Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Inklusion: Damit sie gelingen kann: Die Rolle der Unterstützungssysteme
Inklusion: Damit sie gelingen kann: Die Rolle der Unterstützungssysteme
Inklusion: Damit sie gelingen kann: Die Rolle der Unterstützungssysteme
eBook333 Seiten3 Stunden

Inklusion: Damit sie gelingen kann: Die Rolle der Unterstützungssysteme

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention bemüht sich Deutschland, Inklusion auch in der Schule umzusetzen. Dieser Band zeigt, dass inklusive Schule dann besonders gut gelingt, wenn die Institution nicht auf sich allein gestellt, sondern Teil eines inklusiven Schulsystems ist, zu dem Unterstützungssysteme und sonderpädagogische Expertise mit großer Selbstverständlichkeit gehören.
Expert*innen aus Praxis, Wissenschaft und Gesellschaft zeigen, wie solche Unterstützungssysteme und Netzwerke aussehen können, und beantworten eine Vielzahl an Fragen: Wie haben sich diese Systeme entwickelt? Wie unterscheiden sie sich zwischen den Bundesländern? Welche Rolle spielen welche Anforderungen in Bezug auf unterschiedliche Förderschwerpunkte, verschiedene geografische und demografische Herausforderungen? Wie sehen praktische Beispiele aus? Welche Schlüsse lassen sich aus den diversen Beispielen und Entwicklungen ziehen? Welche Rolle kann Digitalisierung künftig spielen? Welche Entwicklungen sind in der Zukunft möglich und denkbar – systemisch, visionär und konkret?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2019
ISBN9783867938938
Inklusion: Damit sie gelingen kann: Die Rolle der Unterstützungssysteme

Ähnlich wie Inklusion

Ähnliche E-Books

Besondere Bildung für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Inklusion

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Inklusion - Verlag Bertelsmann Stiftung

    2019

    Einleitung

    Ina Döttinger

    »Inklusion: Damit sie gelingen kann. Die Rolle der Unterstützungssysteme« – das ist der Titel dieses Buches. Darin verbergen sich zwei Botschaften. Die erste Botschaft: Schulische Inklusion kann nur gelingen, wenn sie nicht in Isolation stattfindet und einzelnen Lehrkräften überlassen wird und wenn beachtet wird, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Unterstützung benötigen. Die zweite Botschaft ist: Schulische Inklusion kann nur gelingen, wenn diese Unterstützung selbstverständlicher Teil eines inklusiven Schulsystems wird.

    Die UNESCO (2007: 31) hat das so formuliert: »While all learners have needs (e. g. for appropriate teaching), they also have the right to participate fully in a common social institution (that is, a local mainstream school) that offers them a range of opportunities. Too often, parents are forced to choose between ensuring that their child’s needs are met (which sometimes implies placement in a special school or unit) and ensuring that they have the same rights and opportunities as other learners (which implies placement in a mainstream school). The goal should be to create an education system where these choices become unnecessary. This system should strive to support local schools and teachers by assisting them in developing their capacities, by providing equipment and materials, and by fostering collaboration across sectors.«

    Im Jahr 2009 hat sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet, ein solches inklusives Bildungssystem zu schaffen. Während in den meisten anderen europäischen Ländern die Regelform eine gemeinsame durchgängige Pflichtschulzeit oder zumindest ein gemeinsames Kerncurriculum sind, die sich über acht bis zehn Jahre erstrecken (European Commission 2018: 5 ff.), blieben in den deutschsprachigen Ländern bis heute vertikal gegliederte Schulstrukturen erhalten, mit verschiedenen Säulen ab der 5. oder 7. Klasse – traditionellerweise Hauptschule, Realschule und Gymnasium, dazu die Gesamtschule. Das in der DDR praktizierte Einheitsschulsystem war nach der Wende durch das westdeutsche, gegliederte Schulsystem ersetzt worden. Seit 2007 haben mehrere Bundesländer zweisäulige Systeme eingeführt, bestehend aus Gymnasium und Sekundarschule (oder mit anderer Bezeichnung); kein Bundesland hat die vertikale Gliederung bisher vollständig aufgegeben.

    Horizontal zu diesem System liegt das Sonderschulsystem, das in den meisten Bundesländern schon in der ersten Klasse beginnt, mit separaten Schultypen für bis zu neun unterschiedliche Förderbedarfe.

    In Kombination mit der Tatsache, dass alle 16 Bundesländer unterschiedliche Schulsysteme haben, bedeutet das für die schulische Inklusion, dass es bisher – Ausnahmen bestätigen die Regel – eher wenige systemische Erfahrungen sowohl mit der Entwicklung inklusiver Systeme als auch im Umgang mit ihnen gibt. Das liegt auch daran, dass die meisten Schulerfahrungen in separierender Praxis stattgefunden haben, vertikal wie horizontal. Beides erschwert die Gestaltung eines inklusiven Schulsystems im weiten Sinne, das auf Vielfalt eingestellt ist und alle Schüler*innen individuell fördert – mit der Erwartung und dem Ziel, dass sie sich so weit wie möglich kognitiv, emotional, sozial und praktisch entwickeln. Schon die Existenz der unterschiedlichen Sonderschultypen in Deutschland verleitet dazu, diesen weiten Inklusionsbegriff zu verengen auf Behinderung oder, schulspezifisch, »sonderpädagogische Förderbedarfe« (SpFB) und von schulischer Inklusion in erster Linie dann zu sprechen, wenn Kinder mit besonderen Bedarfen Regelschulen besuchen. Diese Spannung durchzieht auch diesen Band.

    Ziel dieses Buches ist daher, eine Brücke zu schlagen zwischen dem weiten und dem engen Inklusionsbegriff sowie auf der Grundlage ganz praktischer Erfahrungen zu zeigen, wie – auch wie vielfältig – systemische Unterstützung in verschiedenen Bereichen aussehen kann. Am Ende ergibt sich das Bild eines inklusiven Schulsystems als Teil einer inklusiven Gesellschaft, die Menschen aus allen Lebenslagen und mit unterschiedlichen Herausforderungen und Stärken gestalten.

    Das Buch besteht aus drei großen Teilen:

    Teil 1_Auf dem Weg zur schulischen Inklusion: Hintergründe, Entwicklung, Systematik

    Teil 2_Unterstützungssysteme: Praxis und Ableitungen

    Teil 3_Blick in die Zukunft

    Teil 1_Auf dem Weg zur schulischen Inklusion: Hintergründe, Entwicklung, Systematik: Schule existiert nicht in einem luftleeren Raum – sie ist immer Teil eines Systems und einer Entwicklung. Damit wir sehen können, wo Schule hingeht, wenn sie sich zum Teil eines inklusiven Systems entwickelt, ist es hilfreich zu verstehen, wo sie herkommt, wie sie sich zu ihrem Umfeld verhält und umgekehrt und welche Rolle geografische, politische und andere Umstände und Gegebenheiten spielen. Christine Pluhar und Ina Döttinger betrachten die Geschichte der Sonderschulen in Deutschland und den Beginn des gemeinsamen Unterrichts in seinen verschiedenen Formen, Ausprägungen und Entwicklungen. In einem zweiten Text widmen sie sich der Systematik der Unterstützungssysteme. Den Übergang zwischen beiden Texten bildet ein Interview von Eike Fischer mit Stephanie Pütz, die beschreibt, wie sie den Übergang von einem integrativen zu einem inklusiven System erlebt und auch mitgestaltet hat.

    Teil 2_Unterstützungssysteme: Praxis und Ableitungen: Wie können Unterstützungssysteme in einem inklusiven Schulsystem aussehen? Die Grundlage für diesen Teil bilden vier der Verbundspreisträger des Jakob Muth-Preises für inklusive Schule. Der Verbundspreis wird seit 2011/2012 verliehen, weil die Träger des Preises – der/die Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen, die Deutsche UNESCO-Kommission und die Bertelsmann Stiftung – ein Augenmerk auch auf die Unterstützungssysteme richten wollten, die inklusive Schule braucht.

    Den Anfang machen zwei Förderzentren ohne Schüler*innen für die Förderbedarfe Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache (LSE). Lars Krackert und Eike Fischer beschreiben das Konzept des Förderzentrums Schleswig-Kropp, und Wencke Schröder ergänzt dies durch einen Abriss zur Veränderung der Lehrer*innenrolle. Simone Bock und Niels Bünning erläutern die Netzwerkarbeit des Förderzentrums Husum. Dann folgt ein Blick auf das Landesförderzentrum Sehen (LFS) in Schleswig durch Josef Adrian, Ute Hölscher und Ina Döttinger, ergänzt um die Beschreibung eines Tages am LFS, ebenfalls von Ute Hölscher.

    Die Beschreibungen werden erweitert durch Porträts von Förderzentren im Rahmen des Jakob Muth-Preises – und durch das Porträt der Preisträgerin AG Inklusion an Oldenburger Schulen, die über spezifische Förderschwerpunkte hinaus Inklusion in einem weiten Verständnis sieht. Aus diesen Praxiserfahrungen leitet Ina Döttinger Schlussfolgerungen ab, wie umfassende Unterstützungssysteme als Teil eines inklusiven Schulsystems aussehen könnten.

    Teil 3_Blick in die Zukunft geht einen Schritt weiter. Julia Hense wirft einen Blick darauf, welche Rolle Digitalisierung auch bei schulischer Inklusion künftig spielt und wie Inklusion und Digitalisierung sich gegenseitig befruchten. Das Finale bildet die Verschränkung zweier sehr unterschiedlicher Texte, die einander ergänzen: der wissenschaftliche Text von Andreas Hinz, basierend auf seinen langjährigen wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen mit Integration und Inklusion, und der praxisbezogene Bericht von Mareice Kaiser aus der Perspektive einer Mutter von Kindern mit und ohne Behinderung. Zusammen bilden sie ab, wie inklusive Bildung und inklusives Familienleben im Kontext des sozialen Umfelds aussehen könnten.

    Die drei Hauptteile werden ergänzt von einem Anhang, in dem sich zum einen eine Checkliste von Christine Pluhar zur Entwicklung inklusiver Systeme sowie zusätzliche Materialien zu einzelnen Texten finden, zum anderen die Darstellung des Landesförderzentrums Hören und Kommunikation in Schleswig-Holstein als ein Beispiel eines Unterstützungssystems auf dem Weg.

    Wie inklusive Schule, so brauchen auch Bücher Unterstützungssysteme. Dieser Band wäre nicht möglich gewesen ohne den Gedanken von Christine Pluhar, dass es ihn dringend braucht und die sich unermüdlich für seine Umsetzung eingesetzt hat, ohne die Begleitung von Mareice Kaiser – und ohne die Unterstützung von vielen, die sich auf verschiedene Weisen eingebracht und ihn seit Beginn begleitet haben, durch Diskussionen zu Konzepten und Ideen, Hintergrundgespräche, Interviews und anderes mehr. Ihre Expertise hat den Band geprägt, auch wenn sie nicht alle selbst zu Wort kommen. Neben den Autor*innen geht deshalb ein besonderer Dank an: Matthias Dieter, Ludwig Gehlen, Stefanie Höfer, Nicole Hollenbach-Biele, Thomas Juhl, Eckhard Lück, Ilse Rudnick, Magdalena Stenzel, Rüdiger Vincenz. Ihnen und allen, die an diesem Buch mitgewirkt haben, sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.

    Jeder Text dieser Publikation kann für sich stehen. Der Wunsch der Autor*innen und Redaktion ist allerdings, dass die Beiträge auch im Zusammenhang gelesen und zueinander in Bezug gesetzt werden – und ihre Leser*innen dazu anregen und ihnen Mut(h) machen, den Weg zu einem inklusiven Schulsystem weiterzugehen.

    Literatur

    European Commission (2018). The Structure of the European Education Systems 2018/2019. Brüssel. https://eacea.ec.europa.eu/nationalpolicies/eurydice/sites/eurydice/files/the_structure_of_the_european_education_systems_2018_19.pdf (Download 9.7.2019).

    UNESCO (2017). A guide for ensuring inclusion and equity in education. Paris.

    Teil 1_Auf dem Weg zur schulischen Inklusion: Hintergründe, Entwicklung, Systematik

    Historischer Abriss: Von der Sonderschule zum gemeinsamen Unterricht

    Christine Pluhar, Ina Döttinger

    Vor mehr als 200 Jahren wurden die ersten deutschsprachigen Sonderschulen (für hör- und für sehgeschädigte Kinder) gegründet. Vor über 100 Jahren entstanden die ersten Hilfsschulen für Kinder mit Lernproblemen. Die Sonderpädagogik als eigenständiger Zweig der Pädagogik entstand und differenzierte sich in Fachrichtungen aus. Vor über 40 Jahren gab es in Deutschland die ersten Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern. Anschließend begann in allen Bundesländern der Prozess einer flächendeckenden Einführung der Integration bzw. des gemeinsamen Unterrichts und der Transformation der Sonderschulen zu ihren Unterstützungssystemen.

    Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK in Deutschland 2009) haben sich die Staaten zu einem inklusiven Schulsystem verpflichtet, in dem besondere Vorkehrungen für Kinder mit Behinderungen ergriffen werden. In diese besonderen Vorkehrungen sind in allen Ländern die Sonderschullehrkräfte und ihre Organisationsstrukturen (Förderzentren, Zentren für unterstützende Pädagogik u. Ä.) mit eingebunden. In diesem Kapitel wird in einem kurzen historischen Überblick – angelehnt an das Grundlagenwerk von Ellger-Rüttgardt (2008) – versucht, den Prozess der Einführung des gemeinsamen Unterrichts und der inklusiven Bildung nachzuvollziehen, zu bewerten und damit die Grundlage zu schaffen, um künftige Entwicklungen zu antizipieren.

    Von den ersten Sonderschulen zum flächendeckenden Sonderschulsystem

    Immer wieder gab es Berichte über die erfolgreiche Erziehung einzelner, meist adliger gehörloser oder blinder Kinder. Während der Aufklärung, Ende des 18. Jahrhunderts, wurden von Menschenfreunden (Philanthropen) die ersten Schulen für Gehörlose und für Blinde in Paris gegründet. Die ersten deutschsprachigen Schulen für taubstumme Kinder entstanden 1778 in Leipzig, 1779 in Wien und 1788 in Berlin, die ersten Blindenschulen 1804 in Wien und 1806 in Berlin. Diese Schulen, die man heute als die ersten Sonderschulen betrachten kann, sollten die grundsätzliche Bildungsfähigkeit hör- und sehgeschädigter Kinder nachweisen und damit das Recht auf Bildung begründen sowie später auch deren Schulpflicht ermöglichen. Die Kinder und Jugendlichen, überwiegend aus niederen Ständen, sollten »zur bürgerlichen Brauchbarkeit« erzogen werden, um selbst für sich zu sorgen und nicht betteln zu müssen.

    Bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es in Preußen und Sachsen mehrere dieser neuen speziellen Volksschulen für Taubstumme und für Blinde. Es entwickelte sich dort ein Fachwissen über erfolgreiche Lehrmethoden und Hilfsmittel. Dabei gingen die ersten Direktoren und Lehrer dieser Einrichtungen davon aus, dass es nicht genügend Plätze an den neuen Schulen geben würde und dass daher der weitaus größte Teil der taubstummen und blinden Schüler*innen ihre wohnortnahen Heimatschulen besuchen würde.

    Die Lehrkräfte dieser Volksschulen wurden eingeladen, sich in den neuen Internatsschulen fortzubilden, damit sie taubstumme oder blinde Kinder unterrichten könnten. Unter dem Stichwort »Verallgemeinerungsbewegung« (Ellger-Rüttgardt 2008: Kap. 3.5, 108–123) stellten fortschrittliche Schulbehörden beispielsweise in Preußen sogar Mittel für Aufenthalte dieser Lehrkräfte in den Internatsschulen bereit. Davon wurde jedoch nach anfänglicher Begeisterung insgesamt nur wenig Gebrauch gemacht. Lehrkräfte wurden in den 1830er-Jahren schlecht bezahlt, hatten Klassen mit über 100 Schüler*innen, erhielten außer dieser freiwilligen Fortbildung in den Internatsschulen vor Ort keine fachliche, personelle oder finanzielle Unterstützung und konnten es daher kaum leisten und verantworten, zusätzlich gehörlose oder blinde Schüler*innen zu unterrichten.

    Das Konzept der Verallgemeinerungsbewegung wurde einige Jahre später aufgegeben. In den deutschen Ländern richtete man in der Folge weitere Schulen für Hörgeschädigte und für Sehgeschädigte ein und baute sie im Laufe der Zeit so aus, dass die meisten betroffenen Kinder und Jugendlichen die neuen Internatsschulen besuchen konnten. Diese Entwicklungsphase, in der die gehörlosen und blinden Kinder fast ausschließlich Internatsschulen besuchten, dauerte bis in die 1980er-Jahre und endete erst, als mit der Integrationsbewegung in Deutschland auch blinde und gehörlose Kinder in allgemeinen Schulen beschult und durch mobile Dienste der Gehörlosen- oder Blindenschulen unterstützt werden konnten.

    Schon früh im Entstehungsprozess der Sonderschulen und der Sonderpädagogik wurden also zwei gegensätzliche Konzepte diskutiert: die Einrichtung spezieller Schulen und die Beschulung der Kinder mit Behinderungen in der allgemeinen Volksschule (Verallgemeinerungsbewegung). Friedrich H. C. Schwarz bringt es in seiner Erziehungslehre in drei Bänden auf den Punkt: »Es giebt sehr gute Unterrichtsanstalten für die Taubstummen und Blinde, und ein sehr wichtiger Fortschritt in unsern Tagen ist die Einführung dieser Hülfe in die Volksschulen, und also ihre Verallgemeinerung« (Schwarz 1829: 504). In der ersten Phase dieser Entwicklung sind Sonderschulen als Organisationsstruktur entstanden, weil Kinder mit Behinderungen zuvor noch gar keine Schule besuchten, weil Philanthropen das Phänomen Gehörlosigkeit oder Blindheit interessant fanden (vgl. auch Denis Diderot, »Lettre sur les aveugles«, 1749, zit. bei Ellger-Rüttgardt 2008: 24) und helfen wollten, diese Kinder zu bilden, damit sie sich später selbst ernähren konnten, und schließlich, weil man beispielsweise mehrere blinde Schüler*innen brauchte, um neue Methoden und Medien zu erproben und damit Know-how zu entwickeln.

    Der Versuch der Verallgemeinerungsbewegung, gehörlose und blinde Kinder in den Volksschulen angemessen zu unterrichten, musste vor fast 200 Jahren noch wegen unzulänglicher Rahmenbedingungen scheitern (Ellger-Rüttgardt 2016: 18–19: mangelnder politischer Wille, fehlende Ressourcen). Bei den gehörlosen Schüler*innen kommt hinzu, dass die beiden Varianten auch bestimmend waren für die Richtungskämpfe in der Frage der Kommunikation. Schon sehr früh gab es darüber Kontroversen zwischen Gehörlosen und dem Gehörlosenlehrerverband. Es ging darum, sich für die beste Sprachform zu entscheiden, für die Gebärdensprache oder für die Lautsprache und begleitende Gebärden. Als ein Argument galt, es den gehörlosen Kindern zu erleichtern, in den Volksschulen unterrichtet zu werden – auch deshalb setzten sich die lautsprachbegleitenden Gebärden durch (Ellger-Rüttgardt 2008: 109) –, und dies war in Deutschland lange Zeit auch in den Gehörlosenschulen herrschende Meinung. Die deutsche Gebärdensprache, die sich nach amerikanischem Vorbild als Muttersprache der gehörlosen Menschen entwickelte, setzte sich in den Gehörlosenschulen in Deutschland erst seit den 1990er-Jahren in nennenswertem Umfang durch – nach der Veröffentlichung der KMK-Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen (1994).

    Die Schulen für gehörlose und für blinde Kinder und Jugendliche hatten das Ziel, ihre Schüler*innen zu bilden, damit sie selbstständig leben konnten. Dasselbe Ziel verfolgten ab Mitte des 19. Jahrhunderts weitere spezielle Einrichtungen: die ersten Schulen für »Krüppel« und für »Idioten« an den neu eingerichteten Spezialkliniken und Psychiatrien als karitative Einrichtungen, meist in Trägerschaft der Kirchen. Für Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderungen, Sprachbehinderungen und Verhaltensstörungen wurden Sonderschulen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffnet. Hier stand bald der Gedanke der Entlastung der Volksschulen im Vordergrund. Die Hilfs- und später Lernbehindertenschulen waren ganz überwiegend Schulen für arme Kinder, deren Zahl stetig wuchs.

    Während des NS-Regimes wurden sehr viele Kinder mit Behinderungen systematisch sterilisiert oder im Zuge der »Vernichtung unwerten Lebens« ermordet. Die Sonderschulen und ein großer Teil ihrer Lehrkräfte spielten eine aktive Rolle bei den Aussonderungen, die »Rassenreinheit« sicherstellen sollten.¹ Vor diesem Hintergrund erhält die Pflicht zum Besuch der Sonderschule, die seit 1938² galt, eine besondere Bedeutung.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Tradition der Besonderung sowohl in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR fortgesetzt. Viele der Sonderschullehrkräfte waren dieselben wie vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches.

    In den 1950er-Jahren wurde die Hauptschule noch von den weitaus meisten Schüler*innen besucht. Hunderttausende von Kriegsauswirkungen beeinträchtigte Kinder wurden in Hilfsschulen überwiesen, deren Zahl rasant wuchs. 1972 beschloss die KMK die Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens, denen alle westdeutschen Länder mit ihren Schulgesetzen folgten. Als letzte flächendeckend eingeführte Sonderschulart entstand in diesem Zusammenhang die Schule für geistig Behinderte in den 1960er- und 1970er-Jahren. Sie nahm allerdings zunächst ausschließlich Kinder mit geistiger Behinderung auf, die laufen und kommunizieren konnten und unabhängig von Pflege waren. Kinder mit Mehrfachbehinderungen wurden jeweils erst einige Jahre später in die neuen Schulen aufgenommen (vgl. z. B. den Errichtungserlass der Schule für Geistigbehinderte vom 24.1.1974 des Kultusministers des Landes Schleswig-Holstein). Damit umfasste die Schulpflicht in der Regel alle Kinder und Jugendlichen.

    Parallel zu den Entstehungsprozessen der Sonderschulen – aber zeitversetzt – entwickelte sich die entsprechende Ausbildung der Lehrkräfte zu einer eigenständigen Disziplin: der Sonderpädagogik. Die Ausbildung an Universitäten entstand, Professuren und eine spezielle zweite Ausbildungsphase wurden eingerichtet – damit war das eigenständige Sonderschullehramt begründet und die Entwicklung der Sonderschulen und ihrer flächendeckenden Einführung sowie der Ausdifferenzierung der Sonderpädagogik verlief in allen deutschen Ländern ähnlich: Ellger-Rüttgardt (2008: 184 ff.) spricht vom Prozess der Institutionalisierung und der Professionalisierung, der die Entwicklung der Sonderpädagogik kennzeichnet.

    Festzuhalten bleibt: Zu Beginn der Geschichte der Bildung von Kindern mit besonderen Unterstützungsbedarfen war die Frage des Förderortes, die Beschulung in speziellen Schulen oder in allgemeinen Schulen, noch offen. Dann setzte sich organisatorisch und schulrechtlich die spezielle Schule durch, auch weil sie die Grundschulen und die Schulen des gegliederten Schulwesens entlastete und damit stabilisierte. In den deutschen Ländern wurden flächendeckend Sonderschulen eingerichtet, die alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen mussten – die Pflicht zum Besuch der Sonderschule ist ein Produkt des Nationalsozialismus und galt seit 1938. Anfang der 1980er-Jahre in den westdeutschen und in den 1990er-Jahren in den ostdeutschen Ländern war der Ausbau der Sonderschulen weitgehend abgeschlossen.

    Der Beginn des »gemeinsamen Unterrichts«

    In den 1970er-Jahren gab es wegen sehr hoher Schülerzahlen in Schulen für Lernbehinderte in einigen deutschen Ländern die ersten Vorläufer von gemeinsamem Unterricht im Rahmen der »Vermeidung von Sonderschulbedürftigkeit«. In Schulversuchen wurde erprobt, ob der Einsatz von Sonderschullehrkräften in Grund- und Hauptschulen dazu beitragen könnte, dass Sonderschulbedürftigkeit gar nicht erst entsteht. Diese Präventionsversuche sahen zum Beispiel in Schleswig-Holstein vor, jeweils eine Sonderschullehrkraft an eine große Grundschule zu versetzen. Die Ergebnisse waren jedoch letztlich nicht überzeugend, da sich die Sonderschullehrkräfte überwiegend in das Kollegium integrierten, Fach- und Vertretungsunterricht erteilten und ihrer sonderpädagogischen Aufgabe nur noch bedingt nachkamen.³ Daher wurde dieses Muster in Schleswig-Holstein nicht flächendeckend eingeführt.

    Einige Jahre später entstanden in Berlin und dann in vielen anderen Städten Integrationsklassenmodellversuche mit gemeinsamem Unterricht von »Behinderten« und »Nichtbehinderten« – kurz »gemeinsamer Unterricht«. Damit begann eine neue Entwicklungslinie, nämlich die Integration von »Behinderten« und »Nichtbehinderten«

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1