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Berlin Ecke Bundesplatz: Das Buch
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eBook284 Seiten3 Stunden

Berlin Ecke Bundesplatz: Das Buch

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Über dieses E-Book

Das Viertel um den Bundesplatz in Berlin ist ein typisch deutscher Mikrokosmos. Die Filmemacher Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich beobachten und filmen seit über 25 Jahren ausgewählte Bewohner dieses Kiezes. Wie schon die Filme kommt das Buch seinen Protagonisten sehr nahe, zeigt sie mit all ihren Eigenheiten und Schrullen, ohne sie dabei bloßzustellen. Das gelingt umso authentischer, als die Filmemacher dieselben Personen über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder besucht haben. So entstehen keine flüchtigen Momentaufnahmen, sondern tiefgründige Einblicke in das Auf und Ab unterschiedlicher Lebenswege. Mit Fotografien von Ingeborg Ullrich. "Hinter der vermeintlich langweiligen Normalität verstecken sich Minidramen mit manchmal grotesken Pointen, hinter unauffälligen Fassaden schrullige Typen, großes Glück und großes Unglück" die tageszeitung
SpracheDeutsch
HerausgeberBeBra Verlag
Erscheinungsdatum3. Sept. 2013
ISBN9783839341100
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    Buchvorschau

    Berlin Ecke Bundesplatz - Claudia Lenssen

    Kiezes.

    Ein Solisten-Ensemble

    Familie Köpcke

    Die Köpckes sind eine musikalische Familie. Köpcke-Bande nannten sie sich, als die Kinder und der Vater eine Art Trapp-Familie gründen und berühmt werden wollten. Das ist lange her. Statt Kinderstars zu werden, womöglich im Privatfernsehen, das vor der Jahrtausendwende hemmungslos expandierte, gingen die jüngeren Köpcke-Kinder in Wilmersdorf zur Schule und suchten ihre eigenen Wege ins Leben. Der kesse Name Die Köpcke-Bande blieb indes als Titel ihres Familienporträts in Berlin – Ecke Bundesplatz erhalten.

    Rund fünfzehn Jahre war eine große Erdgeschosswohnung in der ruhigen Koblenzer Straße ihre Basisstation und Heimat, das Nest der Köpckes. Seither sind sie in viele Winde zerstreut, treffen sich aber zu gemeinsamen Gesangsprojekten immer wieder. Die Fliehkräfte, die sie vom alten Familienmodell wegtragen, sind mindestens so stark wie die Sehnsucht nach Nähe, vor allem zwischen den Großeltern und den neun Enkelkindern, zu denen um die Jahreswende 2013 das zehnte, die kleine Matilda, hinzukam.

    Wie jeder Familienroman stellt die Geschichte der Köpckes, die in Berlin – Ecke Bundesplatz erzählt und im Leben außerhalb der Dokumentation fortwährend ergänzt wird, Fragen, die alle Menschen gleichermaßen beschäftigen. Wie viel Glück, wie viel Scheitern wiederholt sich in den Lebensmustern der Generationen? Welche Brüche, Einschnitte und Zufälle fordern zu Entscheidungen, zu neuen Taten heraus? Wie behütet man seine Kinder und bereitet sie doch auf die Härten vor? Was bedeutet Familie in gut situierten bildungsbürgerlichen Kreisen heute? Was ist Glück? Sollte man Konflikte ergründen und Zerreißproben riskieren oder sie besser überspielen und gleich einem Konzert mit Schall und Rauch in Harmonie auflösen? Die Antworten, so viel steht fest, sind nicht auf einen Nenner zu bringen.

    Ulli von Soden-Köpcke macht bei unserem Treffen anschauliche, ausgreifende Armbewegungen, als sie erstaunt und freudig registriert, wie sich die Kreise schließen. So sind sie und ihr Mann nach elf Jahren Landleben seit 2011 wieder in Berlin ansässig. Sohn Moritz ist mit seiner Frau Vivi und zwei Kindern nach ein paar Jahren in Schweden ebenfalls nach Berlin zurückgekehrt, wenn auch vermutlich nicht für immer. Die Töchter Maria und Antonia wurden beide Sängerinnen – eine Parallele zu ihrem Vater Niels, der bis vor wenigen Jahren in seinem Sängerberuf Altus-Partien sang. Alle drei eint die Liebe zur alten Musik, so dass sie hin und wieder zu Konzerten zusammenfinden. Antonia arbeitet als Musiklehrerin just an der Birger-Forell-Grundschule in der Koblenzer Straße, die alle drei jüngeren Köpcke-Kinder besucht haben. Nicht zuletzt: Maria und Antonia wurden beide zu Beginn ihres Studiums schwanger und lebten einige Zeit als alleinstehende Mütter, bevor sie ihre jetzigen Lebenspartner fanden. Ein Tabu war das nicht, bekräftigt Ulli, die als junge Frau selbst eine ähnlich schwierige Situation erlebte.

    Bei meinem Besuch in der Wohnung des Ehepaars in Berlin-Wannsee sitzen wir umgeben von Büchern, Noten und selbst geschreinerten Landhausmöbeln beisammen. Ulli Köpcke – auf den vollständigen Namen legt sie nicht unbedingt Wert – erzählt mit strahlendem Sonnengesicht und ansteckendem Lachen von den Kindern und Enkeln und ihren kommenden Aktivitäten. Hund Ronja hat sich nach lautem Begrüßungsgebell zum Schlafen niedergelassen. Niels Köpcke, ein Mann mit weißer Löwenmähne und Backenbart, dem man die Liebe zum Kochen und guten Leben ansieht, knüpft zufrieden an das Bild von den sich schließenden Kreisen an. Auch der nächste Coup der unternehmungslustigen Köpckes wiederholt einen gelebten Traum. Seit Herbst 2012 sind sie nämlich stolze Besitzer eines Häuschens am Vätternsee in Schweden. Die nördlichen Wälder, der weite Himmel und das kühle Süßwasser locken sie, denn schon in den neunziger Jahren verbrachte die Familie jedes Jahr die Ferien in einem Schwedenhäuschen in Östergotland. Wie damals kann Niels Köpcke im neuen Haus zimmern und schreinern, alle Kinder mit Partnern und Enkeln können hier gemeinsam Ferien machen. Stolz zeigt er die Bilder des neu erworbenen Astrid-Lindgren-Idylls.

    Familie Köpcke, 1992

    Im ersten Schwedenhäuschen zimmerte er eine Veranda und schmückte sie mit gedrechselten alten Berliner Treppengeländern. In Wilmersdorf gehörte das Sägen, Schleifen und Schnitzen auch zum Alltag. Musikinstrumente und Noten wurden einfach abgedeckt, eine Decke auf dem Boden ausgebreitet und los ging’s mit Niels’ Herzenshobby, erzählt seine Frau.

    Zwei Hauptberufe füllten darüber hinaus die Tage prall. Niels Köpcke ist Sänger, Chorleiter, Arrangeur und Komponist. Doch den sicheren Lebensunterhalt für die Familie verdiente er als Sprecher, genauer: als Redner bei Trauerfeiern und Beerdigungen. Bis heute geht er dieser Profession nach – pro Auftrag ein Vorgespräch mit den Angehörigen, das Konzipieren der Rede, die Anfahrt und die Sache selbst.

    1998 – die Kinder, noch nicht alle, standen auf eigenen Füßen – kaufte das Paar unter günstigen Konstellationen einen Vierseithof im Ruppiner Land. Wieder geliebte Bauarbeiten: für eine neue Veranda, einen Holzboden in der Feldsteinscheune, eine Bühne, die fachgerechte Elektrik und so weiter. Auch Holzskulpturen für den Hof entstanden, Blumenrabatten, Baumstumpfsitze ums Lagerfeuer und vieles mehr. Die Apfelbäume, die Blumenbeete und Schafe, die den Hof billig mähten, dazu die Katzen und Ronja, der Hund – Arbeit genug. Lange Autofahrten waren notwendig, flexibel arrangiert für die Begräbnisreden oder aber die Betreuung der Enkelkinder, wann immer sie möglich und nötig war. Auch das Leben in der Banzendorfer Dorfgemeinschaft, in Vereinsund Förderinitiativen und der lokalen Kulturpolitik war wichtig. Die Banzendorfer Kulturscheune, 1999 locker improvisiert im attraktiven Hof-Gebäude der Köpckes, wurde ein Markenzeichen. Elf Jahre lang waren sie die Organisatoren eines jährlichen Festivals der kulturellen Vielfalt, das ohne ihre Initiative nie entstanden wäre. Die Energie schien unerschöpflich, bis die Knochen knirschten.

    Wir hören auf, wenn’s am besten schmeckt, begründete Niels Köpcke ihren Entschluss im Lokalblatt Märkische Allgemeine. Ulli erinnert sich in unserem Gespräch an ihr mulmiges Gefühl, als jemand während des Festivals bedauernd bemerkte: Das ist aber viel Arbeit, Frau Köpcke! Wenn es angestrengt wirkte, wie sie Tabletts über den Hof trug, dann konnte die Sache nicht mehr so recht stimmen. Die Idee war doch, ihre Freude an der Musik mit den Besuchern zu teilen.

    Jetzt, nach einem Jahr in Berlin, haben sie sich erholt. Der neue Traum erfüllt sie ganz. Trotz Niels Köpckes angegriffener Gesundheit ist die Kraft wieder da, elf Stunden nach Schweden zu reisen – ein paar Stunden Fähre inklusive. Von nun an pendeln sie in größeren Abständen wieder zwischen Stadt und Land, Zweisamkeit und Großfamilie, Geldverdienen, Holzbau und Musik. Das neue Haus, diese verrückte Sache, wie Niels Köpcke einräumt, beweist einfach, dass noch möglich ist, was er in Berlin – Ecke Bundesplatz nach einer schweren Operation als sein Lebenselixier gegen die Gewissheit des Todes beschrieb: intensiv und gut ausgefüllt zu leben. Im selben Film sagte seine Frau Ulli über ihre Rolle in der Familie: Ich strebe danach, wie eine Radnabe die Mitte, das ruhige Zentrum zu sein – was ich nie schaffen werde! Sie ist mittendrin in der geliebten Übung.

    Divertimento Vokale, 1988

    Ein Zufall machte Familie Köpcke mit dem Team von Berlin – Ecke Bundesplatz bekannt. Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm waren auf der Suche nach dem ehemaligen Schulsenator Carl-Heinz Evers, der in der Koblenzer Straße wohnte. Sie irrten sich in der Hausnummer, so dass der Name des Gesuchten auf keinem Briefkasten zu finden war. Immerhin fiel ihnen ein Zettel ins Auge, auf dem Niels Köpcke ein Konzert ankündigte, das sein Gesangsquartett Divertimento Vocale in der Wilmersdorfer Auen-Kirche geben würde. Die Filmemacher klingelten bei den Köpckes, um mehr über die Musiker in Erfahrung zu bringen, und trafen auf die quirlige Familie. So wurden die ersten Verbindungen geknüpft. Man kam ins Gespräch über ihr Projekt und bald standen die Köpckes vor der Frage, ob sie sich für die Alltagschronik des Kiezes filmen lassen wollten.

    Niels Köpcke hatte Divertimento Vocale 1986 zusammen mit drei Sänger-Kollegen gegründet. Das Ensemble widmete sich der geistlichen und höfischen Musik, diversen Volkslied- und Kunstliedtraditionen sowie mehrstimmig bearbeiteten alten Schlagern. Die heitere unterhaltsame Seite der A-Capella-Musik stand ganz oben auf dem Programm. Köpcke, der ausgebildete Counter-Tenor, suchte wie alle Sänger in dieser außergewöhnlichen Stimmlage enthusiastisch danach, sein Repertoire zu erweitern. Er bearbeitete Chorsätze und Lieder für das Ensemble und probte mit seinen Partnern in der Familienwohnung, nebenher die Organisation der Auftritte und die Werbung dafür. Von Berlin – Ecke Bundesplatz erhoffte er sich eine gute Portion zusätzliche Außenwirkung, einen wahren Werbeschub. Und da auch die Köpcke-Kinder viel mit dem Vater sangen und gern bei kleinen Couplets und selbstgeschriebenen Liedern mitmachten, während Ulli privat begeistert mitsang, allen den Rücken freihielt und fürs alltägliche Wohlfühl-Divertimento zuständig war, ging die Familie selbstbewusst auf das Interesse der Filmemacher ein.

    Maria, Moritz und Antonia waren neun, acht und fünf Jahre alt, als die Köpckes das Team zu ausgewählten Szenen ihres Familienlebens in die Koblenzer Straße 8 einluden.

    Eine dieser Ur-Episoden in Berlin – Ecke Bundesplatz zeigte die fünf beim Frühstück im Bett. Das Besondere: ein extrem langer selbstgebauter Tisch überdeckte das Bett der Eltern, so dass alle bequem sitzen, Brötchen schmieren und Joghurt essen konnten.

    Frühstück im Bett, 1986

    Nesthäkchen Antonia, genannt Toni, thronte zwischen Vater und Mutter am Kopfende, Maria und Moritz ihnen gegenüber, dazwischen ein graues Kätzchen. Man saß gemütlich kauend in Morgenmänteln beisammen. Das Löwenhaupt des Vaters war noch braun, die Mutter trug dieselbe dunkelblonde Cleopatra-Frisur wie heute. Den Kindern Maria, Toni und Moritz, genannt Momo, sah man an, dass sie leicht verträumt eine gemütliche Runde wiederholten, die ihnen sehr vertraut war – völlig unbeeindruckt von der Anwesenheit der Filmemacher.

    Das Frühstücksritual war für Toni der Inbegriff ihres Kinderglücks. Auch zwanzig Jahre später erinnerte sie sich an die Geborgenheit. Sie erzählte, dass sie eine Kerze, die noch wie damals duftete, unter verpackten alten Kindersachen wiedergefunden hatte und Heimweh nach dem Unwiederbringlichen in ihr aufgestiegen war. Der Verlust der Kindheit blieb für die jüngste Tochter lange Zeit schmerzlich.

    Maria Köpcke, die das Wilmersdorfer Nest aus eigenen Stücken relativ früh verließ, zählte die Filmemacher, mit denen die ganze Familie freundschaftlich verbunden blieb, zu ihren schönen Kindheitserinnerungen hinzu. Ihr seid ein Stück meiner Heimat, schrieb sie auf eine Postkarte an Känguruh-Film, als alle Köpckes den Kiez verlassen hatten – dankbar für beides, ihre Kindheit und die auf Film festgehaltenen Lebensgeschichten.

    Auch Niels Köpcke fand sich in den abgebildeten Episoden wieder. Einem Reporter erklärte er später, wie gut der Zusammenklang zwischen ihrem Alltag im und außerhalb des Films war: Mal abgesehen vom ersten halben Jahr, hat sich der Film so selbstverständlich in unser Leben eingefügt, dass wir uns eigentlich nicht mehr haben beeinflussen lassen. Wir waren so, wie wir waren.

    Florian von Soden, Ullis Sohn aus erster Ehe, fehlte indes im Familientableau. Er sah sich selbst als Leerstelle in der Filmdokumentation und hatte als vielbeschäftigter Geschäftsmann und Vater keine Zeit, seine Geschichte in einem persönlichen Gespräch zu ergänzen. Der 1970 geborene Florian war ein pubertierender junger Mann von sechzehn Jahren, als die Köpckes zu Berlin – Ecke Bundesplatz stießen. Während der frühen Dreharbeiten, beim Frühstück im Bett beispielsweise, lebte er bei seinem leiblichen Vater in Bayern. Später hatte er sein eigenes Reich in einer kleinen Hauswartwohnung im selben Stockwerk wie die Köpckes, allerdings begehbar vom Hof aus, also wunderbar frei von der elterlichen Kontrolle über Kommen und Gehen. Gefragt nach dem großen Bruder, bedauerte Maria im Gespräch, dass Florian schon weg war, als ich anfing, mich dafür zu interessieren, dass ich einen großen Bruder hab’.

    Die Köpckes vergaßen nie, den scheinbar verlorengegangenen Sohn in ihren Äußerungen über Berlin – Ecke Bundesplatz zu erwähnen. Niels Köpcke vermutete, Grund für die fehlenden Drehs sei das Dilemma der Filmemacher gewesen, nach Florians Rückkehr schwerlich einen sechsten Protagonisten in die Dramaturgie einführen zu können. Das Team seinerseits konstatierte, dass Florian in Phasen sehr präsent in der Familie gewesen sei, hilfsbereit und explizit zugehörig, zu anderen Zeiten jedoch eigene Wege ging und keine ihn betreffenden Einladungen zum Dreh von der Familie gekommen seien. Spannungen, wie sie wohl in allen Patchwork-Familien zutage treten, mochten eine Rolle gespielt haben, wurden von den Köpckes jedoch zu dem privaten Bereich gezählt, der in Berlin – Ecke Bundesplatz nicht verhandelt werden sollte. Wie alle Protagonisten der Langzeitdokumentation reklamierten sie, dass das Private letztlich doch privat bleibt, so im Nachhinein das Resümee einer Reporterin, die über die Banzendorfer Fernsehstars schrieb.

    Im selben Artikel unterstrich Niels Köpcke, dass die Filmarbeit für ihn ein Fotoalbum sei, ein schöneres über unser Familienleben könnten wir nicht haben.

    Anhand von Kinderfotografien in Schwarzweiß warf der Film Die Köpcke-Bande indes tatsächlich ein Licht auf Florian. Sie zeigen den properen fröhlichen Jungen und seine Mutter. Ulli von Soden-Köpcke erzählte zu diesen Reminiszenzen, dass sie sich aus eigenem Erleben gut mit dem schwierigen Alltag ihrer Töchter Maria und Antonia identifizieren konnte, die beide kurz nach der Jahrtausendwende Mütter geworden waren und ihre Kleinkinder größtenteils allein betreuten. Als sie mit Florian in den frühen siebziger Jahren nach Berlin zurückkehrte und ihre erste Ehe geschieden wurde, waren die Bedingungen andere, aber den bekannten Zwiespalt zwischen Belastung und Freude erfuhr sie am eigenen Leib: Frauen in der Situation haben es unendlich schwer, aber sie bekommen auch sehr viel von den Kindern zurück – darüber wird viel zu wenig gesprochen, ist Ulli Köpcke überzeugt.

    Das Bild, das sie dann in den späten achtziger Jahren in Berlin – Ecke Bundesplatz von sich und ihrer neuen Familie zeichnete, betonte unwillkürlich eine andere Lebensphase. Die Köpckes balancierten die unterschiedlichen Interessen zwischen Künstlerexistenz und bürgerlich behütetem Familienleben unter Wahrung der traditionellen Rollenbilder aus. Die Experimente, die um 1968 neue Lebensformen kreierten, schienen in ihrem Außenbild in aller Zufriedenheit beerdigt. Der Kommentar in Berlin – Ecke Bundesplatz benannte lakonisch die Fakten: Das ist Ulli Köpcke – früher war sie Tänzerin, heute ist die Hausfrau. Und: Niels Köpcke hat zwei Berufe, er ist Sänger und Begräbnisredner. Was die Köpckes in Berlin – Ecke Bundesplatz über sich erzählten, beschrieb ein sich Einrichten im stabilen, eher konservativen Familienmodell, das die gute Ausbildung der Kinder, allerlei Freiraum für die Chormusik und nicht zuletzt das Banzendorf-Abenteuer ermöglichte. Zwei Dinge waren wichtig. Zum einen, dass wir uns die Zweisamkeit erhalten. Zum andern das Glück, wohlgeratene Kinder ins Leben zu entlassen. Ein Erntefest, nennt Ulli Köpcke heute die Freude des Paares über das Gelungene.

    Ulrike von Soden-Köpcke, geborene Pinzler, kam 1946 aufgrund von Nachkriegswirren in Flensburg zur Welt, wuchs jedoch in Westberlin auf, wo ihre Familie herstammt. Ihre Eltern waren Gymnastiklehrer, eng verbunden mit den deutschen Größen der modernen Gymnastik- und Tanzbewegung, die schon in den zwanziger Jahren eigene Schulen errichteten. Rudolf von Laban, Mary Wigman, deren Schüler Harald Kreutzberg, Gret Palucca, Dore Hoyer und Kurt Jooss gehörten zu den großen Vorbildern, die das klassische Ballett ablehnten und ihre künstlerischen Choreographien aus Bewegungselementen der rhythmischen Gymnastik und der freien Improvisation entwickelten. Der einflussreichste Lehrer der Eltern war Hinrich Medau, der sich als Sportpädagoge verstand und ab 1929 eine prominente Gymnastikschule in Berlin leitete, wo beide Eltern arbeiteten. Hinrich Medau und andere Vorreiter der rhythmischen Gymnastik arbeiteten auch im Nationalsozialismus weiter. Das moderne Körperbild ihrer Lehren wurde in Teilen vom Bund deutscher Mädchen (BDM) aufgegriffen und als nordischer Schönheitsbegriff propagiert. Neben der pädagogischen Arbeit in ihren Studios choreografierte Medau auch Bewegungschöre, wie sie heute vor allem durch die Olympia-Filme von Leni Riefenstahl zu markanten Zeichen ornamentaler Masseninszenierung geronnen sind. Ullis Mutter Ruth tanzte als ganz junges Mädchen mit hunderten anderen im Beiprogramm zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 mit. Hinrich Medaus Schule, im Krieg nach Breslau und bei Kriegsende nach Flensburg verlegt, wurde schließlich in Coburg neu eröffnet und von dessen Sohn zu einer der heute größten Ausbildungsstätten für Physiotherapeuten, Sport- und Tanzpädagogen weiterentwickelt.

    Ulli Köpcke, 1997

    Ulli nahm die Körperkünste der rhythmischen Gymnastik schon mit der Muttermilch auf. Im Gespräch erinnerte sie sich, als Kind immer den Beinamen die fröhliche Ulli gehabt zu haben. Und, fügte sie hinzu, wir waren alle so harmoniesüchtig. Mit sechzehn oder siebzehn – die präzise Erinnerung verflüchtigte sich – wechselte sie ins Studio von Mary Wigman in der Rheinbabenallee, um dort die künstlerischen Ausdrucksmittel des modernen Tanzes zu studieren. Wie ein Schwamm habe sie aufgesogen, was ihr dort geboten wurde, wenn beispielsweise Samy Molcho, der Gott der Pantomime, einen Kurs leitete. Ich hab’ auch Ballett gemacht, für die Prüfung, aber wir waren immer stolz darauf, Moderne zu sein, erklärte sie ihren Tanz-Schwerpunkt später in Berlin – Ecke Bundesplatz.

    Als Gymnastiklehrerin konnte Ulli mit ihrer Ausbildung jederzeit arbeiten, daneben aber interessierte sie die Mitarbeit bei Motion, einer freien Gruppe, die eigene Modern-Dance-Choreografien entwickelte. Die Gruppe trat unter anderem in der Westberliner Akademie der Künste auf und gastierte in Hamburg, Hannover und anderswo; eines ihrer prominentesten Mitglieder war die Tänzerin und Choreografin Susanne Linke. Ihre intensivste berufliche Phase erlebte Ulli in der Gruppe Neuer Tanz Berlin unter Maja Chmièl.

    Parallel zur Arbeit im Mary-Wigman-Studio kam das Angebot, bei Wieland Wagners Inszenierungen in Bayreuth mitzuwirken. In Bewegungschören, die Teil seiner legendären Neu-Bayreuther Interpretationen der Opern seines Großvaters waren, tanzte Ulli nach Choreografien von Wagners Frau Gertrud auf der Bühne des Festspielhauses. Das Bacchanal in Tannhäuser ist ihr in glänzender Erinnerung, auch die Blumenmädchenszene in Parsival oder lichtdramaturgisch raffinierte Szenen in Die Meistersinger und Götterdämmerung. Zehn Wochen spartanisches Leben in Bayreuther Unterkünften, faszinierende Proben unter den beiden Wagners und dann die beifallumrauschten Aufführungen – die kurze heftige Tanzkarriere im Schlagschatten des bewunderten Wieland Wagner, der Bayreuth vom Nachhall der Nazi-Ära zu befreien versuchte, versetzte die Nachwuchstänzerin in große Begeisterung. Wieland Wagners überraschender Tod im Herbst 1966, so erinnert sich Ulli Köpcke, war ein schockierender Bruch – eine Welt brach da zusammen.

    Solange sie Tänzerin war, habe sie nichts anderes gehabt und sich rund um die Uhr auf die Oper und die Tanzprojekte einlassen können, erzählte sie in Berlin – Ecke Bundesplatz, als sie die eigene Karriere mit den Startbedingungen ihrer Töchter verglich. Irgendwann in der Bayreuther Ära begegnete der kaum zwanzigjährigen Tänzerin der acht Jahre ältere Münchener Kameramann Freiherr

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