Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Liebe und andere Projekte
Liebe und andere Projekte
Liebe und andere Projekte
eBook288 Seiten3 Stunden

Liebe und andere Projekte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Illy hat tausende Geschäftsideen, aber keinen Plan für ihr späteres Leben. Ihre große Schwester liegt ihr ständig damit in den Ohren, dass sie endlich erwachsen werden soll. Als sie den nerdigen Mitbewohner ihres Ex-Freundes Neo kennenlernt, kommt Illy die große Idee: Warum nicht in die Computerspielbranche einsteigen? Neo ist ein begnadeter Grafiker und sein Mitbewohner, den alle nur »Geier« nennen, hat die nötigen Computerkenntnisse. Dumm nur, dass sie die beiden erst von ihrer Idee überzeugen muss und dabei in unerwartete, amouröse Nöte gerät …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. März 2014
ISBN9783764190330
Liebe und andere Projekte

Ähnlich wie Liebe und andere Projekte

Ähnliche E-Books

Kinder – soziale Themen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Liebe und andere Projekte

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Liebe und andere Projekte - Henrike Curdt

    Achterbahn …

    INHALT

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    »Wth?«, tippte Illy in ihr Handy. »Stehe vor deiner tür und komme nicht rein.«

    Sie stellte ihren Rucksack im Hauseingang ab, trat ein paar Schritte zurück in den abendlichen Nieselregen und sah an der hohen Fassade des Stadthauses empor, das im Licht der Straßenlampen kalt und abweisend wirkte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, während sie die Stockwerke zählte: eins, zwei, drei, vier. Kein Zweifel – in Neos Wohnung brannte Licht. Und die laute Musik, die bis auf die Straße herunter zu hören war, kam vermutlich auch von dort.

    Illy seufzte. Großartig. Sie hatte ihr letztes Geld für das Zugticket geopfert und war über hundert Kilometer gefahren, um Neo am Abend seines Geburtstags zu überraschen, und jetzt … Okay, das stimmte nicht ganz. Eigentlich war es ihr nicht in erster Linie darum gegangen, Neo eine Freude zu machen. In Wahrheit hatte sie erst nach dem Streit bei Kats Examensfeier beschlossen, zu ihm zu fahren. Sie war wütend abgerauscht und hatte nicht gewusst, wohin sie sonst hätte gehen sollen.

    Das Ergebnis blieb das gleiche: Sie stand vor Neos Tür und kam nicht rein.

    Fröstelnd schlang sie ihre Jacke enger um ihren Körper. Für Ende Juni war es viel zu kalt. Kurz unter dem Po abgeschnittene Jeansshorts und Netzstrümpfe waren jedenfalls nicht das ideale Outfit, um stundenlang auf der Straße auszuharren. Und ihrer gekonnt nachlässig gestylten Mähne bekam das Wetter auch nicht gerade. Zu Hause vor dem Spiegel hatte sie noch ausgesehen wie eine dunkelhaarige Avril Lavigne. Wenn sie allerdings nicht allmählich ins Trockene kam, würde davon bald wenig übrig sein.

    Mit hochgezogenen Schultern stellte sie sich wieder in den Hauseingang. Ein Auto zischte über den nassen Asphalt, dann noch eins. Von irgendwo her war das Geräusch einer Straßenbahn zu hören.

    Ob Neo ihr Geburtstagspäckchen schon geöffnet hatte? Vor zwei Tagen hatte sie es zur Post gebracht, es musste also inzwischen angekommen sein. Sie war sicher, dass er sich wie verrückt über ihr Geschenk freuen würde, den zweiten Teil des PC-Adventures Ernst macht Ernst. Er hatte den ersten Teil geliebt und beharrlich behauptet, dass es nie wieder ein so gutes Spiel in diesem Genre geben werde. Illy hatte seine Begeisterung nicht verstanden – die Story war so simpel, dass man sie fast schon als hohl bezeichnen konnte, und die Umsetzung lud auch nicht gerade zum Niederknien ein. Aber als das Spiel herausgekommen war, war es eingeschlagen wie eine Bombe. Inzwischen war Ernst so bekannt wie Angela Merkel. Und das hatte Illy auf eine Idee gebracht.

    Beim Gedanken daran überlief Illy trotz der kühlen Witterung ein wohliger Schauer. Kat hatte keine Ahnung, wenn sie Illy vorwarf, kein Ziel zu haben. Seit ihrer Kindheit war Illy auf der Suche. Sie zweifelte nicht daran, dass sie eines Tages richtig durchstarten würde. Die Frage war nur womit. Mit neun Jahren hatte sie sich als Aktionskünstlerin versucht, mit zehn als Straßenmusikerin und anschließend als Hundetrainerin. Dann war sie auf die Idee mit dem Horror-Kasperletheater gekommen, was ihr zwar eine Menge Fans unter den Kindern, aber leider nur sehr wenige unter den zahlenden Eltern eingebracht hatte. Quasi als Wiedergutmachung hatte sie daraufhin einen digitalen Gutenachtgeschichtenversand aufgezogen, der eine Zeit lang sogar richtig gut gelaufen war. Danach hatte sie vorübergehend eine Partybegleitagentur betrieben und einen Ausreden- und Alibiservice. Als sich auch das als Flop erwies, hatte sie schließlich ein ganzes Jahr lang auf eine neue Idee gewartet. Und dann war Ernst herausgekommen.

    Das ist es, hatte Illy gedacht. Die Macher von Ernst hatten nichts weiter zustande gebracht als ein Spiel mit einer schwachsinnigen Story und batzdummen Akteuren, und damit waren sie so erfolgreich, dass jetzt sogar der Börsengang anstand. Ha! So etwas konnte Illy schon lange. Es war mit Sicherheit keine unlösbare Aufgabe, sich eine originelle Geschichte und ein paar Charaktere einfallen zu lassen, die diese Bezeichnung verdienten. Wenn sie das geschafft hatte, musste sie nur noch jemanden finden, der den Figuren auf dem Bildschirm Leben einhauchte. Und an dieser Stelle kam Neo ins Spiel. Neo liebte Adventures. Aber das war noch nicht alles. Illy kannte niemanden, der so gut zeichnen konnte wie er. Wenn sie es schaffte, Neo als Grafiker für ihr Projekt zu gewinnen, dann fehlte nur noch ein Programmierer, der das Ganze zum Laufen brachte …

    Illy zählte im Geiste die Stationen ihrer bisher nicht eben erfolgreichen Karriere. Sie kam auf sieben. Die Idee mit dem Adventure war also ihr achtes Projekt. War die Acht in China nicht eine Glückszahl? Zumindest hatte ihr Vater etwas in der Richtung erwähnt. Und der musste es wissen, schließlich lebte er seit zwei Jahren dort. Projekt Nummer acht – das konnte doch kein Zufall sein!

    Illys Blick blieb an einem rostigen Fahrrad hängen, das mit einer nicht minder rostigen Kette an einem Schildermast festgebunden war. Das Vorderrad fehlte, und von dem verbogenen Hinterrad war nur noch die nackte Felge übrig. Ein durchweichter Pizzakarton auf dem Lenker vervollständigte das triste Stillleben.

    Willkommen zurück in der Realität. Illy versetzte ihrem Rucksack einen Tritt. Wenn die Situation umgekehrt gewesen wäre, hätte Neo bestimmt schon fünfmal »Scheiße« gesagt. Scheiße war sein Lieblingswort. Er benutzte es nicht nur in Situationen, in denen es angemessen war, sondern auch, um alle möglichen anderen Gefühlslagen zum Ausdruck zu bringen: Erstaunen, Anerkennung, sogar Begeisterung. Tja, Neo war ein Phänomen. In vielerlei Hinsicht.

    Ohne echte Überzeugung drückte Illy noch einmal auf den Klingelknopf. Adrian Bäumer stand auf dem kleinen Schildchen daneben. Es war der obere von acht Klingelknöpfen. Neben dem unteren war in krakeliger Schrift Merger zu lesen, und dazwischen gab es noch zwei Schmidts, einen Frommann und zwei Namenlose. Illy probierte alle Klingeln bis auf die untere nacheinander aus, ehe sie es noch einmal mit Neos versuchte. Vergeblich.

    Verflixt, warum machte niemand auf? Vor allem Neo – hörte er die Klingel nicht? War sie kaputt? Oder hatte er sie ausgeschaltet, weil er immer noch eingeschnappt war? Gut möglich. Illy hatte ihn Anfang der Woche angerufen, um ihm zu sagen, dass sie heute nicht kommen werde. Er war stinksauer gewesen, hatte ihr vorgeworfen, Kats blöde Examensfeier sei ihr wichtiger als sein Geburtstag. Dabei war Kat zwar ihre Schwester, zugleich aber auch der Mensch, der ihr am meisten auf die Nerven ging. Kat war zehn Jahre älter als sie, und seit ihr Vater beruflich nach China gegangen war, wohnte Illy bei ihr. »Bei Kat bist du in besten Händen«, hatte er gesagt. Dabei wollte er sie im Grunde nur loswerden. Er hatte Illy elegant abgeschoben, und damit war der Fall für ihn erledigt gewesen.

    Für Illy dagegen hatten die Schwierigkeiten so erst angefangen. Mit ihrer großen Schwester zusammenleben zu müssen, war die Höchststrafe. Kat spielte sich auf, als ob sie die Allwissende Müllhalde wäre. Ständig mischte sie sich in Illys Leben ein und machte ihr Vorschriften. »Du hast kein Ziel« – Illy konnte es nicht mehr hören. Kat selbst dagegen hatte seit jeher gewusst, was sie wollte: Teilhaberin der Anwaltskanzlei werden, in der sie arbeitete. Illy zweifelte nicht daran, dass ihre Schwester dieses Ziel erreichen würde. Sie hatte auch gar nichts dagegen. Wenn Kat nur endlich eingesehen hätte, dass sie ihre eigenen Vorstellungen vom Leben hatte.

    Ärgerlich schob sie den Gedanken an Kat zur Seite. Im Moment hatte sie andere Probleme. Warum antwortete Neo nicht auf ihre SMS? Hatte er am Ende nicht nur die Klingel, sondern auch sein Telefon ausgeschaltet? Vermutlich hockte er schmollend vor dem Fernseher und zappte sich durch die Programme.

    Immerhin saß er im Warmen und Trockenen. Ganz im Gegensatz zu ihr. Widerstrebend wagte sie sich ein weiteres Mal unter dem schützenden Vordach hervor und ging dicht an der Hauswand entlang zu dem hohen Holztor, das den Durchgang zum Hinterhof versperrte. Abgeschlossen. Mist.

    Um in Bewegung zu bleiben, lief sie ein Stück die Straße hinunter und versuchte dabei den fiesen Nieselregen zu ignorieren, der sich wie ein Eisfilm auf ihre Haut legte und ihre dünne Jacke durchweichte. Was für ein Sommer!

    Drei Typen in weiten Rapperhosen und Kapuzenshirts kamen ihr entgegen, breitbeinig und mit hängenden Armen wie Gorillas auf Brautschau. Die drei glotzten sie an, als ob sie noch nie eine Frau in Hotpants gesehen hätten. Einer von ihnen pfiff durch die Zähne.

    »Nettes Fahrgestell«, meinte er anerkennend.

    Im Gegensatz zu deinem. Illy verzog das Gesicht und ging an den drei Gorillas vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie passierte einen mit schlechten Graffiti beschmierten Bauzaun und lief weiter bis zum Ende der Straße. Dort blieb sie stehen und starrte in das Schaufenster einer Metzgerei, das mit Grillzubehör und riesigem Plastikgemüse dekoriert war. Da hatte jemand die Hoffnung auf besseres Wetter offenbar noch nicht aufgegeben.

    Sie hörte Stimmen hinter sich. Eine Gruppe junger Leute: zwei kichernde Mädchen mit einem großen giftgrünen Regenschirm und zwei Jungs, die versuchten, sich zu den beiden unter den Schirm zu quetschen. Ein äußerst unangenehmer Gedanke kam Illy in den Sinn. Die Jungs hatten zwar keinerlei Ähnlichkeit mit Neo – beide waren blond und nicht besonders gut aussehend –, aber bei dem Spielchen unter dem Regenschirm hätte sie sich auch Neo vorstellen können. Was, wenn er gar nicht zu Hause war, sondern nur vergessen hatte, das Licht auszumachen? Vielleicht kam die Musik, die sie gehört hatte, aus einer anderen Wohnung, und Neo feierte irgendwo mit einer Horde hysterisch gut gelaunter Leute seinen Geburtstag, während sie sich vor seiner Tür den Allerwertesten abfror.

    Die vier mit dem giftgrünen Regenschirm überquerten laut johlend die Straße. Ihr Ziel war offenbar das Studentenbistro auf der anderen Seite. Zally, so der Name, nach dem Besitzer, einem langhaarigen Dicken namens Zallmeyer. Illy war mit Neo schon oft dort gewesen. Er liebte den Laden, vor allem wegen der riesigen Schnitzel, die es dort gab. Aber auch, wie Illy vermutete, wegen der äußerst attraktiven Bedienungen, die dort arbeiteten. Illy stöhnte auf. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Wenn Neo nicht zu Hause war, dann musste er im Zally sein!

    Inzwischen war der giftgrüne Regenschirm auf der anderen Straßenseite angekommen. Eines der beiden Mädchen klappte den Schirm zu und schüttelte ihn in Richtung der Jungs, die lachend zurückwichen und dann lautstark Revanche ankündigten. Das Mädchen ließ den Schirm fallen und suchte kreischend das Weite.

    Illys Handy gab einen Piepton von sich. Na, endlich. Ungeduldig zerrte sie es aus ihrer Jackentasche. Eine neue SMS – von Neo.

    Bring was zu trinken mit. :)

    Verwirrt schüttelte Illy den Kopf. Er war also doch zu Hause, oder wie sollte sie das verstehen? Hm. Die Antwort war jedenfalls typisch für ihn: Auf ihren Vorwurf war er gar nicht eingegangen. Egal. Darauf kam es jetzt nicht an. Die Hauptsache war, dass diese ungemütliche Warterei ein Ende hatte.

    Sie war davon ausgegangen, dass Neo sie an der Haustür empfangen würde. Als sie jedoch dort ankam, war die Tür noch immer verschlossen. Sie lächelte nachsichtig, während sie Neo vor sich sah, hektisch von einem Raum in den anderen rennend, um zumindest so viel Ordnung zu schaffen, dass man ohne größere Unfälle durch den Flur kam. Erwartungsvoll drückte sie auf den Klingelknopf und legte ihre Hand auf den Türknauf, um den Moment nicht zu verpassen, in dem das Summen der automatischen Entriegelung ertönen würde.

    Im gleichen Augenblick wurde die Haustür plötzlich von innen geöffnet. Illy prallte zurück. Vor ihr stand eine alte Frau in einem kittfarbenen Trenchcoat – Frau Merger, die einzige Bewohnerin des Hauses, die älter als fünfundzwanzig war. Deutlich älter. Ihre schlechte Laune hatte schon Kultstatus. Heute schien es nicht anders zu sein: Passend zu ihrem Trenchcoat und dem Regenschirm in ihrer Hand war auch ihr Gesichtsausdruck auf das Wetter abgestimmt.

    »Noch so e Oos!«, keifte sie. »Willst wohl aach noch mitmache do obbe?«

    Sie zerrte an der Hundeleine, an deren Ende ihr treuer Begleiter japste: ein unglaublich dicker Dackel namens Hausmeister. Illy fühlte sich wider Willen an ihre Versuche als Hundetrainerin erinnert. Projekt Nummer drei. Wochenlang hatte sie am Gartenzaun gehockt und ihr Taschengeld in Form von Hundekuchen an den Dobermann des Nachbarn verfüttert, bis sie einsehen musste, dass der Hund die Bestechungswährung zwar gerne annahm, aber zu keiner Gegenleistung bereit war. So vollgefressen, wie Frau Mergers Dackel aussah, würde er sich wahrscheinlich nicht mal dazu herablassen, das Maul aufzumachen.

    »Bei dem Krach blatz mer ja de Kopp!«

    Frau Mergers Genörgel brachte Illy wieder in die Gegenwart zurück. Passen Sie lieber auf, dass Ihr Hund nicht platzt. Illy setzte ein gewinnendes Lächeln auf, während sie sich auf die Musik konzentrierte, die deutlich lauter geworden war, als Frau Merger die Tür geöffnet hatte. War das nicht Neos Lieblingssong?

    »Wenn die sisch mit mir aalesche wolle, misse se abber frijer uffschdeiche!«, zeterte Frau Merger weiter.

    Illy wusste genau, was die alte Schreckschraube vorhatte: die Polizei anrufen, um mithilfe der öffentlichen Gewalt die Ruhe im Haus wiederherzustellen. Da Frau Merger keinen Telefonanschluss hatte, musste sie dafür zur nächsten Telefonzelle humpeln, und das brachte ihre Laune noch weiter in Richtung Gefrierpunkt. In dieser Stimmung ging man ihr besser aus dem Weg. Illy schnappte nach ihrem Rucksack und drängte sich an Frau Merger und dem fettleibigen Hausmeister vorbei durch die Tür.

    Drinnen sah es aus wie bei einem Zweiradbasar: Der halbe Flur war vollgestellt mit Fahrrädern. Noch ein Punkt auf Frau Mergers Beschwerdeliste. Illy sah zu der Hausordnung hinüber, die in einem abgeschabten Holzrahmen neben der Briefkastenreihe hing. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Frau Merger sie bei ihrem ersten Besuch im Treppenhaus abgefangen und ihr einen endlosen Vortrag über die Hausregeln gehalten hatte. Paragraph siebzehn: Das Abstellen sperriger Gegenstände im Treppenhaus ist verboten.

    Illy bahnte sich einen Weg durch die Zweiradparade, lehnte sich über das Treppengeländer und spähte zwischen den Handläufen hindurch nach oben.

    Die Musik kam eindeutig von dort. Und nicht nur die Musik. Stimmen, ausgelassenes Gelächter. Party. Illy zählte ein weiteres Mal die Stockwerke. Dritter … nein … doch … nein … vierter. Aha. Neo war tatsächlich zu Hause. Allerdings hockte er nicht allein dort oben und erwartete sie sehnsüchtig. Nein, von Sehnsucht konnte keine Rede sein. Er hatte sich offenbar dazu entschlossen, seinen Geburtstag mit einer angemessenen Party zu begehen. Jetzt war ihr auch klar, warum er sie in seiner SMS aufgefordert hatte, etwas zu trinken mitzubringen.

    Die Flurbeleuchtung ging aus. Gelächter, Gegröle. Dann wurde das Licht wieder angeschaltet. Illy setzte sich in Bewegung. Von einer Party hatte Neo nichts gesagt. Dafür war er ihr eine Erklärung schuldig.

    Hinter der Glasscheibe der Wohnungstür im ersten Stock war es dunkel. Illy konnte sich denken warum: Die zickige Studentin, die hier wohnte, war mit Sicherheit auch zur Party eingeladen. Sie warf den silbernen Joggingschuhen auf der Plastikgrasfußmatte einen hasserfüllten Blick zu. Bislang war sie der Besitzerin dieser affigen Treter nur ein einziges Mal begegnet. Aber dieses eine Mal hatte ihr gereicht. Es war im Park gewesen. Vanessa, so der Name dieser albernen Kuh, war dick geschminkt und in hautengen, bonbonfarbenen Laufklamotten an ihr und Neo vorbeigetrabt. Neos Blick hatte Illy den ganzen Sonntag verdorben.

    Die Wohnungstür gegenüber war mit einem Plakat für die AStA-Wahlen des vorletzten Jahres beklebt. Hier hauste einer der beiden Schmidts, ein Sozialpädagogikstudent mit langen Haaren, der nur selten zu Hause war, weil er meistens auf irgendwelchen Protestveranstaltungen herumhing. Ob er auch auf Neos Party war? Illy versuchte sich an seinen Namen zu erinnern. Thomas? Tobias? Irgendwas in der Art.

    Missmutig stapfte sie weiter die Treppe hinauf. Der Lärm von oben nahm mit jedem Stockwerk zu – im gleichen Maß wie ihre Gemütsverfassung in den Keller ging.

    Dritter Stock. Vor einer der beiden Wohnungen lehnten ein paar zusammengefaltete Umzugskartons. Frisch eingezogen, soso. Hoffentlich nicht noch so ein Perlhuhn wie diese Vanessa …

    Eine neue Woge ausgelassenen Partylärms schwappte aus dem vierten Stock zu Illy herunter. Na, toll. So hatte sie sich den Abend nicht vorgestellt. Am liebsten wäre sie umgekehrt und nach Hause gefahren. Aber das ging nicht. Wütend bog sie um die letzte Treppenkehre.

    Vor Neos Tür stand ein Pulk von Gästen, die meisten mit Bierflaschen in der Hand. Die Mädchen waren allesamt aufgedonnert wie für ein Model-Casting. Sie hatten etwas von Schaufensterpuppen: austauschbare Gesichter, austauschbare Klamotten. Illy reckte das Kinn und sah ihnen kampfbereit entgegen. Mit stiller Genugtuung registrierte sie die Blicke der männlichen Gäste. Tja, aus der Konkurrenz dieser Klon-Barbies stach sie eindeutig heraus. Ihre Laune war plötzlich aus dem Keller in den ersten Stock geklettert. Und das lag nicht nur daran, dass es hier deutlich wärmer war als draußen. Ein siegessicheres Lächeln auf den Lippen, marschierte sie zwischen den Leuten hindurch zur Tür und weiter in den Wohnungsflur.

    Der Lärmpegel war hier gegenüber dem Treppenhaus um einige Dezibel höher. Jemand hatte die Deckenlampe mit Neos altem FC-Bayern-Schal abgedunkelt. Im roten Dämmer saßen rechts und links neben der überquellenden Garderobe Leute auf dem Boden, die Beine lang ausgestreckt. Illy hatte keine Lust, über die Schienbeine der Sitzenden zu springen wie ein Turnierpferd.

    Doch ehe sie etwas sagen konnte, tippte ihr jemand auf die Schulter: Vanessa, die Zicke aus dem ersten Stock. Heute trug sie zwar keine hautengen Laufklamotten, dafür aber ein knappes Top mit einem Ausschnitt, der fast bis zum Bauchnabel reichte. Außerdem hatte sie mindestens vier Lagen Wimperntusche aufgetragen. Ihr Gesicht sah aus, als ob es nur aus Augen bestehen würde. »Du stehst im Weg«, flötete sie.

    Illy rührte sich nicht vom Fleck. Sie sah an Vanessa vorbei und taxierte das Mädchen, das schräg dahinter stand, eine Rothaarige mit Käseteint und dicker Brille. Aha. Vanessa war also eins von den Mädchen, die auf Partys bevorzugt mit unattraktiven Freundinnen aufkreuzten, um ihre eigenen Chancen zu erhöhen. Mit so etwas kannte Illy sich aus. Das war nämlich seinerzeit das Prinzip ihrer Partybegleitagentur gewesen. Für ihren ersten und leider einzigen Auftrag hatte sie Stunden im Bad zugebracht, bis sie sich selbst kaum noch wiedererkannt hatte. Im direkten Vergleich zu diesem Look wäre sogar die hässlichste Schraube gut weggekommen. Dummerweise hatte ausgerechnet der Typ, auf den es ihre Auftraggeberin abgesehen hatte, das Fake sofort durchschaut. Er fand die Ugly Escort-Nummer so witzig, dass er sich für den Rest des Abends nur noch mit Illy unterhielt.

    Illy versuchte sich das Gesicht von Vanessas Freundin mit etwas Make-up und ohne Brille vorzustellen und fragte sich, was Vanessa ihr wohl zahlte, damit sie so herumlief.

    Vanessa, die Illys Schweigen fälschlicherweise als Begriffsstutzigkeit deutete, machte derweil einen neuen Anlauf. »Lass – mich – vorbei. Ich – muss – aufs – Klo.«

    Illy konnte es nicht fassen. Diese Schickse sprach mit ihr, als ob sie kein Deutsch verstehen würde. »Redet ihr immer so bei euch zu Hause im Teletubby-Land?«, konterte sie.

    »Was?« Vanessas Lächeln erstarrte.

    Illy zuckte die Achseln. Vanessa glotzte sie ein paar Sekunden feindselig an, dann stakste sie an Illy vorbei, wobei sie peinlich darauf achtete, ihr nicht zu nahe zu kommen. Ugly Escort-Girl stolperte hinter ihrer Auftraggeberin her.

    »Na also, geht doch!«, rief Illy den beiden nach.

    Wie konnte Neo nur diese dumme Keule zu seinem Geburtstag einladen? Wo steckte er überhaupt? Wahrscheinlich ahnte er

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1