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Das Lied der Arve
Das Lied der Arve
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eBook242 Seiten3 Stunden

Das Lied der Arve

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Über dieses E-Book

Mit sechs Jahren schnitzt Ambrosius Bartholomäus Schneehauser seine erste Flöte - und entdeckt seine Liebe zur Musik. Bald steht für ihn fest: Er möchte Geigenbauer werden! Und tatsächlich entwickelt er als junger Mann eine solche Meisterschaft, dass sein Name schon bald in aller Munde ist. Seine Wanderjahre führen ihn durch das halbe Europa, ehe er in zwei Weltkriegen gleichzeitig unerträgliches Leid kennen lernt und Menschen um ihn herum vorlebt, wie eine reine Seele dem Unrecht begegnen kann.
Das Lied der Arve ist weit mehr als die literarische Verarbeitung eines besonderen Lebens. Edda Singrün-Zorn gelingt es, in der Tradition von Eichendorff bis Hesse wurzelnd, den Leser in seelischen Tiefenschichten intensiv und nachhaltig zu berühren-
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Urachhaus
Erscheinungsdatum25. Nov. 2014
ISBN9783825160333
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    Buchvorschau

    Das Lied der Arve - Edda Singrün-Zorn

    sehen.«

    Wo überall die Musik wächst

    Sechs Jahre war Ambrosius jetzt alt und ein Schulbub. Jeden Tag, sobald die Morgenhelle über den östlichen Bergen aufschien, weckte ihn die Mutter, und wenn er seine Morgensuppe gelöffelt, wanderte er den schmalen, steilen Pfad hinab. Dieser Morgengang war ihm das Liebste. Der Tau hing noch in den Gräsern, Schmetterlinge flatterten, taumelig von der Nachtkühle, hie und da huschte ein Salamander ins feuchte Moos, die Lerchen stiegen in einen Himmel, blankgeputzt und rein wie am Schöpfungstag. Bei diesen Gängen tat sich die Seele des Buben weit auf, und so sehr ihn auch das Geschaute beglückte, noch mehr regte ihn das Gehörte an. Alles hatte für ihn eine Stimme, selbst die glitzernden Tautropfen streuten ein Lied über die Wiesen. »Wie die Schneesterne im Winter«, dachte Ambrosius, »nur voller Sonne, ein gläsernes Sonnenlied.«

    Wenn die Schule zu Ende war, lief Ambrosius meist rasch nach Hause, denn zum ersten hungerte ihn und außerdem sehnte er sich nach der Mutter. Nur manchmal kehrte er in der kleinen Dorfkirche ein. Er mochte den schlichten, hohen Raum, still war es hier, die Ampel mit dem ewigen Licht schaukelte leicht hin und her, ab und zu knarzten die altersdunklen Betbänke, es hörte sich an, als seufzten sie. Was mussten sie auch alles aufnehmen an Sündhaftem und Sorgenvollem, da konnte einem schon das Seufzen ankommen. Überall hing der Geruch von Weihrauch und abgebrannten Wachsstöcken. Dies alles nahm Ambrosius wahr und noch viel mehr. Voll fiel das Mittagslicht durch die bunten Fenster und malte rote und blaue Tupfen auf die Stufen und den großen Palmbuschen, der neben dem Altar stand, denn es war kurz vor Ostern. Und weil alles so schön und nun auch bald Ferienzeit war, ging dem Ambrosius das Herz über und er begann zu singen. Hell und glockenrein hob sich seine Stimme über das Gestühl bis hinauf ins Gewölbe. Andächtig sang er, den Blick auf das Altarbild gerichtet, als eine Stimme hinter ihm frug: »Ambrosius Schneehauser, wir haben keinen Gottesdienst und es ist auch kein Kirchenlied, was du singst; was also ist es?«

    Erschrocken fuhr das Kind herum und stotterte: »Ich … ich hab’ … ich hab’ das Taulied gesungen. Ich dacht’ mir, die Himmelmutter mag es gerne, wo doch der Tau daher kommt, wo sie jetzt ist.«

    «So, so, das hast du gedacht. Und wer hat dich das Taulied gelehrt? Der Lehrer oder die Mutter?«

    Da lächelte der Bub und antwortete: »Der Tau natürlich, Hochwürden, niemand kann doch das Taulied besser als der Tau selber. Heut morgen, als ich den Steig herunterkam, hat die ganze Tauwiese gesungen und da hab’ ich mir’s halt gemerkt.«

    Lange schaute der Pfarrherrdas Kind an, seine Gedanken gingen zurück zu dem Wintertag, als die Magdalen in seiner Stube gestanden, und er glaubte deutlich zu hören: » … und zweitens ist er ein Besonderer, er ist ein Hollenkind aus dem goldenen Brünndel.« – Behutsam nahm er die Kinderhand in die seine, zusammen verließen sie die Kirche und erst als sie vor dem Pfarrgarten unter dem Kätzchenbaum standen, um den der Bienenchor summte, sprach der Mann wieder: »Sag einmal, hast du bloß das Taulied gehört oder singen auch andere Dinge für dich?«

    »Alles kann singen, Vater Winfried, und jeder kann es hören, alle Menschen haben doch Ohren.«

    »Das stimmt, aber du hast andere Ohren, ganz andere.«

    Ambrosius stutzte, dann fasste er sich an seine Lauscher und lachte: »Nein, Vater Winfried, meine sind genau wie Eure, nur kleiner, und der Vater hat dieselben, und die Mutter, die Vroni, der Joseph und alle, die ich kenne.«

    »Die Ohren meine ich nicht, Ambrosius«, sagte der Pfarrer und zog ihn am Ohrläppchen, »ich meine die Ohren, die man nicht sehen kann, die in einem Menschen drin sind, die inwendigen Ohren, und die hat nicht jeder.«

    Zweifelnd schaute ihn das Kind an: »Ist das wahr? Dann seid Ihr aber arm dran, Hochwürden, wenn Ihr soviel Schönes net hören könnt«, und plötzlich trat ihm ein glückliches Leuchten in die Augen und breitete sich über das ganze Gesichtchen: »Ich weiß, was ich mach’, ich sing euch immer vor, was mir die Stern’, der Regen, die Wolken und alles vorsingt, und mich, mich könnt ihr doch hören, ja?«

    »Das machst, Ambrosius, und jetzt marschier’, es läutet bald Mittag.« Ambrosius stob davon und Vater Winfried schaute ihm nach, bis er zwischen den Feldern verschwand.

    Es war ein warmer Maitag, Ambrosius kam mit seinem Rucksäckchen auf dem Rücken vom Dorf, wo er für die Mutter eingekauft, da trieb ein Klang mit den Mittagswolken, dass er stehen bleiben musste. Vorsichtig Fuß vor Fuß setzend, ging er den Tönen nach, und da sah er den alten Schäfer am Rain sitzen, den Georg. In seinen Händen hielt er ein Stöckchen, blies hinein und entlockte ihm das zarteste Lied, das man sich denken konnte. Ambrosius blieb vor Staunen der Mund offen – ein Holzstöckchen, das singen konnte, was es für Wunder gab. Er griff neben sich ins Gebüsch, brach ein Reislein ab und blies ebenfalls hinein. Er blies, bis ihm die Backen wehtaten. Puterrot wurde er dabei, aber nichts geschah, er entlockte dem Stöckchen keinen Ton. Langsam schob er sich näher heran, bis er vor Georg stand. Der blickte auf: »Grüß dich Ambrosius, bist auf dem Weg heim?« Ambrosius stand stumm, seine Augen fest auf das geheimnisvolle Stöckchen gerichtet: »Wie machst du das, Georg, warum kann dein Stecken singen und meiner net? Schon einen ganz wehen Kopf hab’ ich vom Hineinblasen, aber es kommt kein Lied heraus. Hast du ihn verzaubert, deinen Stecken?« Gutmütig lachte der Alte: »Da ist kein Zauber dabei, Bub, das ist wie ein Handwerk, das man lernen kann. Ich hab’s von meinem Vater, der konnte die besten Weidenpfeifen schneiden im Tal.«

    Ambrosius Gesicht war eine einzige Begehrlichkeit: »Georg, lehrst du mich eine Pfeife schneiden, ich schenk dir auch mein Stück Sonntagskuchen.«

    »Behalt deinen Kuchen, du brauchst ihn nötiger als ich, lehren tu ich dich’s auch ohne Geschenk. Nur ein gutes Messer zum Schneiden, das wirst brauchen, ohne das geht nichts.«

    Da sank beim Ambrosius die Freude in den Keller, ein Messer, woher sollte er so was Wertvolles nehmen. Zu seinem Geburtstag waren es noch viele Monate und zum Christfest noch länger. »Kannst du es mich auch ohne Messer lehren, Georg, denn es möcht’ eine Weile dauern, bis ich eines hab’.«

    »Das kann ich wohl, musst nur ein bissel Zeit mitbringen, denn es ist nicht leicht, bis man’s kann.« Ein Seufzer der Erleichterung war die Antwort, und nach einem Gruß stapfte Ambrosius den Berg hoch.

    Seitdem erschien er bei Georg, so oft er konnte, ob dieser seine Herde durchs Tal trieb oder dem Gebirge zu, Ambrosius fand ihn immer, und der Schäfer zeigte ihm die Kunst des Pfeifenschneidens von allem Anfang an.

    »Zweijährig und darunter sollt’ die Weide sein, net älter. Und früh am Morgen musst du sie schneiden, vor Sonnenaufgang, da ist der Saft am besten. Der Saft ist Leben, und Leben, das soll sie doch haben, deine Pfeif’n.«

    Ambrosius nickte: »Ohne Leben gibt’s gar nichts, gell Georg, keine Weiden, keine Schafe und Lämmer, keine Lieder, einfach überhaupt nichts gibt’s ohne das Leben.«

    Georg gab keine Antwort, er war bei der schwierigen Arbeit des Ausklopfens. »Das Mark musst ausklopfen, das ist eine Arbeit für ruhige Hände, und still soll man dabei sein, damit man das Holz reden hört.«

    »Was sagt es, das Holz?«

    »Es sagt dir, was du tun musst und wann du es tun musst, damit es eine gute Pfeife gibt.« Und nun zeigte Georg dem Buben, Stück für Stück, wie so ein Pfeiflein entsteht. Zum Schluss fügte er das Kernstück ein, leicht ließ es sich auf und nieder schieben, und als der Schäfer die Pfeife an den Mund setzte, flog eine einfache Melodie durch die Luft, leicht wie ein Vogellied. Ambrosius schaute in den Himmel, wo flockenweiß ein paar Mittagswolken segelten und ihm war, als habe er nie etwas Schöneres gehört.

    Einige Tage später sprang er am frühen Morgen über den Bach, atemlos blieb er vor Georg stehen: »Ich hab ein Weidenstöckchen, die Sonne war noch nicht überm Zacken, da hab ich’s gebrochen. Bitte, Georg, leih mir dein Messer, ich will auch ganz bestimmt Acht geben drauf.«

    »Ja hast du denn keine Schule heut?«

    »Aber Georg, Ferien sind, das weiß doch jeder !«

    »Woher soll ich das wissen, meine Schafe machen nie Ferien, die brauchen mich immer. So, setz dich her und zeig, ob du gut zugeschaut hast.« Langsam, wie ein Kleinod, schälte Ambrosius das Weidenstöckchen aus der Tiefe seines Hosensackes, beschaute es, hielt es ans Ohr, klopfte daran – und fing an zu schneiden. Bedächtig aber sicher führte er das Messer, nichts musste Georg verbessern, nie brauchte er helfend eingreifen, schon bald wurde ihm klar, dass er hier einen kleinen Meister vor sich hatte, einen, der etwas besaß, was man in keiner Werkstatt der Welt erlernen konnte. Mit hochroten Backen arbeitete das Kind, es hatte alles ringsum vergessen, immer wieder horchend, immer wieder klopfend, brachte es sein Werk zu Ende. Vorsichtig schob es das Kernstück ein und dann begann es zu blasen. Klar und rein schwangen die Töne über die blühende Wiese, das ganze Tal schien eingeschlossen in das Liedchen aus der ersten Weidenflöte des Ambrosius.

    Nachdem er geendet, wandte er sich zum Schäfer: »Hab ich’s recht gemacht, Georg, bist du ein bissel mit mir zufrieden?« Unbeholfen strich der ihm durch die dunklen Locken und, indem er sinnend über ihn hinweg gegen die Berge sah, antwortete er: »Ich kann dich nichts mehr lehren, du kannst mehr als ich. Du hast gesegnete Hände, Ambrosius Schneehauser, und ganz besondere Ohren. Hüte beides, sieh zu, dass nichts Unrechtes damit geschieht und schaff etwas, das uns allen Not tut.«

    »So ähnlich hat der Vater Winfried neulich auch gesagt, als ich in der Kirche für die Gottesmutter das Taulied gesungen hab’.«

    »Du hast was gesungen?«

    »Das Taulied. Ich hab gedacht, wenn die Maria die ganze Woche so allein beim Altar steht, nur am Sonntag, wenn wir singen, das bissel Musik und, wenn der Herr Lehrer die Orgel schlägt, ich weiß net so recht …«, sein Gesicht verzog sich schmerzlich, »da hab ich gedacht, sie möchte‘ sich freuen, wenn ich ihr den Tau in die Kirche bringe, denn sie selber darf doch net weggehen, sie muss da stehen bleiben, und das seit über zweihundert Jahren, hat der Vater erzählt. Denk dir Georg, so lang auf einem Fleck stehen, das ist arg.« Es schüttelte ihn förmlich bei der Vorstellung.

    »Was du dir so ausdenkst. Wirst mir auch einmal das Taulied singen?«

    Ernsthaft nickte das Kind: »Ja gern, aber ganz in der Früh muss das sein, der Tau singt nur ganz in der Früh, wenn die Sonne ihm ›Grüß Gott‹ sagt.«

    »Und was war das vorhin, was du auf deiner Pfeife gespielt hast?«

    »Das war das Wiesenlied, das kommt von den Blumen, und, weißt‘ Georg, die Glockenblumen singen am schönsten. Hochwürden sagt, net alle Menschen hören so was, kannst du es hören? Hast du inwendige Ohren?«

    Georg wiegte den Kopf zweifelnd hin und her: »Vielleicht, ich bin mir net sicher.«

    »Aber ich mein, du musst mehr hören als die andern, wenn du doch deine Schaf‘ und Lämmer verstehst und den Hund. Die reden auch net unsere Sprache und du weißt trotzdem, was sie sagen. Ich mein, der liebe Gott hat jedem die Ohren gegeben, die er braucht.«

    »Wohl, wohl, das wär’gut zu glauben. Und jetzt nimm deine Pfeifen und trag sie heim, denn eine Weidenpfeife, Ambrosius, hat nur ein kurzes Leben, du wirst noch viele schneiden müssen, bis du groß bist.«

    So sehr Ambrosius seine Pfeife liebte, so sehr er stolz war auf das Lob der Eltern und Geschwister, dieser letzte Satz des Schäfers haftete in seinem Gedächtnis und ließ ihn nicht mehr los. Eine ungewisse Sehnsucht befiehl ihn, ein Wunsch trieb ihn um, der Wunsch, etwas zu schaffen, was singen konnte gleich einer Pfeife, aber langlebiger war als sie. Auch wenn er nicht jeden Tag an diesen Wunsch dachte, so hielt er ihn doch wie ein stetiges Flämmlein am brennen.

    Das Jahr neigte sich, die Nebel stiegen aus den Bächen und wallten um die Felsen, morgens lag Reif auf Feldern und Wegen, und in den ersten Novembertagen zogen die Dörfler auf den Kirchhof, die Gräber zu pflegen und mit Kerzen zu bestecken. Auch Ambrosius zog mit an der Hand der Mutter. Sie schmückten den Hügel der Schneehauser mit den Zweigen der Arve, als besonderen Gruß von dem Haus am Berg, und als die Mutter einen Wachsstock entzündet, zog Ambrosius den Stummel einer Altarkerze aus seiner Joppentasche: »Der ist für den Ahn, nach dem ich heiß’. Vater Winfried hat mir den Stumpen geschenkt, weil ich beim Hochamt so schön gesungen hab’.« Und für sich bat er: »Lieber Ahn, mach, dass ich am Ambrosiustag, was mein Geburtstag ist, ein Schnitzmesser krieg’. Ich will dir auch ein Lied pfeifen, ganz für dich allein.«

    Als sie den dämmerdunklen Friedhof verließen, wandte Ambrosius sich noch einmal, da sah er seine Kerze leuchten und ihm war, als müsste ihr Schein hinter die Wolken reichen, dem unbekannten Ahn zum Gruße und ihm selbst zum Trost, denn Trost hatte er nötig. Je näher der 7. Dezember rückte, umso unruhiger wurde er. Nichts deutete darauf hin, dass auch nur einer seinen sehnlichsten Wunsch bemerkt oder gar danach gefragt hätte. Dabei hatte er sogar einmal gewagt, von einem Schnitzmesser zu reden, aber die Mutter hatte ihn angeschaut, den Kopf geschüttelt und gemeint: »Bub, wo denkst du hin, ein Schnitzmesser ist viel zu teuer, von dem, was das kostet, könnt’ ich für uns alle eine Woche Krapfen backen.« Da hat er geschwiegen und ist still hinaus zur Arve gegangen. Drin in der Stube aber war es plötzlich hell und warm, denn der Barthel und die Fränzi lachten sich fröhlich an.

    Und dann war er endlich da, der Ambrosiustag. Er fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag, und Ambrosius wurde acht Jahre alt. Schon am frühen Morgen weckte ihn eine ungewohnte Unruhe. In der großen Stube huschte und kicherte es durcheinander und von der Küche her zog der Duft von Gebackenem durch das Haus. Ambrosius lag im Bett vergraben, denn ihn fror vor lauter Aufregung. Als er den schweren Schritt des Vaters auf der Treppe hörte, presste er die Augen zu und stellte sich schlafend. Leise knarzte die Kammertür, auf Strümpfen schlich sich der Vater an sein Bett, strich ihm über den Kopf und sagte: »Aufstehen, Ambrosius, Geburtstag ist, fahr’ schnell in die Hosen, wir warten alle auf dich.«

    Zitternd machte er sich fertig, zitternd betrat er die Stube, licht war es hier, als brennten hundert Kerzen, dabei war es nur eine, aber ihre Flamme tanzte und funkelte auf etwas, was da neben seinem Teller lag. Ihm wurde heiß und kalt und von weit her drang die Stimme des Vaters zu ihm: »Ambrosius, net träumen, nun nimm es schon, es ist dein.«

    Da griff er danach, seine Finger schlossen sich darum, als wollten sie es nie wieder loslassen, sein Schnitzmesser, das Erste, das Ersehnte! Als er zu den Eltern aufblickte, ihnen Dank sagen wollte, konnte er kein Wort herausbringen, weil ihm der Hals zugeschnürt war, nur seine Augen strahlten sie an. Nun hatte er ein Messer, aber kein Weidenstöckchen, denn im Winter war das Holz gefroren. Doch das Messer war da, das Messer war unruhig und wollte schnitzen. Jetzt fiel ihm ein, was die Mutter vom Ahn Ambrosius erzählt, und dass der eine Muttergottes geschnitzt hatte. Eine Maria? Nein, das getraute er sich nicht, aber vielleicht könnte er der Mutter eine Schaufel schnitzen für das Mehlfass und dem Vater eine Schale für die Sackuhr, damit sie ihren Platz hatte und nicht überall herumlag.

    So verging die Adventszeit mit heimlicher Arbeit, und noch nie hatte sich Ambrosius so auf das Fest gefreut wie in diesem Jahr, war es doch das erste Mal, dass er den Eltern etwas Richtiges schenken konnte.

    Einmal in der Woche fuhr ihn der Vater des Nachmittags mit dem Hörnerschlitten hinab ins Dorf, weil Lehrer und Pfarrherr sich etwas Besonderes ausgedacht. Die Schulkinder sollten zur Christnacht in der Kirche alte Marienlieder singen und der Gesang des Engels auf den Hirtenfeldern, der Gesang musste das Schönste werden von allem.

    »Ambrosius du singst uns den Hirtenengel. Traust du dich, vor allen Leuten allein zu singen?«

    Ruhig blickte das Kind zum Pfarrer auf: »Aber Hochwürden, ich sing doch einen Engel, da muss ich doch keine Angst haben.«

    »Recht hast, war eine dumme Frage von mir. Aber jetzt schau her, ich will dich was lehren.« Umständlich klaubte er ein Heft aus seiner Schublade und legte es vor Ambrosius hin: »Weißt du, was das ist?«

    »Es sieht aus wie lauter Wetterfahnen. Zu was malt einer soviel Wetterfahnen und alle gleich?«

    »Das sind keine Wetterfahnen, Bub, das sind Noten. Das sind Buchstaben zum Musikmachen. Weißt du, wie man Buchstaben braucht zum Geschichtenlesen, so braucht man auch Buchstaben zum Musizieren. Und die nennt man Noten.«

    Ungläubig schaute Ambrosius auf die vielen schwarzen Punkte und Zeichen und zweifelnd fragte er: »Und wenn man die alle lesen kann, dann wird da ein Lied draus?«

    »So ist es. Das was du hier siehst, ist das Lied vom Hirtenengel, den du singen sollst.«

    Nun musste Ambrosius doch lachen, glucksend brach es aus ihm heraus: »Vater Winfried, ich glaub euch viel, alles, was ihr in der Betstunde erzählt. Aber dass die Wetterfahnen ein Lied sind, das glaub ich euch net. Wo ist denn der Engel? Ich muss doch einen Engel schauen, wenn ich ihn singen soll.«

    Seufzend klappte Hochwürden Winfried das Heft zu, nahm das Kind bei der Hand und sagte: »Komm mit in die Kirche zur Orgel, damit du hörst, dass ich keine Lüg’ erzähl.« Und dort auf der Orgelbank erlebten die beiden eine Überraschung, jeder auf seine Weise. Ambrosius vernahm voller Staunen, wie aus den Wetterfahnen das Lied des Hirtenengels wurde. Und Vater Winfried? Ja, dem sanken die Hände von den Orgeltasten, denn nachdem er geendet, trat Ambrosius an die Brüstung der Empore und, den Blick fest auf den geschnitzten Engel gerichtet, der vom nächsten Pfeiler zu ihm her sah, sang er das Engellied, fehlerlos, keine Pause war zuviel, keine zu wenig. Klar und rein schwang die Knabenstimme durch den Kirchenraum. Doch als der Pfarrer die letzte Notenseite umgeschlagen, sang Ambrosius weiter, er sang ein Halleluja so schön, als käme es geradewegs aus dem Himmel. »Wo nimmst du denn das Halleluja her, das steht nicht in meinem Buch?«

    Stumm deutete Ambrosius auf den Engel und antwortete: »Ich hab Euch doch gesagt, Hochwürden, ich muss einen Engel schauen, wenn ich ihn singen soll.«

    Als sie über den verschneiten Kirchhof zum Pfarrhaus stapften, meinte der Pfarrer: »Ja, Ambrosius, was wird jetzt aus meinen Notenköpfen?«

    »Ich werd’ sie lernen, Euch zuliebe, Vater Winfried, aber zum Singen, da brauch ich sie net.«

    Als am Abend der Pfarrherr in seinem Brevier las, gingen ihm vielerlei Gedanken durch den Kopf und ein paar davon hat er sich aufgeschrieben.

    In der Christnacht war die kleine Kirche voll bis zur letzten Ecke. Wunderschön hatten die Kinder gesungen, nur die Predigt des Pfarrers, die war ungewöhnlich, nie zuvor hatte die Gemeinde dergleichen

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