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Das Leben ist ungerecht
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eBook128 Seiten1 Stunde

Das Leben ist ungerecht

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Über dieses E-Book

Angesichts von Krisen und Zukunftsängsten fragt Thomas Macho nach den Grenzen der Fairness. Denn einerseits gilt: "Alle Menschen sind gleich", andererseits wissen wir auch: "Das Leben ist ungerecht".

Krankheiten, Behinderungen, Lebensdauer und Todesarten stellen die sozialpolitischen Ideale der Gerechtigkeit infrage. Was nützen Arbeitszeit- und Steuerausgleichszahlungen, Kindergeld und Renten, Versicherungen und Bausparkredite, wenn manche Menschen schon als Kinder im Elend sterben, andere dagegen ein Jahrhundert - womöglich in Glück und Reichtum - erleben dürfen? Wie kann die Solidarität der Sterblichen, Fundament der Demokratie seit der griechischen Antike, mit der Sehnsucht nach Überleben in Einklang gebracht werden? Auf der Suche nach neuen Antworten diskutiert der bekannte Philosoph und Kulturwissenschaftler Thomas Macho die Frage nach dem Widerspruch zwischen Sterblichkeit und Gerechtigkeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum20. Feb. 2012
ISBN9783701742721
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    Buchvorschau

    Das Leben ist ungerecht - Thomas Macho

    Utopie.

    »Einer von den Schächern wurde erlöst.

    Pause.

    Das ist ein guter Prozentsatz.«¹

    SAMUEL BECKETT

    Grenzen der Gerechtigkeit

    1.

    Zu den Grundprinzipien moderner Moral zählt die Gewissheit: ›Alle Menschen sind gleich.‹ Dieser Satz hat den Niedergang und die Wiederkehr der Religionen ebenso erfolgreich überlebt wie alle Versuche, seinen Sinn exklusiv zu erfassen und folglich die Gattung in Über- und Untermenschen einzuteilen. So heißt es etwa in der Präambel der US-amerikanischen Declaration of Independence (vom 4. Juli 1776): »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal«, und im ersten Artikel der französischen Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (vom 26. August 1789): »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits«, »die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es«. Der erste Satz des ersten Artikels der Universal Declaration of Human Rights, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossen wurde, lautet: »All human beings are born free and equal in dignity and rights«; und auch die Präambel des Vertrags über eine Verfassung für Europa (vom 29. Oktober 2004) beginnt mit der Berufung auf das »kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben«. Zusammenfassend lässt sich also folgern, dass die Idee, Menschen seien von Natur aus gleich – jenseits der Frage, ob sie von Natur aus böse sind (wie Thomas Hobbes befürchtete) oder gut (wie Jean-Jacques Rousseau hoffte) –, zu den elementaren Forderungen einer modernen Verfassung gehört. Niemand soll durch seine Geburt bevorzugt oder benachteiligt werden. Dabei meint Gleichheit – egalité, equality – nicht nur Gleichheit vor dem Gesetz (wie im dritten Artikel des deutschen Grundgesetzes), nicht nur Gleichberechtigung der Geschlechter, Abstammungen, Sprachen oder Religionen, sondern auch Chancengleichheit, etwa in Bildung, Arbeit, wirtschaftlichem, politischem oder sportlichem Wettbewerb.

    ›Alle Menschen sind gleich.‹ Und dennoch wissen wir: Dieser Satz kollidiert unentwegt mit der Wirklichkeit. Eine andere, nicht weniger elementare Gewissheit der Moderne lautet darum: ›Das Leben ist ungerecht.‹ Als der zwangsneurotische Schriftsteller Melvin Udall (gespielt von Jack Nicholson), der schwule Maler Simon (Greg Kinnear) und die Kellnerin Carol (Helen Hunt) zu einer gemeinsamen Autofahrt aufbrechen, entspinnt sich – in As Good As It Gets, einer mit zwei Oscars ausgezeichneten Filmkomödie (1997) des Regisseurs James L. Brooks – ein Gespräch über traumatische Erinnerungen. Simon erzählt, er habe seit seiner frühen Kindheit gemalt, stets ermutigt durch eine Mutter, die gelegentlich nackt für ihn posierte: »Well, one day my father came in on one of those painting sessions when I was nine – and he just started screaming at her – at us – at evil. I was trying to defend my mother and make peace, in the lamest way. I said, ›she’s not naked – it’s art.‹ And then he started hitting me.« Melvin, ein wenig eifersüchtig auf das Interesse, das die Kellnerin dem Bericht Simons entgegenbringt, unterbricht mehrfach, erwähnt seinen eigenen Vater, der elf Jahre lang das Zimmer nicht verlassen und ihn mit einem Stock auf die Finger geschlagen habe, wenn er beim Klavierspiel patzte. Carol reagiert jedoch nicht auf Melvins Geschichte; sie resümiert vielmehr, nach einer zärtlichen Berührung der Wange Simons: »We all have these horror stories to get over.« An dieser Stelle widerspricht jedoch Melvin mit Nachdruck: »That’s not true. Some of us have great stories … pretty stories that take place at lakes with boats and friends and noodle salad. Just not anybody in this car. But lots of people – that’s their story – good times and noodle salad. And that’s what makes it hard. Not that you had it bad but being that pissed that so many had it good.«

    Die ungerechte Verteilung von Booten mit Nudelsalat ist ärgerlich; doch kann sie vermutlich hingenommen werden. Sie ist auf den ersten Blick ebenso akzeptabel wie die von Natur aus ungerechte Verteilung von Schönheit, Intelligenz oder Stärke, wie die Testosteronwerte im Blut mancher Athleten, auf die sich der ehemalige Diskuswerfer, Sohn eines Chemieprofessors und spätere Doping-Papst Angel Heredia berufen hat, in einem Interview, das am 11. August 2008 – anlässlich der gerade eröffneten Olympischen Spiele von Peking – im Nachrichtenmagazin Der Spiegel publiziert wurde. Gegen Ende des Gesprächs wurde Heredia gefragt, ob er denn »eigentlich für die Freigabe des Dopings« plädiere; die Antwort lautete: »Nein, aber ich glaube, wir sollten Epo [Erythropoetin, ein Glykoprotein-Hormon, das die Bildung roter Blutkörperchen beschleunigt], die IGF [insulinähnliche Stoffe] und Testosteron freigeben, außerdem Adrenalin und Epitestosteron, jene Stoffe also, die der Körper auch selbst produziert – schon aus pragmatischen Gründen, weil nämlich die Verfolgung unmöglich ist, aber auch wegen der Fairneß.« Der Redakteur fragt verblüfft nach: »Das ist Ihr Ernst: Fairneß?« Antwort: »Ja, nehmen wir die populärste Droge: Epo. Epo verändert den Hämoglobinwert, und die Menschen haben nun einmal unterschiedliche Hämoglobinspiegel. Die Freigabe würde also jene Gerechtigkeit und Gleichheit ermöglichen, die angeblich alle wollen. Es gibt nun mal genetische Unterschiede zwischen Athleten. […] Normale Athleten haben einen Level von 3 Nanogramm Testosteron pro Milliliter Blut; der Sprinter Tim Montgomery hat 3 Nanogramm, Maurice Greene aber hat 9 Nanogramm. Was kann Tim tun? Nicht Doping mit körpereigenen Stoffen ist ungerecht, die Natur ist ungerecht.«² Mit ähnlicher Argumentation könnte genetisches Doping legitimiert werden. »Es wäre ein Horror-Szenario: Die Athleten spritzen sich Gene für Ausdauer, für Schnelligkeit, für Reaktionsvermögen.«³

    2.

    Die Diskussion um Boote mit Nudelsalat oder Testosteron-Quoten wirft die Fragen auf, welche Ungerechtigkeiten akzeptiert werden können und welche Ungerechtigkeiten bekämpft werden müssen. Welche Ungleichheiten zwischen Menschen sind erträglich, vielleicht sogar wünschenswert, und welche Ungleichheiten dürfen nicht toleriert werden? Anders gefragt: Worin bestehen die elementaren Ansprüche des Lebens? Auf welche Lebensinhalte und Gestaltungsmöglichkeiten sollte nicht verzichtet werden? Auf den ersten Blick wirkt die Antwort naheliegend und einfach: Ein gutes Leben braucht beispielsweise Trinkwasser. Nicht umsonst hat die UN-Vollversammlung am 28. Juli 2010 den Anspruch auf sauberes Wasser zum Menschenrecht erklärt; aus dieser Entscheidung lässt sich aber kein Recht auf ein bestimmtes Mineralwasser ableiten. Ein gutes Leben braucht Gesundheit, vermutlich aber keine Goldtinkturen; es braucht Bildung, aber kein Studium in Eton; es braucht Mobilität, aber keine Motorboote; es braucht Nahrungsmittel, aber nur ausnahmsweise Nudelsalat. Wie aber sollen Ansprüche und Qualitäten des Lebens definiert werden, damit sie nicht in Widerspruch geraten zur Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind? Im Anschluss an den indischen Ökonomen und Sozialwissenschaftler Amartya Sen⁴ hat die Rechtsphilosophin und Ethikerin Martha C. Nussbaum, Professorin an der University of Chicago, eine Liste von zehn Fähigkeiten und Ansprüchen – Capabilities – entworfen, die den Grundsatz ›Alle Menschen sind gleich‹ programmatisch konkretisieren. Nicht verhandelbar sind aus Nussbaums Perspektive die Ansprüche auf (1) Leben, (2) Gesundheit und (3) körperliche Integrität, (4) die Ansprüche auf Bildung, Entwicklung der Sinne, der Vorstellungskraft und des Denkens (»Senses, Imagination, and Thought«), ein Recht auf (5) Emotionen (»in general, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger, not having one’s emotional development blighted by fear and anxiety«) und auf eine (6) individuelle Moralität (»Practical Reason: Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one’s life«), die Freiheit (7) zur Gestaltung sozialer Beziehungen (»Affiliation«), im erwünschten Wechsel zwischen Geselligkeit und Einsamkeit, (8) zum Leben in und mit der Natur (»Being able to live with concern for and in relation to animals, plants, and the world of nature«), (9) die Möglichkeiten des Spiels (»Play: Being able to laugh, to play, to enjoy recreational activities«) und (10) die politische wie materielle »Control over One’s Environment«, vom Recht auf Partizipation und Mitsprache bis zum Recht auf persönliches Eigentum.⁵

    Amartya Sens und Martha C. Nussbaums als Capability Approach berühmt gewordener Ansatz verschiebt die Forderung ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹ nicht auf die Zukunft einer »höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft«,⁶ sondern behauptet sogar deren empirische Mess- und Bewertbarkeit. Darin folgt dieses Modell den Prinzipien einer egalitaristischen Theorie der Gerechtigkeit als »Fairness«, wie sie John Rawls – etwa in seiner Theory of Justice (1971) – vorgelegt hat. Rawls gründete seine Theorie auf wenige, logisch operationalisierbare Axiome; er forderte einerseits ein »gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten«, das »mit dem gleichen System für alle anderen verträglich« bleibe, und andererseits eine Einschränkung (oder wenigstens Gestaltung) tatsächlicher sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit durch zwei Voraussetzungen: (1) durch einen kollektiven Vorteil, und (2) durch die Bindung an Ämter und Positionen, die prinzipiell »jedem offen stehen«.⁷ Aus diesen Axiomen leitete Rawls die sogenannte »Maximin-Regel« ab, die den gemeinsamen Vorteil, der durch soziale und wirtschaftliche Ungleichheit erzielt werde, als den »größtmöglichen Vorteil« für die »am wenigsten Begünstigten« definiert.⁸ Denn wer »von der Natur begünstigt ist, sei es, wer es wolle, der darf sich der Früchte nur so weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert. Die von der Natur Bevorzugten dürfen keine Vorteile haben, bloß

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