Warum Sparen in der Bildung teuer ist: Folgekosten unzureichender Bildung für die Gesellschaft
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Über dieses E-Book
Die Ergebnisse machen deutlich: Allen Kindern und Jugendlichen faire Bildungschancen zu eröffnen, ist eine der Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Das sind wir jedem einzelnen Heranwachsenden schuldig. Ein chancengerechtes Bildungssystem ist aber auch die beste präventive Sozialpolitik. Welche Reformen dazu nötig sind und wie wirksamer in Bildung investiert werden kann, skizzieren die Autoren und zeigen Lösungswege auf.
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Buchvorschau
Warum Sparen in der Bildung teuer ist - Verlag Bertelsmann Stiftung
Stiftung
1. Unzureichende Bildung in Deutschland – Definition und Bedeutung
Unzureichende Bildung in Deutschland
Antje Funcke, Sarah Menne
Einleitung
Bildung ist in der heutigen Wissensgesellschaft Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben in ökonomischer Unabhängigkeit. Jeder Einzelne ¹ profitiert von einer qualitativ hochwertigen Bildung und auch für die Gesellschaft als Ganzes ist Bildung enorm wichtig: Sie schafft Innovationspotenziale und langfristiges Wirtschaftswachstum, erhöht auf lange Sicht die staatlichen Einnahmen, verringert Kosten im Bereich von Kriminalität und wirkt sich auf Gesundheit und Gesundheitsverhalten aus – das zeigen die Beiträge in diesem Buch. Doch in unserem Land werden viele junge Menschen nicht so gefördert, dass sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Vielen gelingt es nicht, ein Mindestmaß an schulischer und beruflicher Bildung zu erlangen, das die Voraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am Arbeitsmarkt ist. Je nach Definition sind bis zu einem Fünftel aller jungen Menschen von unzureichender Bildung betroffen.
Doch woran lässt sich unzureichende Bildung überhaupt erkennen? Wann ist ein junger Mensch für die Anforderungen in unserer Gesellschaft nicht ausreichend gebildet? Bildung lässt sich generell entweder an Kompetenzen festmachen oder aber an Zertifikaten bzw. Bildungsabschlüssen:
• Grundlegende kognitive Kompetenzbereiche (wie Lesekompetenz, mathematische Kompetenz und naturwissenschaftliche Kompetenz) wurden in internationalen Vergleichsstudien – wie den PISA-Studien – gemessen. Als Ergebnis liefern diese Studien Kompetenzprofile von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den einzelnen Bereichen. Sie bilden ab, was bzw. wie viel bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelernt wurde (also die Bildungsqualität im Gegensatz zur Bildungsquantität). Anhand einer Kompetenzskala oder verschiedener Kompetenzstufen kann dann unterschieden werden, ob die 15-Jährigen über geringe/unzureichende oder aber gute bis sehr gute Fähigkeiten verfügen.
• Ein Zertifikat über einen Schul- oder Ausbildungsabschluss bescheinigt den Absolventen ein bestimmtes Maß an Leistungsfähigkeit bzw. ein gewisses Qualifikationsniveau. Diese Zertifikate dienen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt als wichtiges Signal: Da es Arbeitgebern kaum möglich ist, die tatsächlichen Kompetenzen ihrer Bewerber zu prüfen, orientieren sie sich in Deutschland sehr stark an Zertifikaten. Von Vorteil sind dabei das stark differenzierte Schul- und Ausbildungssystem sowie die verhältnismäßig hohe Standardisierung im deutschen Bildungssystem. Beide Faktoren tragen dazu bei, dass Arbeitgeber anhand eines Bildungsabschlusses recht gut einschätzen können, über welche Qualifikationen und welches Wissen die jeweiligen Bewerber verfügen (Giesecke, Ebner und Oberschachtsiek 2010: 423). Viele Bereiche des Arbeitsmarktes und der weiterführenden Bildung stehen daher einem Bewerber nur dann offen, wenn er bestimmte Schul- und/ oder Ausbildungsabschlüsse vorweisen kann. In anderen Bereichen werden Bewerber mit höheren Abschlüssen zumindest bevorzugt eingestellt. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass junge Menschen, die nicht über einen Schul- und/oder Ausbildungsabschluss verfügen, deutlich beeinträchtigte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben werden und sich nur schwer ein kontinuierliches und sicheres Erwerbsleben aufbauen können (vgl. dies.: 435).
Diese beiden Möglichkeiten, Bildung zu messen und unzureichende Bildung zu definieren, machen es schwer, eine einzige und eindeutige Definition für unzureichende Bildung zu finden. Zu Beginn des Projektes »Folgekosten unzureichender Bildung« war es zwar unser Ziel, mit einer einheitlichen Definition zu arbeiten, doch schnell wurde deutlich, dass das weder sinnvoll noch machbar ist. Vielmehr musste die Definition unzureichender Bildung jeweils daran angepasst werden, was untersucht werden sollte und in welchem Kontext welche Art der Definition am sinnvollsten anzuwenden ist. Auch hätte nur eine Definition nicht die Realität und Vielschichtigkeit unseres Bildungssystems ausreichend widerspiegeln können. Schließlich mussten wir auch aus rein praktischen Gründen auf bestimmte Definitionen zurückgreifen, da die jeweils benötigten Daten nicht immer verfügbar waren.
Im Projekt »Folgekosten unzureichender Bildung« wurde daher mit drei Definitionen unzureichender Bildung gearbeitet: (1) Kompetenzorientiert werden sogenannte Risikoschüler als unzureichend gebildet definiert, die bei den PISA-Studien nicht über die unterste Kompetenzstufe hinausgekommen sind. Mit Blick auf erlangte Zertifikate wurden (2) Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss und (3) junge Erwachsene ohne Ausbildungsabschluss als unzureichend gebildet eingestuft. Welche Definition in welchen Studien zugrunde gelegt wurde, wird jeweils in den einzelnen Beiträgen in diesem Buch von Allmendinger, Giesecke und Oberschachtsiek, Entorf und Sieger, Wößmann und Piopiunik sowie Mielck, Lüngen, Siegel und Korber begründet.
Das Ausmaß unzureichender Bildung in Deutschland
Um das Ausmaß unzureichender Bildung in Deutschland und damit die gesellschaftliche Bedeutung dieses Problems aufzuzeigen, soll an dieser Stelle aber bereits ein kurzer Gesamtüberblick über die drei Definitionen gegeben werden. Dazu werden die einzelnen Konzepte kurz vorgestellt und die wichtigsten Daten und Fakten benannt.
Risikoschüler in PISA-Studien und Bundesländervergleichsstudien
In den PISA-Vergleichsstudien werden grundlegende Kompetenzen von 15-Jährigen anhand standardisierter Kompetenztests gemessen. Auch die seit 2008/2009 neu für die Bundesländer eingeführten Ländervergleiche (vgl. Köller, Knigge und Tesch 2010) des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) untersuchen die Kompetenzstände von Schülern der neunten Jahrgangsstufe in Deutschland mithilfe standardisierter Testinstrumente.
Die OECD und das deutsche PISA-Konsortium unterscheiden anhand der Ergebnisse in den Leistungstests fünf bis sechs Kompetenzstufen und versuchen auf diesem Wege, die ziemlich abstrakte Kompetenzskala mit inhaltlichen Vorstellungen zu füllen (vgl. etwa PISA-Konsortium Deutschland 2005: 53 ff. oder OECD 2010: 46 ff.). Dabei wird die mathematische Grundbildung von Schülerinnen und Schülern auf der Kompetenzstufe I folgendermaßen beschrieben: »Sie können arithmetisches und geometrisches Wissen, wie es in der Grundschule vermittelt wird, in vertrauten Aufgabenstellungen anwenden […]. Damit sind sie z. B. nicht in der Lage, typische mathematische Aufgaben für Ausbildungsplatzbewerber zu lösen. Die Schülerinnen und Schüler auf Kompetenzstufe I müssen demnach im Hinblick auf ihre weiteren Bildungs- und Berufschancen als Risikogruppe angesehen werden« (Baumert et al. 2001: 168 f.). Auch mit Blick auf die Lesekompetenz zeichnen Klieme et al. (2010) ein düsteres Bild für die Zukunftsaussichten von Jugendlichen, die die Kompetenzstufe I (bzw. Ia bei der PISA-Studie 2009) nicht überschreiten. Ihrer Meinung nach »[…] muss auf der Basis dessen, was diese Jugendlichen im Lesen bei PISA (nicht) meistern, davon ausgegangen werden, dass sie nur unzureichend auf eine Ausbildungs- und Berufslauf bahn in der Wissensgesellschaft vorbereitet sind« (Klieme et al. 2010: 63).
Diese Beschreibungen machen deutlich, dass das Erreichen von höchstens der Kompetenzstufe I in den PISA-Studien eine Möglichkeit ist, unzureichende Bildung zu definieren. In Deutschland lag der Anteil der Risikoschüler im Bereich Lesen im Jahr 2000 bei 23 Prozent, in der mathematischen Grundbildung bei rund 24 Prozent (siehe Baumert et al. 2001). Zehn Jahre später bescheinigte die jüngste PISA-Studie Deutschland zwar leicht verbesserte Leistungen, doch der Anteil der Risikoschüler liegt immer noch bei beachtlichen 18,5 Prozent im Bereich Lesen und 18,6 Prozent im Bereich Mathematik (vgl. Klieme et al. 2010). Somit können hierzulande nach wie vor fast ein Fünftel der 15-Jährigen nur auf Grundschulniveau lesen und rechnen.
Im Bundesländervergleich zeigen sich dabei erhebliche Unterschiede. Im Jahr 2000 reichte die Spannbreite des Anteils der 15-jährigen Risikoschüler im Bereich Lesen von 14,5 Prozent in Bayern bis 36 Prozent in Bremen (vgl. Baumert et al. 2002: 72). Dabei war der Anteil der Risikoschüler in allen Ländern sehr hoch: In sieben von vierzehn an den PISA-Studien teilnehmenden Bundesländern (Hamburg und Berlin nahmen 2000 nicht teil) erreichten mehr als ein Viertel der Schüler höchstens die Kompetenzstufe I im Bereich Lesen.
Auch bei PISA 2006 – dem letzten Bundesländervergleich auf Basis der PISA-Erhebungen – waren die Unterschiede zwischen den Bundesländern sehr deutlich: Während der Anteil der Risikoschüler in Sachsen bei der Lesekompetenz mit 11,9 Prozent vergleichsweise klein war, gehörten in zehn Ländern über ein Fünftel der Jugendlichen zur Gruppe der Risikoschüler, in drei Ländern ein Viertel (vgl. Prenzel et al. 2008).
Für die aktuellen Zahlen des IQB-Ländervergleichs 2008/2009 (siehe Köller, Knigge und Tesch 2010) liegen keine vergleichbaren Berechnungen vor, die den Anteil der Risikoschüler ausweisen. Ein Blick auf die Daten zeigt jedoch, dass die großen Länderunterschiede auch bei den jüngsten Vergleichstests bestehen: In Brandenburg, Hamburg, Berlin und Bremen lagen die erzielten Leseleistungen signifikant unter dem deutschen Mittelwert – Neuntklässler in Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg erzielten hingegen Leseleistungen, die signifikant über dem deutschen Mittelwert lagen (vgl. dies.: 89).
Bildungschancen sind hierzulande aber nicht nur regional ungleich verteilt. Auch die soziale und ethnische Herkunft hat einen erheblichen Einfluss auf die Kompetenzen – das haben die PISA-Studien ebenfalls deutlich gezeigt. Jugendliche mit Migrationshintergrund schneiden beim Lesen im Schnitt 20 Punkte schlechter ab als ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund; das entspricht einem halben Schuljahr. Kinder und Jugendliche, deren Eltern der oberen Dienstklasse angehören, erzielen im Schnitt 75 Punkte mehr als die Töchter und Söhne un- oder angelernter Arbeiter – ein Abstand von knapp zwei Schuljahren. Die Differenz betrug jedoch im Jahr 2000 noch 106 Punkte. Bei der Lesekompetenz haben Mädchen gegenüber Jungen einen klaren Vorteil von 40 PISA-Punkten, also von etwa einem ganzen Schuljahr. Umgekehrt ist es bei den Mathematikfähigkeiten: Hier liegen die Jungen vor den Mädchen (vgl. Klieme et al. 2010).
Betrachtet man die sprachlichen Kompetenzen mithilfe des IQB-Ländervergleichs 2009 (siehe Köller, Knigge und Tesch 2010), zeigen sich ganz ähnliche Leistungsunterschiede je nach ethnischer oder sozialer Herkunft. Diese Unterschiede gibt es in allen Bundesländern, sie sind jedoch nicht überall gleich stark ausgeprägt. Jungen schneiden bei der Orthografie in allen Bundesländern schlechter ab als Mädchen, in anderen Bereichen des Spracherwerbs sind die Differenzen nicht in allen Bundesländern signifikant.
Zusammengefasst erwerben in Deutschland nach wie vor zu wenige Jugendliche in ihrer Schullauf bahn die Kompetenzen, die sie für eine Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsmarkt benötigen. Das zeigen die internationalen und nationalen Vergleiche sehr deutlich. Auch wenn seit PISA 2000 erste positive Entwicklungen abzulesen sind, lassen wir im Bildungssystem noch immer zu viele Jugendliche unzureichend gebildet zurück. Besonders problematisch ist der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, der im deutschen Bildungssystem bisher nicht überwunden werden konnte.
Inwieweit es den Jugendlichen gelingt, für die Wissensgesellschaft notwendige Kompetenzen später noch zu erwerben, kann anhand einer kompetenzorientierten Betrachtung nicht beurteilt werden, da bisher keine Kompetenzmessungen ins Erwachsenenalter hinein erfolgen (die PIAAC-Studie der OECD wird hierzu evtl. erste Ergebnisse liefern). Erkenntnisse mit Blick auf die weitere Bildungsbiografie können daher nur auf der Grundlage von Bildungsabschlüssen bzw. Zertifikaten gewonnen werden. Im Folgenden geht es deshalb um Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und später um junge Erwachsene ohne Ausbildungsabschluss.
Jugendliche ohne Hauptschulabschluss
Im Sommer 2010 verließen deutschlandweit etwa 53.000 junge Menschen die allgemeinbildenden Schulen ohne einen Hauptschulabschluss – das sind 6,5 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung² (vgl. KMK 2011). Noch 2008 waren rund 65.000 junge Menschen bzw. 7,4 Prozent betroffen (vgl. dies.). Grund zur Entwarnung besteht jedoch aufgrund der immer noch besorgniserregend hohen Zahlen nicht.
Abbildung 1: Anteile der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in den Bundesländern, 2008 und 2010
Quelle: KMK (2011)
Der Anteil der jungen Menschen ohne Hauptschulabschluss variiert deutlich von Bundesland zu Bundesland zwischen 5,2 Prozent in Baden-Württemberg und 13,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern (vgl. dies.; Abb. 1). In dem nördlichen Bundesland ist es jedoch gelungen, die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss deutlich zu verringern: von 15,8 Prozent im Jahr 2008 auf 13,8 Prozent 2010. In vielen anderen Bundesländern konnten meist ebenfalls leichte Verbesserungen verbucht werden.
Abbildung 2: Anteile der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in den Bundesländern 2009, Durchschnittswert und Spannbreite in den Regionen
Quelle: Bertelsmann Stiftung, eigene Berechnungen nach www.regionalstatistik.de
Unterschiedliche Chancen auf einen Schulabschluss sind noch stärker zu erkennen, wenn man die Kreisebene heranzieht und einzelne Städte und Landkreise miteinander vergleicht (Abb. 2). Für diesen Vergleich mussten die Daten aus dem Jahr 2009 herangezogen werden – aktuellere Daten für das Jahr 2010 lagen noch nicht vor. Die Quoten der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss – gemessen an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung – bewegten sich in den Landkreisen zwischen 1,3 Prozent im Landkreis Würzburg und 25 Prozent in der kreisfreien Stadt Wismar. In knapp einem Viertel der über 410 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland gingen mehr als zehn Prozent der Schüler ohne Hauptschulabschluss von der Schule ab – in 19 Kreisen sogar mehr als 15 Prozent. Bereits 2008 konnten auf Kreisebene ähnlich gravierende Unterschiede beobachtet werden; damals variierten die Werte zwischen 2,6 und 22,4 Prozent (siehe Klemm 2010a). Interpretiert und bewertet werden können die regionalen Ergebnisse allerdings nur vor Ort mit Kenntnis der spezifischen Rahmenbedingungen, Pendlerbewegungen und Entwicklungen.
Von den Jugendlichen, die im Jahr 2010 die allgemeinbildenden Schulen ohne einen Hauptschulabschluss verlassen haben, stammten mehr als die Hälfte (57,1 %) aus Förderschulen und etwa ein Viertel (25,2 %) aus Hauptschulen. Die übrigen rund 18 Prozent kamen aus anderen Schulformen der Sekundarstufe I (Abb. 3).
Abbildung 3: Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss nach abgebenden Schulen im Jahr 2010/11
Quelle: Statistisches Bundesamt (2010/11), eigene Berechnungen
Je nach Bundesland verlassen zwischen 56,5 Prozent und 96,6 Prozent der Förderschüler die Schule ohne einen Hauptschulabschluss (siehe Klemm 2010a). Ein einmal in die Förderschule eingestuftes Kind hat damit in manchen Bundesländern praktisch keine Chance, am Ende seiner Schullaufbahn einen Hauptschulabschluss vorzuweisen. Diese Daten geben einmal mehr Anlass dazu, das separierende Förderschulsystem zu hinterfragen. Trotz ausgezeichnet qualifizierter Lehrkräfte an Förderschulen und kleiner Klassen gelingt es in den dortigen Schulmilieus offensichtlich nicht, die Schüler zu einem Hauptschulabschluss zu befähigen. Der Weg zu einem inklusiven Bildungssystem, in dem jedes Kind individuell und wertschätzend gefördert und unterstützt wird, erscheint aus diesem Grund unerlässlich, wenn die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss deutlich reduziert werden soll. Doch auch beim Ausbau des gemeinsamen Unterrichts kommen die Bundesländer sehr unterschiedlich voran (siehe Klemm 2010b).
Letztlich macht die Verteilung der Jugendlichen ohne Schulabschluss auf die einzelnen Schulformen aber deutlich, dass Reformen, die auf eine gute individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes abzielen, im ganzen Bildungssystem und über alle Schulformen hinweg notwendig sind. Dafür spricht auch, dass ein nicht unbedeutender Teil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss die allgemeinbildenden Schulen schon vor der neunten bzw. in Ländern mit einer zehnjährigen Schulbesuchspflicht vor der zehnten Jahrgangsstufe verlässt. Je nach Bundesland sind dies bei neunjähriger Schulpflicht zwischen 13,4 und 32,5 Prozent, bei zehnjähriger Schulpflicht zwischen 39,2 und 62 Prozent (siehe Klemm 2010a). Auf Anzeichen von Schulfrust und Schulverweigerung sollte daher in allen Schulformen rechtzeitig reagiert werden. Jedes Kind und jede/r Jugendliche braucht Wertschätzung – in schwierigen Entwicklungsphasen, bei Lernproblemen und auch wenn familiäre Probleme zu bewältigen sind.
Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf Schülerinnen und Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit zu richten. Von ihnen bleibt im Vergleich zu Jugendlichen mit deutscher Staatsangehörigkeit ein mehr als doppelt so hoher Anteil ohne Hauptschulabschluss. Im Jahr 2010 erlangten 12,8 Prozent der ausländischen Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss im Vergleich zu 5,4 Prozent bei den Abgängern mit deutscher Staatsangehörigkeit (siehe Statistisches Bundesamt 2011). Darüber hinaus sind unabhängig von der Nationalität Jungen stärker betroffen als Mädchen.
Jugendliche ohne Hauptschulabschluss sind ohne Zweifel unzureichend auf ihr weiteres Leben und den Eintritt in eine Berufsausbildung vorbereitet. Sie werden kaum einen Ausbildungsplatz finden und über ihr gesamtes Berufsleben hinweg einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko ausgesetzt sein. Falls sie erwerbstätig werden, müssen sie mit einem niedrigen Einkommen über ihre komplette Erwerbsbiografie hinweg rechnen. Im Ergebnis sind diese Jugendlichen damit auch mit Blick auf ihre sozialen Teilhabechancen in der Gesellschaft deutlich eingeschränkt. Ziel der Bildungspolitik muss es daher sein, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss deutlich zu reduzieren.
Auch wenn es etwa der Hälfte der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss zu einem späteren Zeitpunkt gelingt, einen Schulabschluss (z. B. im Übergangssystem) nachzuholen (siehe Klemm 2010a), kann das keine dauerhaft akzeptable Lösung sein. Sicher ist es ausgesprochen positiv zu bewerten, dass diese Maßnahmen angeboten werden und Jugendliche diese Chance nutzen. Ziel müsste es aber sein, die Demotivation und Frustration von Kindern und Jugendlichen in der Schule zu vermeiden, ebenso wie den Verlust wertvoller Lebenszeit. Zudem erfordern diese Maßnahmen der Nachqualifizierung zusätzliche Bildungsausgaben. Dieses Geld sollte lieber frühzeitig präventiv investiert werden, um dann einen möglichst reibungslosen Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf zu ermöglichen. Gelingt dies nicht, ist die Gefahr sehr hoch, dass die jungen Menschen dauerhaft ohne Ausbildungsabschluss bleiben – mit Folgen für ihr ganzes weiteres Leben.
Junge Erwachsene ohne Ausbildungsabschluss
In Deutschland fehlte im Jahr 2007 1,5 Millionen jungen Erwachsenen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren die Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration ins Erwerbsleben: Ihnen ist es nicht gelungen, einen Ausbildungsabschluss zu erwerben. Das entspricht einem Anteil von 15,4 Prozent in dieser Altersgruppe. Und jedes Jahr verlassen nach wie vor rund 150.000 junge Menschen unsere Bildungs-und Ausbildungssysteme ohne einen Abschluss (siehe Allmendinger, Giesecke und Oberschachtsiek 2011). Dabei gibt es in Deutschland nach der allgemeinen Schule sehr viele Wege, die zu einem beruflichen Abschluss führen können: die duale Ausbildung, voll qualifizierende Angebote des Schulberufssystems sowie das Übergangssystem, welches den Weg in eine Ausbildung ebnen soll.
Auch bei den jungen Erwachsenen ohne Ausbildungsabschluss gibt es wieder nennenswerte Unterschiede zwischen den Bundesländern (Abb. 4). Während in Sachsen rund sieben Prozent der 25- bis 34-Jährigen keinen Ausbildungsabschluss erlangen konnten, sind im Saarland und in Bremen über 20 Prozent der jungen Erwachsenen betroffen. Auch in Nordrhein-Westfalen ist der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Ausbildungsabschluss mit 19,5 Prozent sehr hoch (vgl. dies.: 45 f.).
Abbildung 4: Anteil junger Erwachsener ohne Ausbildungsabschluss in den Bundesländern, differenziert nach Bildungsgruppen
Quelle: Allmendinger, Giesecke und Oberschachtsiek (2011)
Schlechte Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben vor allem junge Menschen ohne Hauptschulabschluss. Doch auch ein Schulabschluss garantiert heutzutage nicht mehr den reibungslosen Übergang in eine Ausbildung. Von den 1,5 Millionen jungen Menschen ohne Ausbildungsabschluss haben 22 Prozent keinen Schulabschluss, 52 Prozent besitzen einen Hauptschulabschluss und 26 Prozent sogar einen Realschulabschluss (siehe Abbildung 4). Weitere Analysen zeigen, dass der Anteil der Realschüler ohne Ausbildungsabschluss seit Mitte der 1990er Jahre zugenommen hat und dass selbst eine beträchtliche Zahl an (Fach-)Abiturienten mittlerweile ohne Ausbildungsabschluss bleibt (siehe Funcke, Oberschachtsiek und Giesecke 2010).
In einer Wissensgesellschaft ist eine abgeschlossene berufliche Ausbildung die Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt. Junge Erwachsene ohne Ausbildungsabschluss sind seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend von Arbeitslosigkeit bedroht (siehe dies.). Allerdings trifft diese Entwicklung nicht alle Personen ohne Berufsausbildung gleichermaßen, sondern vor allem junge Erwachsene, die einen Schulabschluss unterhalb der (Fach-)Hochschulreife besitzen (Tabelle 1 zeigt das am Beispiel Westdeutschlands).
Der Anteil der teil- und vollzeitbeschäftigten jungen Erwachsenen mit beruflichem Abschluss ist im Vergleich zu den 25- bis 34-Jährigen ohne Ausbildungsabschluss deutlich höher. Zudem ist der Anteil an erwerbslosen Personen mit Ausbildungsabschluss im Vergleich zu den Bildungsgruppen ohne beruflichen Abschluss eindeutig niedriger. Das gilt vor allem für Männer. Frauen ohne beruflichen Abschluss ziehen sich sehr oft komplett vom Arbeitsmarkt zurück: So gehörten beispielsweise von den Frauen ohne Schul- und Ausbildungsabschluss 2007 über die Hälfte (52,9 %) zur Gruppe der Nichterwerbspersonen, von den Frauen mit Realschul-, aber ohne Ausbildungsabschluss immerhin 31,5 Prozent. Im Vergleich dazu blieben nur 12,3 Prozent der Realschulabsolventinnen mit beruflichem Abschluss dem Arbeitsmarkt fern.
Tabelle 1 : Erwerbsstatus von 25- bis 34-Jährigen in Westdeutschland nach Schul- und Berufsabschluss
Quelle: Mikrozensus (1996, 2004 und 2007), eigene Berechnungen, hochre chnungauf die gesamtpopul ation
Betrachtet man die Entwicklung von 1996 bis 2007, so zeigt sich: Innerhalb eines Jahrzehnts sind die Chancen einer Voll- oder Teilzeiterwerbstätigkeit für alle Personen – Männer wie Frauen – ohne Berufsabschluss deutlich gesunken. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse haben hingegen bei den jungen Erwachsenen ohne Ausbildungsabschluss an Bedeutung gewonnen und auch das Erwerbslosigkeitsrisiko ist für diese Gruppe angestiegen.
Insgesamt haben sich die Risiken einer Marginalisierung und Exklusion aufgrund fehlender beruflicher Ausbildung auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt in den letzten Jahren verstärkt. Wie in der Literatur mittlerweile umfassend belegt ist, haben vor allem 25- bis 34-Jährige ohne Ausbildung und ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss gravierende Probleme, am Arbeitsmarkt teilzuhaben (vgl. z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010; Reinberg und Hummel 2007; Solga 2009). Die Daten machen deutlich, dass auch Realschulabsolventen, denen es nicht gelungen ist, eine Ausbildung abzuschließen, zunehmend von diesem Risiko betroffen sind. Ihre Probleme bei der Integration in den Arbeitsmarkt sind vergleichbar mit denen von Hauptschulabsolventen ohne Ausbildungsabschluss. Ein höherwertiger Schulabschluss wie der Realschulabschluss schützt, wenn er nicht mit einer erfolgreich abgeschlossenen beruflichen Ausbildung kombiniert wird, offenbar nicht davor, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden. Erst (Fach-)Abiturienten haben auch ohne beruflichen Abschluss ein erheblich geringeres Risiko der Arbeitslosigkeit und damit der Exklusion vom Arbeitsmarkt.
Junge Erwachsene ohne beruflichen Abschluss oder Abitur sind daher als unzureichend gebildet zu bezeichnen – selbst wenn sie einen Realschulabschluss vorweisen können. Gerade wenn es darum geht, Themenfelder zu beleuchten, in denen die beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabechancen im Mittelpunkt stehen, sollte deshalb diese Definition von unzureichender Bildung gewählt werden. Denn das Fehlen eines Ausbildungsabschlusses hat für die gesamte Erwerbsbiografie, das gesamte weitere Leben in der Gesellschaft erhebliche Folgen.
Fazit
Ganz egal, wie man unzureichende Bildung definiert – sie hat in Deutschland ein Ausmaß angenommen, das es dringend abzubauen gilt. Nicht alle jungen Menschen sind gleichermaßen davon betroffen: Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien und/oder mit Migrationshintergrund gehören häufiger als andere zur Gruppe der unzureichend Gebildeten. Auch regional ist unzureichende Bildung nicht gleich verteilt – sowohl hinsichtlich der Schulabbrecherquoten als auch der PISA-Leistungen gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Aktuell lassen wir es zu, dass soziale, kulturelle und regionale Herkunft in Deutschland maßgeblich über die Bildungschancen von Kindern entscheiden. Einerseits geht es hier um die persönlichen Schicksale der betroffenen jungen Menschen: Sie finden deutlich seltener einen Job als ihre besser gebildeten Altersgenossen, haben schlechtere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben in ökonomischer Unabhängigkeit und können oft nur in geringerem Maße am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Andererseits betrifft das derzeitige Ausmaß unzureichender Bildung uns alle: Die gesamte Gesellschaft nimmt hohe Folgekosten in Kauf, wenn Jugendliche nicht ein Mindestmaß an sozioemotionalen und kognitiven Kompetenzen erwerben. Diese Folgekosten fallen in den unterschiedlichsten Bereichen an, wie etwa bei den öffentlichen Haushalten, durch entgangenes Wirtschaftswachstum oder im Sozialsystem. Zudem hat fehlende Bildung auch Konsequenzen für die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das zeigen die nachfolgenden Beiträge in diesem Band.
Unzureichende Bildung geht uns alle an: Wir sind als Gesellschaft gefragt, jedem Kind eine Chance auf Bildung