Psychologie der Verständigung: Eine Einführung in die kommunikative Praxis
Von Mark Galliker und Daniel Weimer
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Buchvorschau
Psychologie der Verständigung - Mark Galliker
Stichwortverzeichnis
Vorwort
Wie selbstverständlich ist Verständigung? Ist es nicht so, dass wir uns meistens missverstehen? Oder kann man davon ausgehen, dass wir uns in der Mehrzahl der Fälle verstehen? In der Kommunikationspsychologie wird oft die Auffassung vertreten, dass das Missverstehen die Regel und das Verstehen eher die Ausnahme sei. Nach unserer Auffassung können Missverständnisse jedoch nicht als Normalfall betrachtet werden. Normal ist das Verstehen oder der Weg zum Verstehen: die Verständigung zwischen zwei Personen oder zwischen mehreren Personen. Das heißt: Sprechen-Verstehen, das ist keine jeweils private Angelegenheit der am Gespräch beteiligten Personen, sondern immer eine Angelegenheit, die durch die gesprochene Sprache gegeben ist oder dann in der Sprechsituation zwischen mindestens zwei Personen ad hoc geregelt wird und damit primär als eine öffentliche Angelegenheit zu verstehen ist. Allerdings tauchen bei dieser Regelung Probleme auf – bei vielen Menschen sogar sehr oft Probleme und zuweilen große Probleme und gravierende Missverständnisse. Doch wenn diese Missverständnisse die Regel wären, gäbe es gar kein Verstehen und letztlich gar keine Bedeutungen.
Die vorliegende Arbeit sieht sich keiner bestimmten Theorie der akademischen Psychologie und auch keiner Psychotherapieschule besonders verpflichtet. Allerdings wird die Unterstellung der Privatsprache abgelehnt und stattdessen der Dreischritt der Verständigung eingeführt. Zwar liegt der Schwerpunkt der Betrachtungsweise eindeutig im psychologischen Bereich, doch wird den künstlichen Grenzen der Disziplin nicht erste Relevanz beigemessen, so dass die Arbeit dem einen oder anderen Leser auch als interdisziplinär erscheinen mag.
Eine Anreihung einzelner wissenschaftlicher Ansätze wird freilich vermieden. Dem in den letzten Jahren oft beobachteten beliebigen Zusammentragen von theoretischen Vorstellungen und Fakten wird mit einem klaren Konzept begegnet. Bei aller Berücksichtigung der Vielfalt der Phänomene gilt es vor allem die Zelle der Kommunikation, die Verständigung, zu analysieren und in ihrem Werdegang sowie in ihrer Ausbreitung zu begleiten. Hierbei besteht keineswegs der Anspruch, die Ergebnisse der Sozialpsychologie und der herkömmlichen Kommunikationsforschung umfassend zu berücksichtigen. Meistens werden jene Forschungsarbeiten angeführt, die nicht ausschließlich dem Ursache-Wirkungs-Paradigma verhaftet bleiben. Das Kausalitätsparadigma kann wegen seiner Eindimensionalität die Kreisförmigkeit des Dialogs nicht oder nur unzureichend abbilden. Spätestens wenn der Gegenstand der Betrachtung Kommunikation heißt, wird die Widersprüchlichkeit einer der Privatsprache verpflichteten kognitiven Psychologie offenkundig. Psychologie braucht für deren Verständnis als Ausgangs- und Endpunkt immer schon die öffentliche Sprache; eine Sprache, in der die öffentliche Verständigung wesentlich ist und das subjektive Moment hauptsächlich in der Bewertung, in der Zustimmung oder Ablehnung des offen Dargelegten und Interpretierten besteht. Dies bedeutet immer schon Rückmeldung, Kreisförmigkeit – mehr als Linearität und einseitige Kausalität. Die Ablehnung der Privatsprache zugunsten der öffentlichen Sprache hat noch weitere Konsequenzen. Vorerst sei nurdarauf hingewiesen, dass die Trennung zwischen Sozialpsychologie und allgemeiner Psychologie fragwürdig wird.
Im vorliegenden Buch werden viele Beispiele aus der Alltagspraxis sowie aus der psychosozialen Praxis angeführt. Diese Beispiele dienen u.a. auch der Illustration der dargelegten Sachverhalte und der leichten Verständlichkeit des Textes. Sie haben keinerlei Vorbildfunktion. Zeitlich gesehen standen diese Beispiele am Anfang der meisten Arbeitschritte. Die theoretischen Überlegungen gingen mitunter aus einzelnen, nach bestimmten Gesichtspunkten angeordneten Beispielen hervor.
Die angeführten Dialoge und Dialogausschnitte wurden während oder unmittelbar nach ihrer Rezeption aufgezeichnet. Einige Dialoge wurden der Literatur entnommen, mitunter auch der schönen Literatur sowie der populärpsychologischen Literatur, sofern sie sich als illustrativ für theoretische Überlegungen oder gar als theoretisch weiterführend erwiesen. Die meisten Dialoge entstammen dem Alltagsleben und sind weitgehend authentisch. Bei den Dialogen aus dem Bereich des Berufslebens handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um Ausschnitte aus Betreuungssituationen, Beratungen und Psychotherapien. Sie wurden meistens auf Tonband aufgenommen, transkribiert und der Schriftsprache angeglichen; in selteneren Fällen handelt es sich um zeitnahe Rekonstruktionen. Die personenbezogenen Angaben wurden nur so weit verändert, dass reale Institutionen und Personen nicht erkennbar sind. Aus stilistischen Gründen und um den Text nicht unnötig zu komplizieren, werden die männliche und die weibliche Form abwechselnd verwendet.
Wegweisend für das Buch ist die Praxis. Doch gilt es dieser nicht zu verfallen. Die Praxis dient der Orientierung, gerade auch der theoretischen. Praktische Orientierung bedeutet nicht praktizistisches Vorgehen; sie bedeutet nicht zuletzt auch Gang durch die Praxis und theoretische Aufarbeitung dieses Durchgangs. Das Ziel ist wiederum die Praxis – eine bewusstere Praxis, die u.a. auch die Einsicht beinhaltet, dass sie wenigstens stellenweise mit Vorteil weniger kognitiv gesteuert wird.
Ein Anliegen der Autoren ist es, Theoretiker und Praktiker zu erreichen und die Gräben zwischen Sozialpsychologie, Allgemeiner Psychologie und Klinischer Psychologie zu überbrücken. Es sollte deutlich werden, dass zwischen Sozialpsychologie und Allgemeiner Psychologie ein enger Zusammenhang besteht (vgl. z.B. Denken als verinnerlichtes Sprechen in Kapitel 4.1). Ebenso enge Beziehungen bestehen zwischen Allgemeiner Psychologie und Klinischer Psychologie (vgl. u.a. emotionale Personzentriertheit in der Psychotherapie in Kapitel 6.1) und zwischen Klinischer Psychologie und Sozialpsychologie (vgl. u.a. gegenseitige Übertragungen in der Therapie in Kapitel 6.3). Bei den meisten behandelten Phänomenen sind diese drei wichtigen Teildisziplinen der Psychologie involviert, wenngleich dies meistens der Kürze halber nicht im Einzelnen ausgeführt wird. Beispielsweise können Erinnerungen im Alltag sowie in der Therapie als Ergebnisse interaktiver Verständigung betrachtet werden (vgl. insbesondere Kapitel 5.3). Voraussetzung für die Aufhebung der theoretisch und praktisch verhängnisvollen Isolation von Sozialpsychologie, Allgemeiner Psychologie und Klinischer Psychologie ist die Entwicklung des Dreischrittes der Verständigung (Kapitel 2) und damit die Zurückweisung der Privatsprache (siehe Näheres in Kapitel 5.1). Zu Beginn des Buches werden Vorformen des Dreischrittes in der Naturgeschichte, in der Entwicklungsgeschichte sowie in der Konzeptgeschichte gestreift (Kapitel 1). Nach der Behandlung der Grundformen des Dreischrittes im zweiten Kapitel werden verbale, paralinguale und nonverbale Formen der drei Schritte der Verständigung dargestellt (Kapitel 3). Schließlich werden auch die Abweichungen vom Dreischritt behandelt (Kapitel 5). Die Arbeit hat hypothetischen bzw. falsifizierenden Charakter (siehe hierzu insbesondere Schluss von Kapitel 6.2). Das methodische Vorgehen in der Dialogforschung ist komplexer als es im Buch den Anschein haben mag. Die Verwendung der Illustrationsbeispiele und die kurzen Kommentare dazu im laufenden Text repräsentieren keine eigenständige Forschung, weshalb Hinweise zum methodischen Vorgehen in einem speziellen Kapitel am Schluss des Buches angeführt werden (Kapitel 7).
An dieser Stelle möchten wir allen Kolleginnen und Kollegen danken, mit denen wir lebhafte Dialoge über den Dialog oder über einzelne Aspekte desselben führen durften und die zur Entstehung des vorliegenden Buches viel beigetragen haben. Besonders bedanken möchten wir uns bei Klaus Foppa, der einen frühen Projektbericht zum »Berner Dreischritt« durchgelesen und kommentiert hat. Pascal Biber sagen wir herzlichen Dank für die Erstellung des Sach- und Personenregisters. Herzlich bedanken möchten wir uns auch bei den Studierenden der Psychologie, die sich seit 1990 in Lehrveranstaltungen mit dem Thema »Sprachliche Kommunikation« und den im Buch dargestellten Sachverhalten sehr engagiert auseinandergesetzt und lebendige Dialogforschung betrieben haben.
Einleitung
Die meisten von uns führen täglich Gespräche. In der Regel überlegen wir uns dabei nicht viel. Meistens verstehen wir andere Personen mehr oder weniger. In der Mehrzahl der Fälle genügt dieses Verständnis wenigstens für die praktischen Belange. Manchmal ist es jedoch schwierig, einander zu verstehen. Gegebenenfalls halten wir inne, denken kurz darüber nach und fahren schließlich mit Sprechen fort, oft aber gerade so, als sei nichts gewesen. Schon bald stoßen wir auf neue Probleme: Wir können unsere Gesprächspartnerinnen einfach nicht verstehen. Und wenn wir sie endlich verstehen, sind wir vielleicht nicht einverstanden mit dem, was sie so behaupten als wäre es selbstverständlich.
Probleme der Verständigung können uns das Leben erschweren. Wenn Verständigungsprobleme oft wiederkehren und zu andauernden Konflikten führen, müssen wir sie ernst nehmen und eine Lösung suchen. Ansonsten werden wir immer wieder unter ihnen leiden. Im Extremfall können uns diese Probleme bis zur Verzweiflung bringen.
Sind die Probleme der Verständigung naturgegeben? Liegt das Problem an unserer Veranlagung? An jener der Sprecherin oder an jener der Hörerin? An der mangelnden Übereinstimmung der Veranlagungen? Oder müssen wir vielmehr unser Gehirn näher betrachten? Haben Verständigungsprobleme mit unserer Art zu denken zu tun? Haben wir Probleme, einen eigenen Gedanken so zu verpacken, dass er sicher zu einem anderen Gehirn gelangt und dort in einer Weise ausgepackt werden kann, dass wieder der gleiche Gedanke zum Vorschein kommt? Oder ist gerade diese Vorstellung von Verständigung das Problem?
Kodierung von etwas auf Seiten der Sprecherin und Dekodierung zu etwas auf Seiten der Hörerin. Das ist die Welt, wie sie sich aus dem Blickwinkel des einsamen Individuums und der privatsprachlich denkenden Psychologin darstellt. Doch kann vernünftigerweise überhaupt mit dem dieses etwas referierenden einsamen Geschehen im einzelnen Kopf begonnen und von hier aus der Bezug zum Geschehen in einem anderen Kopf gefunden werden oder muss nicht notgedrungen – praktisch und damit eben auch theoretisch – mit eben diesem Bezug begonnen werden? Kann Sprache aufgrund privater Bedeutungen produziert und verstanden werden oder muss sie nicht vielmehr von vornherein in all ihren Bedeutungen als öffentlich betrachtet werden? Könnte beim privatsprachlichen Ausgangspunkt der meisten kognitiven Ansätze überhaupt abgeklärt werden, ob das Verstandene mit dem Produzierten übereinstimmt oder nicht?
Diese Fragen weisen darauf hin, dass im vorliegenden Buch nach Antworten gesucht wird, die sich in erster Linie auf die intersubjektive oder öffentliche Vermittlung von Bedeutungen beziehen. Wie erfolgt die Verständigung zwischen zwei Gesprächspartnern? Was tun die Partnerinnen, wenn sie miteinander sprechen? Was tut die Sprecherin, was tut die Hörerin?
Wir haben viele Ausdrücke für das, was andere Menschen äußern, auch für das, was Menschen über andere Menschen äußern, aber nur wenige Ausdrücke, welche die Leistungen der Hörerin zum Ausdruck bringen. Vor allem fehlt ein Konzept, welches die Kompetenzen und Bemühungen der Gesprächspartnerinnen, die Sprecherin und Hörerin, miteinander in eine echte, nicht nur postulierte Verbindung bringt.
Verständigung ist eng mit dem Verstehen verbunden und damit mit Zuhören. Möglicherweise ist das Wesentliche des Sprechens miteinander das gegenseitige Zuhören. Sprecherin und Hörerin verhalten sich zueinander. Die Sprecherin verhält sich zur Person, die zuhört, und die Zuhörerin zur Person, die spricht. Wer nicht zuhört, kann letztlich auch nicht sprechen; jedenfalls sich nicht verständigen und sich nicht einer anderen Person mitteilen – so jedenfalls lautet eine wesentliche Annahme der vorliegenden Arbeit.
Zuhören ist nicht eine passive Angelegenheit, wie viele Menschen stillschweigend annehmen. Zuhören ist ein aktives Verhalten, das höchste Aufmerksamkeit erfordert. Doch worin besteht dieses Verhalten? Und kann man es lernen? Aktives Zuhören erfolgt in ausdrücklicher Form mit Wörtern wie das übrige Sprechen auch. Das bedeutet, dass man es nachahmen und lernen kann. Das vorliegende Buch soll nicht zuletzt auch aufzeigen, wie dies vor sich geht.
Zuhören heißt, dem was andere Menschen miteinander tun und zueinander sagen, Bedeutung beizumessen. Die Psychologie und insbesondere die Kommunikationspsychologie haben die Aufgabe, Personen von Anfang an als füreinander bedeutungsvolle Personen, die miteinander leben, als Ko-Existierende, zu verstehen. Wir existieren nicht unabhängig von anderen Menschen, wir tragen immer Bilder und Repräsentanzen von anderen Personen in uns, gerade auch wenn wir schweigen oder isoliert von anderen Menschen leben.
Kaiser Friedrich II. wollte wissen, was aus einem menschlichen Gehirn wird, wenn dessen Ausbildung ausschließlich den genetischen Anlagen überlassen wird. Friedrich II. ließ zwei Kinder von Ammen aufziehen, denen er verboten hatte, mit den Kindern zu sprechen. Hiermit wollte er die – wie er sich ausdrückte – Ursprache des Gehirns herausfinden. Was war das Ergebnis dieses Versuches? Es war weder vom Kaiser noch von den Ammen erwartet worden: Die Kinder starben.
Menschen können ohne andere Menschen auf Dauer nicht existieren. Es handelt sich um eine Erkenntnis, die heute allen Menschen klar ist oder klar sein sollte: Personen sind in ihrer leib-seelischen Ausstattung von Anfang an auf andere Personen angewiesen. Dennoch wurde der Sachverhalt des notwendigen Miteinanders der Menschen bisher im Ansatz der modernen akademischen Psychologie zu wenig berücksichtigt. Menschen sind im strengen Sinne des Wortes nicht zu verstehen, wenn sie nicht von allem Anfang an als koexistierende Wesen verstanden werden.
Die moderne kognitive Psychologie, so streng wissenschaftlich und empirisch sie sich präsentiert, sieht sich dem isolierten Menschen verpflichtet und betreibt trotz oder gerade wegen ihrer grundlegenden Orientierung am Verhalten eine moderne, weil von der Sinnlichkeit weitgehend abstrahierende Art privater Innerlichkeit des Einzelmenschen. Dies gilt vor allem für die Allgemeine Psychologie, die sich nicht auf die Person, sondern auf ein kognitives Konstrukt, eine Konstruktion der Person im Vakuum, jedenfalls frei von anderen Personen, bezieht. Dies gilt aber auch weitgehend für die moderne Sozialpsychologie. Nehmen wir beispielsweise die Theorien der sozialen Wahrnehmung. Zwar wird sozusagen durch diese Theorien hindurch die soziale Welt betrachtet, doch geschieht dies aus der Perspektive eines isolierten Individuums. Dessen sozialer Hintergrund wird manchmal nicht ganz vernachlässigt, aber auch nicht systematisch im Kontext der sozialen Wahrnehmung behandelt. Dafür gibt es schließlich die Sozialisationstheorien. Doch bei diesen tauchen ähnliche Probleme auf. Das Individuum wird gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der Gruppe, gegenüber anderen Individuen betrachtet, doch meistens nicht von vornherein als Mensch im Miteinander mit anderen Menschen. Die Beziehung zu anderen Menschen wird zwar in nicht wenigen sozialpsychologischen Theorien berücksichtigt, aber diese Beziehung wird immer wieder auf das Individuum zurückgebogen und somit die zwischenmenschliche Beziehung letztlich selbstbezüglich behandelt, zumindest in der Sozialpsychologie, die innerhalb der Disziplin Psychologie und nicht innerhalb der Soziologie angesiedelt ist. Dieser Sachverhalt wird bei jenen zahlreichen Fragestellungen und Theorien besonders deutlich, die sich auf den sozialen Vergleich und mithin auf Selbstaufmerksamkeit, Selbstdarstellung und Selbstwert beziehen. Bei den Austauschtheorien und der Equity-Theorie wird direkt von den einzelnen beteiligten Personen aus die Bilanz (Profit/Verlust) bzw. die Gerechtigkeit des Austausches ins Auge gefasst, ohne die grundlegende semantische Verbindung der Interaktionspartner im Sinne eines psychologischen Prozesses vorgängig theoretisch zu würdigen. Die moderne Sozialpsychologie bleibt wie die moderne Psychologie überhaupt meistens inhaltlich subjektivistisch, so objektivistisch sie formal vorgeht.
In weiten Teilen der Psychologie in den hochindustrialisierten Ländern wird verkannt, dass das in unserer Gesellschaft übliche Identitätsdenken nicht immer und überall auffindbar ist. Es existieren nach wie vor Kultur- und Sprachräume, in denen von einem Selbst im modernen Sinne des Wortes nicht die Rede sein kann und sich der einzelne Mensch regelmäßig über die Darstellung seiner Beziehung zu anderen Menschen wahrnimmt. So wurden im ländlichen Mali Fragebögen nur gemeinsam ausgefüllt und den Forschern ihre individualistisch orientierten Fragen als in dieser Form unbearbeitbar zurückgegeben.
Demnach sind folgende von Praktikern immer wieder gestellte Fragen nicht von vornherein als sinnlos zu deklarieren: Lässt sich das psychologische Verharren in sich selbst bzw. der beständige Rückbezug auf sich selbst in eine offene interpersonelle Psychologie verwandeln? Kann von einer Psyche ausgegangen werden, die immer schon draußen ist – wenn auch nicht in der Sphäre der Götter, wie in der klassisch griechischen Welt, so doch in der Welt der Mitmenschen. Diese Welt besteht aus Freunden und Feinden, die in ihrer Einzigartigkeit nicht zu übersehen oder nicht erst nachträglich zu berücksichtigen sind, wenn das Geschäft abstrakter Selbstreferenz der globalisierten Konstruktion Mensch schon abgeschlossen ist.
In einer solchen Psychologie existieren sicherlich auch Rückbezüge auf die eigene Person. Doch dieser Selbstreflex ist nicht der Ausgangspunkt und das Allgemeine, sondern eher etwas Abgeleitetes, ein Spezialfall, der freilich unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen zur Norm aufsteigen kann. Streng genommen können sich auch selbstbezogene Personen nur über andere Personen wahrnehmen. Sie berühren einander nicht unmittelbar, aber doch fast dauernd mittelbar, insbesondere mit Symbolen, mit Sprache. Dies bedeutet nicht, dass zwischenmenschliche Übereinstimmung zu verabsolutieren ist. In einem Buch über Verständigung steht dieselbe zwar zweifellos im Zentrum des Interesses; allerdings wäre in einer weiteren Arbeit mit der Triangulierung auch die Entgegensetzung zu berücksichtigen. Wenn die Entwicklungspsychologie mehr Beachtung finden wird, ist die Frage zu stellen: Bindungs- und/oder Ablösungstheorie? Doch geht schon aus der vorliegenden Studie hervor, dass gerade auch die Behauptung einer eigenen Position Übereinstimmung und damit Verständigung voraussetzt. Damit ist aber der zweite Vorgang noch nicht auf den ersten zu reduzieren, wenngleich auch wenig für eine gleichrangige psychologische Formierung spricht.
Die Psyche einer Person lässt sich theoretisch nur durch die Begegnung zwischen mindestens zwei Personen verstehen. Das kommunikativ aufgefasste Gedächtnis kann sich jedoch als Psyche einer Person verdichten. Mit dem Verstand, der aus der Verständigung heraus betrachtet wird, und dem Denken als Selbstreflex grenzt sich die Person nicht zuletzt auch von anderen Personen ab. Die Person verflüchtigt sich also nicht. Ganz im Gegenteil. Sie gewinnt schon Leben über die schriftliche Sprache und mehr noch über die mündliche Sprache, über die Verständigung mit anderen Menschen und wird nicht länger hypostasiert.
Über Sprache, schriftliche und mündliche und wie wir noch sehen werden verbale und nonverbale, geben Menschen einander Bedeutung – ein lebensnotwendiges Unterfangen, beinahe so wichtig wie die Nahrungszufuhr. Damit lässt sich auch der eigentliche Gegenstand der Psychologie näher fassen – etwa im Unterschied zur Biologie. Angesichts der Fortschritte der Biologie kann es nicht darum gehen, die Grenzen zwischen Neurowissenschaften und Psychologie nach dem Muster vieler kognitiv orientierter Psychologen zu vermischen. Hören wir stattdessen auf die Worte des bekannten Soziobiologen Hubert Markl, die er im Rahmen seines Festvortrages zum 100-jährigen Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vorgetragen hat:
»Sprache schafft ein Weltmodell aus Symbolen, in dem und mit denen der Sprecher und die Zuhörer zusammen agieren können. Dies ist wahrhaft menschlich. Spätestens hier hört Biologie auf und fängt Psychologie an; wenn denn Psychologie nicht einfach ein Teil der Menschenbiologie, nämlich Biologie des einzigartig Menschlichen ist« (Markl, 2005, S. 26).
Die für die Psychologie wesentliche Welt der Bedeutungen, der Symbole und Sprache, beruht auf zwischenmenschlicher Übereinkunft. Die Semantik lässt sich weder auf eine private Angelegenheit reduzieren, noch kommen ihren Elementen eine oder mehrere definitive und i. d. S. objektive Bedeutungen zu, wie dies ein Wörterbuch nahelegt. Bedeutungen werden generell im gesellschaftlichen Kontext und insbesondere in und durch soziale Beziehungen geregelt, tradiert und angeeignet. Im konkreten Fall werden sie durch mindestens zwei Personen produziert und reproduziert. Wir werden sehen, dass es sich jeweils um genau bestimmbare interpersonale Relationen handelt. Bedeutungen sind, wenngleich sie u. U. lange Zeit Bestand haben können, nie absoluter Natur, sondern erweisen sich letztlich stets als relativ, was freilich nicht mit willkürlich zu verwechseln ist. Sie geben das gegenseitige Verhältnis der Menschen untereinander wieder – im eigentlichen Sinne des Wortes.
Ist eine Psychologie denkbar, die Personen nicht ausschließlich aus der Perspektive des beobachtenden und experimentierenden Naturwissenschaftlers betrachtet und ihre Psyche verdinglicht, sondern möglichst so, wie diese Personen sich zusammen verhalten und untereinander wahrnehmen? Wie müsste eine Psychologie aussehen, die sich den Personen nicht von außen aufdrängt und deren lebendiges Verhalten in ein methodisches Prokrustesbett zwingt?
Was in der Praxis tätige Psychologen seit Jahren glauben, wird heute auch von Theoretikern der Psychologie erwogen: Die naturwissenschaftliche objektive Psychologie könnte sich als ebenso einseitig wie die klassische subjektive Psychologie erweisen. Im einen wie im anderen Fall wird nicht mit dem menschlichen Miteinander begonnen. Vielleicht ist eine Synthese möglich zwischen der aktuellen, methodisch nach wie vor verhaltenswissenschaftlich orientierten Psychologie, die sich als solche primär auf das externe Geschehen bezieht, und der überkommenen introspektiven Psychologie. Die in diesem Buch vorgestellte dialogische Psychologie gibt einerseits das verbale und nonverbale Verhalten der Menschen möglichst angemessen wieder und lässt sich andererseits diese Wiedergabe von eben diesen Menschen bestätigen oder in Abrede stellen. Methodologisch gesehen wird eine Psychologie postuliert, die von der Kommunikation nicht abstrahiert wie die empirisch-analytische, sondern ihren selbstverständlich gegebenen kommunikativen Charakter betont und methodisch nutzt.
Am Anfang der europäischen Philosophie stand der Dialog. Allerdings wurde schon früh die Auseinandersetzung monologisiert. In der modernen Philosophie spielt der Dialog keine große Rolle mehr. Es gibt zwar einige Philosophen, für die der Dialog weiterhin wichtig ist, doch die meisten aktuellen philosophischen Probleme werden nicht mehr über den Dialog zu lösen versucht. In der modernen Sprachwissenschaft haben wir eine etwas andere Situation. Die Ansätze, die das Erzählen thematisieren, die narrativen Ansätze, beziehen sich zwar nicht vollständig auf die Erzähler, sondern berücksichtigen zuweilen auch die Zuhörer, doch wurde das, was diese Zuhörer tatsächlich tun, wenig beachtet. Teilweise änderte sich dies mit der modernen Diskursanalyse, in der immerhin wichtige Momente der Verständigung wie etwa Redewechsel und Rückmeldeakte behandelt werden. Allerdings wird im sprachwissenschaftlichen Rahmen auf psychologische Probleme höchstens am Rande eingegangen. Demgegenüber besteht das Anliegen der vorliegenden Arbeit darin, auf die Bedeutung der Verständigung für die Kommunikationspsychologie sowie die Psychologie insgesamt aufmerksam zu machen.
1 Ausgangspunkte der Verständigung
Dialogähnliches Verhalten und Ansätze der Verständigung spielen in der Entwicklung der Menschen eine wichtige Rolle. Nach Hinweisen auf naturgeschichtliche und entwicklungspsychologische Ausgangspunkte der gegenseitigen Verständigung wird die Verständigung auch im Rahmen der Entwicklung des Kommunikationsbegriffs betrachtet.
1.1 Phylogenetische Ausgangspunkte
Dialogähnliche Vorgänge oder Vorformen des Dialoges spielen bereits in der Tierwelt eine Rolle und dies nicht nur bei Säugetieren, sondern beispielsweise auch bei Vögeln. So konnte Spitz (1988) zeigen, dass bei der Prägung von Entenküken eine ausschließliche Stimulation durch den Lockruf der Entenmutter auf Dauer nicht genügte, die Folgereaktion der Küken auszulösen. Erst als zusätzlich ins Modell der Entenmutter ein Mechanismus eingebaut wurde, der auf den Pieplaut der Küken antworten konnte, gelang es, diese so weit zu stimulieren, dass sie der Entenmutter zuverlässig und dauerhaft nachfolgten.
Kann man im geschilderten Verhalten bereits eine Vorform des Dialoges sehen? Zum dialogischen Verhalten gehört neben ansprechendem Verhalten auch antwortendes Verhalten (Respondence). Lineare Reiz-Reaktions-Verhältnisse werden zu Verhaltensweisen, deren Ergebnisse zu einer neuen Voraussetzung des Verhaltens werden. Mit der Rückkoppelung entstehen frei zirkulierende Informationen, die als solche erst eine Verständigung über Bedürfnisse oder über lebensbedrohliche Situationen ermöglichen (vgl. u.a. Schurig, 1975).
Nach Holzkamp (1983) erscheinen zwar die für das dialogische Verhalten relevanten Voraussetzungen wie Wahrnehmung von Bedeutung, Sensibilität, Emotionalität und Orientierung schon früh in der Naturgeschiche. Doch erst mit der Herausbildung artspezifischer Lernfähigkeit ergibt sich die Fähigkeit zur Veränderung und Differenzierung. Jeder einzelne Organismus kann sich nun verändern. Diese Modifikation geht nicht in den weiteren Erbgang ein. Nur die Modifikabilität als solche gehört fortan zum festen Bestand der Naturgeschichte. »Genetisch vorbereitet ist nichts so sehr wie die differenzierende Entfaltungsmöglichkeit