Erziehung und Geschlecht: Eine Einführung
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Über dieses E-Book
Das Buch geht in einem Dreischritt vor: Nach einer Bestandsaufnahme geschlechtstypischer Auffälligkeiten werden theoretische Grundlagen des Denkens über Geschlecht vorgestellt und zuletzt pädagogische Erwägungen zum Verhältnis von Geschlecht und Erziehung in Familien und Institutionen diskutiert.
Barbara Rendtorff
Barbara Rendtorff, Dr. phil., promoviert in Soziologie, habilitiert für Allgemeine Pädagogik, bis 7/2018 Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Universität Paderborn, derzeit Seniorprofessorin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt am Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Theorien von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen sowie die Tradierung von Geschlechterbildern im Kontext des Aufwachsens.
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Buchvorschau
Erziehung und Geschlecht - Barbara Rendtorff
Vorwort
Der hier vorgelegte Einführungsband stellt sich die Frage, welche Faktoren und Aspekte von Erziehungsprozessen die Selbst- und Weltbilder von Kindern und ihr Handeln in geschlechtstypisierender Weise färben und beeinflussen. Selbstverständlich ist der Prozess der Herausbildung einer Geschlechtsidentität komplexer und lässt sich nicht auf Erziehungseinflüsse allein zurückführen – doch sind die Einflüsse von erziehenden Personen und Institutionen nach allgemeiner Einschätzung äußerst wirkungsvoll, so dass es (gerade im Kontext einer Reihe zu Grundfragen der Erziehungswissenschaft) durchaus sinnvoll ist, sie als herausgehobenen Fokus zu behandeln.
Mit dem Titel „Erziehung und Geschlecht" ist aber auch angezeigt, dass nicht alle pädagogischen Situationen, nicht alle Handlungsfelder und Teildisziplinen betrachtet werden, sondern nur diejenigen, die in einem engen Sinne mit Erziehung zu tun haben. So werden manche Bereiche (wie die Erwachsenenbildung) gar nicht diskutiert und diejenigen pädagogischen Institutionen, die einen ausdrücklichen Bildungs- und Erziehungsauftrag haben, gegenüber den sozialpädagogischen Problemstellungen oder denen der außerschulischen Jugendbildung bevorzugt betrachtet.
Dennoch ist es nicht ganz einfach, eine so komplexe Thematik wie die Frage der individuellen und gesellschaftlichen Bedeutungen und Wirkungen der Geschlechterverhältnisse einerseits sinnvoll zu begrenzen und ihr andererseits zugleich einen angemessenen Stellenwert zu geben. Debatten über Geschlecht und Geschlechterverhältnisse sind und waren meist von politischer (und alltagspsychologischer) Art, sind deshalb meist auch mit Interessen verbunden, die gleichwohl nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind; gleichzeitig gibt es ein großes allgemeines Interesse an der Frage, wie verschieden die Menschen in ihrer Geschlechtlichkeit seien oder welche Bedeutung sie für die individuellen Befindlichkeiten habe. Auch diese Fragen werden im vorliegenden Band nicht diskutiert, doch können die hier vorgetragenen Überlegungen sicherlich etwas zum Verständnis auch darüber hinausgehender Problemstellungen beitragen.
Geschlecht ist im Kontext von Erziehungswissenschaft und Pädagogik auf zumindest drei verschiedenen Ebenen wirksam: zum einen auf der Ebene des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses, verstanden als politische und soziale Ordnung wie auch als Ausdruck des Denkens einer Gesellschaft über sich selbst und ihr Menschenbild; zweitens übersetzt die Erziehungswissenschaft diese grundlegenden Auffassungen in ihre Theoriekonzepte und überträgt sie drittens in pädagogische Praxismodelle. Die Erziehungswissenschaft ist sich der Komplexität dieser Zusammenhänge aber nur wenig bewusst – bislang wurde die Geschlechterfrage ganz überwiegend im Zusammenhang mit Problematisierungen zu Koedukation diskutiert. Es ist deshalb auch ein Anliegen dieser Einführung, diese Verkürzungen zu überschreiten und der Geschlechterthematik einen größeren Diskussionsrahmen zu öffnen – zumal ich zu der Auffassung gelangt bin, dass Geschlecht als strukturierende Kategorie nicht nur die gesellschaftlichen Ordnungen, sondern auch die Grundlagen unseren Denkens mitgestaltet.
Der Text geht gewissermaßen im Zickzack vor: Ausgehend von einer Bestandsaufnahme geschlechtstypischer Auffälligkeiten und der sich darauf beziehenden pädagogischen Debatten fragt er zuerst nach dem Denken über Weiblichkeit und Männlichkeit in den erziehungswissenschaftlichen Begriffen und ihrer Theoriegeschichte. Zwar sollte eine Einführung vor allem einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zu ihrem Thema geben – aber sie darf auch, gerade wenn sie es mit einer so komplexen Thematik zu tun hat, eine darüber hinausweisende eigene Positionierung formulieren. Diese wird insbesondere im vierten Kapitel zur Diskussion gestellt. Von dort aus wendet sich der Text dann aktuellen pädagogischen Debatten und Handlungsfeldern zu.
Wie gesagt – die Thematik ist sehr komplex, deshalb beschränkt sich der vorliegende Text hauptsächlich auf die deutschsprachige Literatur und die hierzulande geführten Diskurse. Auch erhebt er keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit – vieles wird nur angedeutet oder kursorisch gestreift. Mag er dennoch die Perspektiven der LeserInnen öffnen und Anregungen zum Weiterdenken geben.
Teil I – Bestandsaufnahmen
Kap. 1 Geschlechtstypische Auffälligkeiten …
1. … bei Kindern
2. … im Kontext von Schule und Beruf
Kap. 2 Erziehung und Geschlecht – Diskursansätze
1. Historische Diskurslinien und Erziehungsratgeber
2. Erste Frauenbewegung und Geistige Mütterlichkeit
3. Schulbildung und Koedukation
4. „Antisexistische Jungenarbeit und „parteiliche Mädchenarbeit
Kapitel 1
Geschlechtstypische Auffälligkeiten…
„Unsere Erfahrungen verwandeln sich meist sehr rasch in
Urteile. Diese Urteile merken wir uns, aber wir meinen,
es seien Erfahrungen. Natürlich sind Urteile nicht so
zuverlässig wie Erfahrungen. Es ist eine bestimmte
Technik nötig, die Erfahrungen frisch zu halten, sodass
man immerzu aus ihnen neue Urteile schöpfen kann.
Me-ti nannte jene Art von Erkenntnis die beste, welche
Schneebällen gleicht. Diese können gute Waffen sein, aber
man kann sie nicht zu lange aufbewahren. Sie halten sich
auch zum Beispiel nicht in der Tasche."
Me-ti. Buch der Wendungen ¹
Geschlechtstypisch, geschlechtsspezifisch, geschlechtsbezogen – in der Literatur werden eine ganze Reihe unterschiedlicher Begriffe verwendet, um Effekte der Geschlechtszugehörigkeit oder der Geschlechterverhältnisse auf das Selbstbild und Verhalten von Individuen oder auf gesellschaftliche Beziehungen zu beschreiben. Allerdings ist die Bedeutung dieser Begriffe nicht bei allen AutorInnen gleich, die darin unausgesprochen enthaltenen Ursachenverweise sind unterschiedlich und die Reichweite der Begriffe ist verschieden. Deshalb empfiehlt es sich, zumindest an einigen Punkten Klarheit zu schaffen. Mit dem Ausdruck „geschlechtstypisch ist angezeigt, dass eine Verhaltensweise häufig oder überwiegend bei einem Geschlecht auftritt, ohne dass es dafür eine biologischphysiologische Grundlage gibt, während im Unterschied dazu die Kennzeichnung „geschlechtsspezifisch
auf anlagebedingte Unterschiede verweist, wie etwa Bartwuchs oder Menstruation. Geschlechtstypisierend sind dann solche Handlungen, die bei dem Gegenüber einen Zuordnungs- und Zuschreibungsprozess initiieren, der in dessen Selbstbild eingeht. Geschlechtstypisierende individuelle Akte reichen also von dem berühmten „Aber ein Junge weint doch nicht! bis hin zu Aufgabenstellungen im Schulunterricht, die qua Vereindeutigung eine Gewöhnung an Stereotype hervorrufen, etwa die Aufforderung „Schreibe je drei Berufe auf, die deiner Meinung nach ‚Frauenberufe‘ bzw. ‚Männerberufe‘ sind. Begründe deine Auswahl
(Portmann 1999, 61). Solche aktiven Typisierungen lassen sich zwar relativ leicht erkennen (wenngleich auch kaum verhindern), schwieriger ist es allerdings, wenn stereotypisierende Handlungen so dezent oder subtil sind, dass sie weder dem/der Akteur/in noch dem Gegenüber unmittelbar auffallen. Und noch schwieriger ist es, zu erkennen, welche Geschlechterbilder und Strukturen diesen Handlungen zugrunde liegen und ihnen vorausgehen.
1. … bei Kindern
Für die Erörterung der Frage, welchen Einfluss das Erziehungsverhalten auf die geschlechtstypische Entwicklung hat, ist es sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über Art und Umfang geschlechtstypischer Differenzen zu verschaffen.² Zweifellos zeigen sich im Entwicklungsverlauf von Kindern eine ganze Reihe von geschlechtstypischen Auffälligkeiten, auch Unterschieden – die werden allerdings in Ausmaß und Wirkung von WissenschaftlerInnen verschiedener Theorierichtungen höchst unterschiedlich interpretiert.
Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass die Beobachtung und Messung geschlechtstypischen kindlichen Verhaltens einige fast unüberwindliche methodische Schwierigkeiten bereithält. So sind z.B. begleitende Langzeitstudien notwendigerweise auf sehr kleine Samples beschränkt, und die beobachteten sozialen Situationen sind so komplex, dass die Grenze zwischen plausibler Auslegung und Überinterpretation kaum klar zu ziehen ist. Auch in großen Untersuchungen mit Hunderten von Kindern werden Detailbeobachtungen wie Mutter-Kind-Interaktion, Familien-Tischgespräche oder Schulhof-Spiele von Kindern stets mit kleinen Subsamples durchgeführt, bei denen die zufälligen Kontextbedingungen so unterschiedlich oder gruppentypische Bedingungen so dominant sein können, dass man auch hier allenfalls von Tendenzen sprechen kann.
Wir finden deshalb teilweise empirische Beschreibungen, die sich jeweils selbst als konsistent darstellen, einander aber tatsächlich ganz gravierend widersprechen, ja sogar zu gegensätzlichen Einschätzungen führen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist leicht zu beobachten, dass Kinder zumindest phasenweise gleichgeschlechtliche Spielpartner/innen bevorzugen. Um die Hintergründe dieses Verhaltens (und damit seine Bedeutung) zu verstehen, wäre es sinnvoll zu wissen, in welchem Alter es auftritt. Wenn die Angaben dazu dann aber von „ab 3 Jahren (Maccoby 2000, 33) bis „ab 8 Jahren
(Mussen 1991, 162) schwanken, lässt sich wenig damit anfangen – und es mahnt auch zur Vorsicht gegenüber solchen verallgemeinernden Daten.
Auch unterscheiden sich die empirischen ForscherInnen hinsichtlich der Einschätzung der Wirksamkeit gefundener Daten erheblich. So werden Kinder oftmals nach ihrem Wissen um Geschlechterstereotype gefragt (Was spielen Mädchen/Jungen?; Was können Jungen/Mädchen besser? usw.), die gefundenen Daten werden nach Altersgruppen geordnet usw. – obgleich weitgehend unklar ist, wie weit die Kenntnis dieser Stereotype das Handeln von Kindern oder ihre Selbsteinschätzung tatsächlich bestimmen.
Darüber hinaus wäre noch als methodisches Problem zu benennen, dass, wie immer bei empirischen Forschungen, Untersuchungsdesign und theoretische Vorentscheidungen nicht von einander zu trennen sind. So dürfte etwa das Verfahren, geschlechtsstereotype Erziehungsgrundsätze oder Verhaltensnormen aus einer großen Anzahl von nicht näher spezifizierten „Kulturen summierend herauszudestillieren (vgl. Bischof-Köhler 2004, 166), oder der Vergleich zwischen sogenannten „heißen
, also sehr dynamischen, hoch technisierten Kulturen mit „kalten", also statischen, unter unveränderten archaischen Bedingungen lebenden Gemeinschaften (Lenz 1999, 114ff.) durchaus als problematisch gelten.
AutorInnen einer stark evolutionspsychologisch orientierten Theorienlinie interessieren sich ihrer Referenztheorie folgend für allgemeine Merkmale der Spezies Mensch insgesamt bzw. die Gruppenmerkmale der beiden Geschlechter-Subspezies (von denen individuelle Differenzierungen nur als ‚Abweichung‘ erscheinen) und sie beziehen sich völlig selbstverständlich auf Beschreibungen des Geschlechterverhältnisses und der geschlechtlichen Arbeitsteilung, wie sie für Jahrtausende zurückliegende Jäger- und Sammlergesellschaften oder sehr traditionelle Gesellschaften gelten (z.B. Jagd als männliche und Wasserholen als weibliche Domäne; vgl. Bischof-Köhler 2004, Kap. 12; Lenz 1999, 109ff.) oder erklären Geschlechterhierarchien mit Verweis auf deren reproduktive Zweckdienlichkeit: quantitative Strategien der Fortpflanzung mit niedriger parentaler Investition als Strategie der „Männchen", bei den Weibchen dagegen qualitative Strategien mit höherer Investition in die Brutpflege. (vgl. kritisch Leonhard 1996). Stärker psychologisch oder soziologisch orientierte AutorInnen fassen die biologischen Aspekte eher als Prädispositionen auf und fragen danach, wie es den Menschen gelungen ist/gelingt, sich von den angeborenen Programmen zu emanzipieren und diese im Verlauf von Zivilisation und kultureller Entwicklung auszudifferenzieren. Sie beziehen sich logischerweise eher auf Individuen und ihre psychodynamische Entwicklung in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt bzw. auf soziale Gruppen und deren Funktionsweise. Aus dieser unterschiedlichen Fokussierung resultieren verständlicherweise große Probleme, wenn Texte unterschiedlicher theoretischer Herkunft miteinander in Beziehung gesetzt werden.
Bei der Verwendung von empirischen Untersuchungen zu Einstellungen und Sozialverhalten wird zudem nur selten diskutiert, inwieweit sie problemlos auf andere Gesellschaften übertragen werden können. Dabei ist sehr wohl bekannt, dass auch innerhalb Europas, jedenfalls aber zwischen z.B. Deutschland und USA deutliche Unterschiede in der Ausprägung von Geschlechterstereotypen bestehen, wobei nach der Darstellung verschiedener Studien bei Tücke geschlechtsstereotype Einstellungen in USA zum Teil deutlicher und stärker sind als in Deutschland (Tücke 1999, 220).
Was nun die faktisch auffindbaren Geschlechterunterschiede zwischen Mädchen und Jungen betrifft, so lassen sich diese unterscheiden nach Entwicklungs-, Leistungs- und Verhaltensaspekten – und von der Zuordnung zu diesen Kategorien hängt auch ab, wie deren Entstehung eingeschätzt wird und inwieweit hier eine erzieherische Einflussnahme überhaupt möglich und sinnvoll erscheint. Auf der Ebene geschlechtstypischer Entwicklung gibt es einige wiederkehrende Befunde: so lässt sich bspw. eine stärkere Vulnerabilität (Verletzlichkeit) männlicher Embryonen und Kinder feststellen und demgegenüber ein psychonervaler Reifungsvorsprung von Mädchen – entweder von Geburt an (so z.B. Ettrich/Ettrich 1991, 269) oder doch im zweiten und dritten Lebensjahr (so Maccoby 2000, 149) –, der sich aber im Verlaufe des Grundschulalters verliert. Auch das Einsetzen des pubertären Reifungsschubs erfolgt bei Mädchen früher, ebenso das (damit verbundene) Längenwachstum – das veranlasst einige Autoren, die spätere Einschulung von Jungen zu fordern, weil deren Entwicklungsstand mit sechs Jahren noch stärker auf die Grob- als auf die Feinmotorik ausgerichtet sei (vgl. Biddulph 2000, 81ff.; Hellbrügge 2003).
Eine allgemeine, statistisch belegte Vulnerabilität von Jungen bleibt auch über das Grundschulalter hinaus bestehen. Im Allgemeinen sind Jungen im Schulalter weniger häufig in ärztlicher Behandlung als Mädchen – wobei dies sowohl ein Anzeichen für seltenere Erkrankungen sein kann wie auch ein Hinweis darauf, dass Eltern mit Krankheiten ihrer Söhne anders umgehen. Das lässt sich statistisch nicht aufklären – die Tatsache, dass sich auch Männer seltener und später, oftmals zu spät in ärztliche Behandlung begeben, könnte diese Vermutung aber durchaus stützen. Außerdem sind Jungen und männliche Jugendliche viel häufiger von Sport- und Verkehrsunfällen betroffen sowie von Verletzungen, die durch so genanntes jugendtypisches Risikoverhalten (wie riskanter Alkoholkonsum, Mutproben o.ä.) verursacht sind (vgl. Stecklina 2004, 166). Sie fallen beim gesundheitsriskanten Verhalten durch „härteren Zigaretten- und Alkoholkonsum auf, während mädchentypische Varianten problematischen Verhaltens eher ‚unsichtbar‘ sind – z.B. Medikamentenkonsum, Diäten oder Essstörungen (vgl. Kolip 1999, 294 f.). Auch die höhere Beteiligung von Männern und Jungen an Gewaltdelikten ist bekannt – sowohl auf der Täter- wie auf der Opferseite. Jungen und Männer weisen auch mehr vollzogene (sogenannte „erfolgreiche
) Suizide auf, Mädchen und Frauen mehr Selbstmordversuche.
Insgesamt zeigen statistische Übersichten eine höhere Sterblichkeitsrate bei Jungen und Männern bis zum Alter von Mitte zwanzig, dann kehrt das Verhältnis sich um (vgl. Schnack/Neutzling 1992, 102). Mädchen leiden dagegen öfter an psychosomatischen Beschwerden, ihre Körperbesorgnis ist insgesamt höher und steigt zudem ab dem 11. oder 12. Lebensjahr, also mit dem Beginn der Pubertät bzw. mit der Menarche und den damit verbundenen Beunruhigungen, deutlich an (vgl. Kupfer et al. 1992, 171). Auch das Selbstvertrauen scheint bei Mädchen und Jungen zunächst ähnlich groß zu sein, im Laufe des Jugendalters hält dann aber die Entwicklung der Mädchen mit der positiven Entwicklung der Jungen nicht mehr Schritt – das Selbstvertrauen von weiblichen Jugendlichen nimmt signifikant ab (vgl. Nord-Rüdiger 1996, 19). Für das Erwachsenenalter hat diese Untersuchung übrigens keine solchen deutlichen Unterschiede gefunden – ein wichtiges Ergebnis war aber, dass Frauen sich selbst differenzierter beurteilen und Männer konsistenter (vgl. ebd., 116ff.). Auch Zinnecker kommt in seiner Jugendstudie zu dem Schluss, dass Jungen insgesamt mit sich zufriedener seien als Mädchen (vgl. Zinnecker 2002, 93).
Ein weiterer Unterschied, der gelegentlich genannt wird, ist die offenbar größere Fähigkeit von Mädchen zur Selbstregulation bzw. zum Triebaufschub, also zur „Regulation impulsiven und emotionalen Verhaltens (Maccoby 2000, 141) – wobei es auch hier vom jeweiligen Autor abhängt, ob dies als eine angeborene oder als anerzogene Fähigkeit interpretiert wird. Mädchen zeigen in empirisch-psychologischen Studien zur Emotionsregulierung im frühen Alter angemessenere Strategien als Jungen, reagieren „eher nachgebend auf Disziplinierungsbestrebungen ihrer Eltern, vor allem wenn diese durch eindeutige Signale vermittelt werden
(Ittel/v. Salisch 2005, 85), erhöhen dadurch aber zugleich ihr Risiko, dauerhaft ein internalisierendes Problemverhalten zu entwickeln (bei dem die durch Konflikte entstehenden Spannungen tendenziell gegen die eigene Person gewendet werden).
Bereits an dieser Stelle wird aber m.E. gut erkennbar, dass das oft geübte Gegenüberstellen der Geschlechter nach dem Schema „mehr oder weniger" (Jungen seien aggressiver, Mädchen introvertierter usw.) viel zu kurz greift und der Komplexität geschlechtstypischer Verhaltensausprägungen nicht gerecht werden kann.
Auf der Ebene geschlechtstypisch variierender kognitiver Fähigkeiten finden wir, das sei vorausgeschickt, insgesamt keine großen Unterschiede (Bischof-Köhler 2004, 234) und zudem eine kontinuierliche Abnahme bei allen gemessenen Differenzen in den letzten 20 bis 30 Jahren (Alfermann 1996, 160). Das alleine würde schon genügen, um Zweifel an der These der Anlagebedingtheit dieser Unterschiede zu wecken, denn „females appear to be gaining in cognitive skills relative to male rather faster than the gene can travel (Rosenthal & Rubin, zit. bei Quaiser-Pohl 1998, 50). Übrig bleibt ein nicht ganz erklärbarer deutlicher Unterschied in der Fähigkeit zur räumlichen Vorstellung (Quaiser-Pohl 1998) und Orientierung zugunsten von Jungen. Auch dieser wird von manchen AutorInnen zur Unterstützung evolutionsbiologischer Ansätze verwendet, indem sie ihn damit erklären, dass sich früher der Jäger (Mann) in Wald und Gelände hätte orientieren müssen, um wieder zur Horde zurückzufinden, während die Sammlerin (Frau) nur die Pflanzen in der näheren Umgebung wiederfinden musste (Wendt 1997, 118). So weit ich erkennen kann, gibt es aber zur Zeit keine konsistente Theorie, die die Weitergabe von Elementen (geschlechtlicher) Arbeitsteilung, die durch frühgeschichtliche Adaption menschlicher Entwicklung an die Umwelt entstanden sein sollen, und die differenzielle Heritabilität, also die „Vererbbarkeit
auch phänotypischer Aspekte befriedigend erklären kann – geschweige denn plausibel machen könnte, warum früh erworbene Verhaltensweisen ungenutzt über Jahrtausende weiter bestehen sollten, wo doch ansonsten die menschliche Entwicklung auf effektiven Nutzen und Einsatz ihrer Ressourcen ausgerichtet zu sein scheint. Da es zudem aus frühgeschichtlicher Zeit bekanntlich keine Zeugnisse gibt, die etwa geschlechtspezifische Arbeitsteilung belegen könnten, müssen alle Geschichtsinterpretationen immer auch als Repräsentation der historisch bedingten Vorstellungsbasis ihrer jeweiligen Interpreten wahrgenommen werden. Von hier aus betrachtet könnte also auch der vorne beschriebene Unterschied beim räumlichen Vorstellungsvermögen beispielsweise damit erklärt werden, dass Eltern ihre Söhne früher draußen spielen lassen oder selbständig Dinge erledigen lassen als ihre Töchter, so dass elterliches Verhalten, Spielzeugauswahl, Übung und Gewöhnung hier einen kumulativen Sozialisationseffekt erzeugt und die geschlechtstypischen Unterschiede zumindest mit verursacht haben könnten – zumal die ProbandInnen dieser Untersuchungen mindestens das Kindergartenalter erreicht und also schon viel erlebt haben.
Was geschlechtstypisch unterschiedliche soziale Verhaltensweisen angeht, so ist jede Diskussion über mögliche anlagebedingte Einflüsse hier endgültig spekulativ – zu komplex sind hier die Zusammenhänge. Verhaltensweisen im sozialen Feld sind immer und unweigerlich beeinflusst von Interaktionen und insofern als ein Zusammenspiel aus Effekten gesellschaftlicher Konventionen und individuellen sozialen Schicksalen zu sehen. Auch gibt es kein ‚unvoreingenommenes‘ Sozialverhalten, weil jede Orientierung im sozialen Feld von Vorannahmen (bias) über den anderen Menschen getragen wird – und bei diesen Vorannahmen spielen sowohl Vorurteile (prejudice) in Bezug auf relevante gesellschaftliche Ordnungskategorien bzw. Gruppeneinteilungen (wie Geschlecht, Ethnie, Religion) eine Rolle, als auch die auf der Basis eigener Sozialerfahrungen ausgebildete persönliche Vorurteilsstruktur, bei der z.B. Neid, eigene Wünsche und Kränkungen usw. in das Bild des Anderen eingehen.
Gleichwohl gibt es im Sozialverhalten von Kindern größere Auffälligkeiten, die auch (mehr als bei den beiden zuvor genannten Gruppen geschlechtstypischer Auffälligkeiten) Ansatzpunkte für eine Analyse von Erziehungsverhalten und dessen möglichen geschlechtstypisierenden Aspekten bieten können. So unterscheiden sich beispielsweise Mädchen- und Jungengruppen offenbar deutlich in ihrer Struktur: aus Jungen bestehende Gruppen sind meist hierarchischer orientiert, manche Studien attestieren Jungen neben ihrer Konkurrenzorientierung und Tendenzen zu offener geäußerter Aggression deshalb auch eine größere Bereitschaft, eine einmal erkannte Überlegenheit eines Anderen und einen damit verbundenen rangniedrigeren Platz in der Gruppe anzuerkennen (Bischof-Köhler 2004, 318). Mädchen in Gruppen wird in vielen Studien dagegen ein größeres Interesse an gegenseitiger Anerkennung und einvernehmlichem Aushandeln von Interessen zugeschrieben, was logischerweise auch eine größere Abhängigkeit von der Gruppe als ganzer zur Folge hat. Die Formen aggressiver Auseinandersetzung sind hier subtiler und weniger leicht zu beobachten. Mädchen operieren in Gruppen öfter mit Ausschluss und Herabsetzungen und neigen dazu, hierarchische Absetzungen innerhalb der Gruppe zu sanktionieren (ebd., 320), bei ihnen stehen „spitze Bemerkungen, Bloßstellen oder hinter dem Rücken Tuscheln im Vordergrund (Scheithauer 2003, 141). Diese sind oft für Lehrkräfte nicht wahrnehmbar, weil die Kränkungen und geflüsterten Beleidigungen „sehr leise
ausgetragen werden (vgl. Kaiser 2003, 168ff.). Auch dies ist ein Hinweis auf die Problematik empirischer Untersuchungen im Geschlechterbereich: denn da solche verdeckt aggressiven Verhaltensweisen üblicherweise nicht in den Diagnosekriterien für aggressive Störungsbilder enthalten sind, werden Mädchen in den empirischen Studien stets als „weniger aggressiv" eingestuft – ein Befund, der sich mit der Veränderung der Diagnosekriterien sicherlich verändern würde. Erst dann ließe sich im Übrigen auch zu Aussagen über die Varianz innerhalb der Mädchengruppen kommen (vgl. v. Salisch et al 2005, 86). Scheithauer plädiert denn auch dafür, deutlicher zwischen „prototypischen Formen der Aggression (wie Schlagen, Treten usw., bei denen Jungen dominieren) und „unprototypischen
(indirekte, soziale, relationale, wie sie häufiger unter Mädchen vorkommen) zu unterscheiden. Die geschlechtstypischen Unterschiede in den bevorzugten Formen von Aggression müssten seiner Ansicht nach aus der Funktion innerhalb der Gleichaltrigengruppe erklärt werden – und die differiert natürlich mit der Gruppenstruktur (vg. Scheithauer 2003, 225).
Mädchen haben aber auch eine „stärker ausgeprägte Neigung, ihre Gefühle zu enthüllen, schreibt Maria v. Salisch in ihrer Studie über kindlichen Ärger, zugleich neigen sie aber dazu, die Intensität ihres Ärgers zu „verkleinern
, weil für sie großer Ärger mit größerer psychischer Belastung verbunden wäre. Das heißt aber nicht unbedingt, dass Mädchen und Jungen tatsächlich unterschiedlich empfinden, denn Kinder seien „bereits im Alter von drei bis vier Jahren" sehr geschickt darin, sich den Erwartungen der Erwachsenen entsprechend zu verstellen (v. Salisch 2000, 172ff., 207). Was das prosoziale Verhalten angeht, das oftmals den Mädchen in größerem Umfang zugeschrieben wird, so gibt es auch da jüngere Studien, die (zu ihrer eigenen Enttäuschung) keine solche Differenz gefunden haben und diese These nicht bestätigen können (vgl. Höltershinken/Wu 2001, 273ff.).
Die erkennbaren Unterschiede im Sozialverhalten haben viele AutorInnen bewogen, die Kindheiten von Jungen und Mädchen als getrennte „Welten (Maccoby 2000), als zwei verschiedene „Kulturen
zu beschreiben, die je unterschiedlichen symbolischen Regeln folgen und in denen Angehörige des eigenen Geschlechts eine gänzlich andere Rolle und Bedeutung haben als gegengeschlechtliche. Da aber, wie gesagt, alle sozialen geschlechtstypischen Verhaltensweisen Effekte gesellschaftlicher Konventionen sind, ergeben sich im Kontext der Erörterungen der Funktion von Erziehung für den Prozess geschlechtstypischer Entwicklung folglich mehrere Ansatzpunkte: Erstens wäre zu fragen, ob bzw. wie betreuende Erwachsene mehr oder weniger bewusst und gezielt auf Kinder Einfluss nehmen – auf ihre individuellen Selbstäußerungen, auf Gruppenverhalten und Aushandlungsprozesse unter Kindern oder sogar auf das Entstehen von „zwei Kulturen der Kindheit"; zweitens muss interessieren, ob das Geschlecht der Erziehenden ihr Verhalten beeinflusst und drittens wäre zu fragen, welchen Einfluss die pädagogischen Theorien und Institutionen in diesem Zusammenhang haben. Einige dieser Fragen werden im Verlauf der folgenden Kapitel ausführlicher diskutiert, doch an manchen Punkten wird sich auch zeigen, dass unser Wissen über die komplexen Zusammenhänge noch nicht ausreicht, um sie wirklich zu durchschauen.
2. … im Kontext von Schule und Beruf
Als in der Mitte der 1960er Jahre die Diskussion um die Notwendigkeit einer Bildungsreform in Westdeutschland breit geführt wurde, war die Einsicht in die eklatante Bildungsbenachteiligung von Mädchen ein wichtiger Impuls. Das „katholische Arbeitermädchen vom Land" war der Inbegriff struktureller Aspekte von Bildungsnachteilen, die sich an sozialer Schichtzugehörigkeit, Region, Religionszugehörigkeit und eben an Geschlecht festmachen ließen. Sicherlich waren damals v.a. volkswirtschaftliche Gesichtspunkte leitend – denn es blieben ja die Fähigkeiten eines großen Teils der Bevölkerung ungenutzt –, doch die Mädchen und Frauen konnten die durch die Bildungsreform eingeleiteten Veränderungen im Bildungswesen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten gut für sich nutzen – mehr noch: es hat sich in Bezug