama nichts anderes hat als eine handfeste Depression. Obwohl meine Mutter das sicherlich anders sähe. Vielleicht ist sie auch überhaupt nicht depressiv, sondern einfach nur exzentrisch, und es macht ihr Spaß, sich wie die tragische Heldin in einem Roman von Tolstoi zu benehmen.

    Einmal, als ich ungefähr acht war, habe ich sie gefragt, ob sie krank ist, weil sie tagelang kaum aus dem Schlafzimmer rauskam.

    »Ich bin nicht krank, Sladkij«, hat sie gesagt. »Ich bin geknickt, weil mein Mann mich nicht liebt.«

    Sie war schon immer skrupellos, wenn es darum ging, ihren privaten Müll bei mir abzuladen. Ich weiß nur immer noch nicht, ob sie das aus Unachtsamkeit macht oder aus Berechnung.

    Ich will es jetzt aber auch nicht so hinstellen, als ob Mama schuld daran wäre, dass es mir zurzeit so geht, wie es mir eben geht. Oder mein Vater oder Martin oder Gayromeo oder die Gesellschaft. Oder die Fernsehserien, die wir alle Abend für Abend anschauen. Wenn, dann haben die Fernsehserien Schuld. Früher hat man immer gesagt, es ist schlecht, wenn Jugendliche Pornos gucken, weil ihnen da völlig verzerrte Vorstellungen von Sex vermittelt werden. Dabei ist das Quatsch, inzwischen zumindest. Der echte Sex hat den in den meisten Pornos längst eingeholt. Wir sind doch schon alle zu Hochleistungsfickern geworden, die dabei jeden Muskel anspannen und den Bauch einziehen und mittendrin die Haare richten und sich heimlich selbst im Spiegel beobachten, um sicherzugehen, dass man auch ja nicht scheiße aussieht. Könnte ja jeden Moment einer eine Kamera draufhalten.

    Was uns wirklich versaut, sind die Fernsehserien, die uns völlig überzogene Ideale von Freundschaft vermitteln und uns auf gut aussehende, gut verdienende, gutmütige Traumprinzen hoffen lassen, die wir im echten Leben niemals treffen werden. Die sollten alle mindestens ab achtzehn sein.

    Wir können schon gar nicht mehr zufrieden sein mit dem, was wir haben, weil wir immer überlegen, ob es nicht noch ein bisschen besser geht. Und eben das macht uns unzufrieden. Und sorgt dafür, dass wir Dinge tun und sagen, die uns richtig in die Scheiße reiten. Wenn man jung ist, macht das nichts. Oder nicht so viel zumindest. Da wird einem noch viel mehr verziehen. Aber so jung bin ich jetzt nicht mehr. Ich bin so gut wie erwachsen und an dem Punkt angekommen, an dem man sich entscheiden muss, ob man diese ganze Scheiße namens Leben in einigermaßen gute Bahnen lenken möchte, oder ob man sie frontal an die Wand setzt.

    Das ist das Problem, wenn man mit der Schule durch ist und zu Hause auszieht und das Leben plötzlich Fahrt aufnimmt. Man ist so begeistert davon, den Wind zu spüren, dass man fast nicht merkt, wie schwierig es plötzlich wird, heil aus den Kurven zu kommen. Wobei ich im Rückblick zugeben muss, dass man meinen könnte, ich sei im letzten Jahr mit voller Absicht geradeaus gefahren, immer weiter in Richtung Wand.

    Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr an der Uni gewesen, dafür aber fast jeden Abend in irgendwelchen Bumsschuppen. Liebeskummer nennt man das wohl. Klingt romantischer als Burnout. (Und ehrlich gesagt habe ich eh noch nie in meinem Leben richtig gearbeitet.) Ich war ekelhaft zu meinen Freunden, obwohl ich im Prinzip nur zwei davon habe. Und zu meiner Mutter sowieso, aber die hat es wenigstens verdient.

    Immerhin hab ich inzwischen kapiert, dass das größte Arschloch in meinem Leben immer noch ich selbst bin. War. Und dass ich das auch nur selbst ändern kann. Wahrscheinlich wäre es ein ganz guter Anfang, mich bei Martin dafür zu entschuldigen, dass ich ihm das Herz gebrochen habe, nachdem wir zwei Jahre lang echt verdammt glücklich waren. Allerdings sollte er sich dann vielleicht auch bei mir entschuldigen, dass er einfach kommentarlos weggezogen ist und mir seither kein einziges Lebenszeichen geschickt hat.

    Neben meinem Laptop, auf dem ich das hier gerade tippe, liegt der Flyer für Tamaras Party. Ich würde sie am liebsten sofort anrufen und fragen, ob sie weiß, dass Martin wieder in der Stadt ist. Und warum. Und wie lange. Und ob er zu ihrer Party kommt. Die beiden haben sich über mich kennengelernt, als Martin und ich schon ein paar Monate zusammen waren, aber sie waren sofort ein Herz und eine Seele, worauf ich immer ein bisschen eifersüchtig gewesen bin. Und obwohl sie mir im letzten Jahr hundertmal geschworen hat, dass sie nicht wüsste, wohin er verschwunden ist, habe ich ihr das nie so richtig geglaubt.

    Wie lange braucht man, um über eine Trennung hinwegzukommen? Wovon ist das abhängig? Und wie kann Martin sich nur so bescheuerte lange Haare wachsen lassen?

    Ich stelle mein Handy auf Rufnummer unterdrücken und wähle zum tausendsten Mal seine alte Nummer, von der ich längst weiß, dass es sie nicht mehr gibt.

    »Der Teilnehmer ist uns nicht bekannt.«

    Eh klar.

    Manchmal muss ich mich zwingen, ins Bett zu gehen, um mich davon abzuhalten, noch größeres Unheil anzurichten. Ich will nur noch kurz sagen, dass mein Leben eigentlich gar nicht so schlimm ist, wie das jetzt vielleicht geklungen hat, meistens zumindest. Wahrscheinlich war es bisher eher so eine Art Tragikomödie. Wobei man das ja immer erst mit Sicherheit sagen kann, wenn man weiß, wie es ausgeht.

    Aber will ich das überhaupt wissen?

    Noch dreizehn Tage bis zu Tamaras Party.

    Ich bin mir sicher, dass sich jeder Schwule schon mal gefragt hat, warum es ausgerechnet ihn treffen musste. Zumindest ganz am Anfang, als ihm zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, dass er niemals eine Ehefrau haben wird, keine Kinder, nie eine normale Familie. Und dass ihm diese nervenzerfetzende Scheiße namens Coming-out blüht, wenn er sich nicht für den Rest seines Lebens verstecken will.

    Die Antwort ist: Man weiß nicht so richtig, woran es liegt. Wenn man mal versucht zu googeln, warum manche Männer schwul sind und andere nicht, stößt man auf ein ganzes Universum an Theorien, von denen die meisten gequirlte Kacke sind.

    Was ich immerhin mit Sicherheit sagen kann, ist: Wenn dieser klassische Klischee-Erklärungsansatz mit dem abweisenden Vater und der überdramatischen Mutter auch nur halbwegs zutrifft, dann gehe ich sicherlich als Paradebeispiel dafür durch. Denn während meine Mutter bis auf ihre jährliche Sommerreise nach Petersburg immer, also wirklich immer, zu Hause war und dort ihre russische Tragödie aufführte, war mein Vater so gut wie nie da, weil er zwischen den Hauptstädten der Welt hin und her pendelte und nur zu besonderen Anlässen heimkam. Und wenn er da war, hat er das Haus so derartig mit seiner Arschlochhaftigkeit vollgepestet und Mama, den Angestellten und mir bei jeder Gelegenheit einen blöden Spruch reingedrückt, dass alle froh waren, wenn er endlich wieder auf dem Weg zum Flughafen war. Meine Schwester hat mal gesagt, dass es in ihrem Leben nie einen Vater gab, sondern nur einen bösen Mann, der sich ab und zu in ihrem Zuhause breitmachte. Das trifft es leider ziemlich gut, muss man sagen.

    Ich habe relativ früh angefangen, nachts von Männern zu träumen, bestimmt schon mit sieben oder acht. Ich glaube, der erste war der Vater meiner Freundin Emilie, den ich auch heute noch verdammt sexy finde. Das kann aber auch daran liegen, dass der sich im Gegensatz zu meinem eigenen Vater ernsthaft für mich interessiert hat. Daddy Issues halt.

    Trotzdem habe ich lange gehofft, dass das nur eine Phase wäre, die sich irgendwann auswächst. Zumindest stand in der BRAVO, dass das gut möglich wäre. War dann aber nicht so. Na gut.

    Ich will mich gar nicht mehr auf Diskussionen einlassen, ob ein Leben als Homosexueller grundsätzlich gut oder schlecht oder erstrebenswert ist oder nicht (die hatte ich mit Martins Freunden zur Genüge). Aber ich glaube, keiner würde wirklich abstreiten, dass heterosexuell sein einfach praktischer ist, aus ganz vielen Gründen. Schon allein, weil man sich nicht ständig erklären muss. Und in der Regel keine Angst zu haben braucht, deswegen aufs Maul zu kriegen. Und natürlich, weil man die größere Auswahl hat und es viel leichter ist, überhaupt jemanden kennenzulernen, der so tickt wie man selbst.

    Das war am Anfang mein Hauptproblem. Ich wollte Jungs kennenlernen, mit denen ich mich austauschen konnte, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Natürlich wusste ich, dass es so etwas wie die Szene gab, aber alles, was ich damals darüber wusste, fand ich echt abschreckend (und im Prinzip geht’s mir heute noch so). Ich weiß noch, dass ich oft spätabends im Bett lag und mir zum Heulen zumute war, weil ich Angst hatte, dass der größte Teil der Schwulen aussah und sich benahm wie die gepuderten Halbnackten beim CSD, über die sich in der Schule alle lustig machten.

    Als ich mit fünfzehn meinen ersten Laptop bekam, fing ich an, rumzusurfen. Ich habe mich bei dbna angemeldet und ganze Nächte lang mit anderen gechattet, was damals noch wahnsinnig verkrampft war, weil sich keiner getraut hat, ein Bild von sich zu verschicken. Das war auch der Grund, weshalb ich mich lange nicht mit einem Jungen treffen wollte. Weil ich Angst hatte, mit dem in der Stadt jemandem aus meiner Klasse oder dem Ruderverein zu begegnen. Oder am besten noch meiner Mutter.

    Wer ist denn dein Freund, Felix? Den kenne ich ja gar nicht.

    Und man konnte ja auch nicht wissen, ob der andere ein totaler Psycho war, der einem nachher bis nach Hause hinterherlief und vor dem Küchenfenster eine Szene machte. Schwulen war schließlich alles zuzutrauen.

    Und dann war der Allererste, den ich getroffen habe, natürlich der totale Schuss in den Ofen. Das war kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag, und er hatte mir ein Bild von sich geschickt, auf dem er ziemlich gut ausgesehen hatte. Das habe ich heute noch auf dem Computer. Gleichzeitig hatte er kein Problem damit, dass ich ihm lieber kein Bild von mir schicken wollte, was ich ziemlich sympathisch fand. Er war Anfang zwanzig und studierte irgendwas Naturwissenschaftliches, und ich glaube, er hieß Milan.

    Wir waren mittags um halb zwei vor den Alsterarkaden verabredet, und ich hatte die letzte Stunde geschwänzt, um vorher schnell meinen Rucksack zu Hause abzuladen. Ich weiß noch, wie meine Knie zitterten, als ich vor dem Eingang auf ihn wartete. Später sagte er,

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