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Hier in Berlin, wo ich wohne: Texte 1946-1991
Hier in Berlin, wo ich wohne: Texte 1946-1991
Hier in Berlin, wo ich wohne: Texte 1946-1991
eBook265 Seiten3 Stunden

Hier in Berlin, wo ich wohne: Texte 1946-1991

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Über dieses E-Book

In sprachlich einzigartigen Betrachtungen schildert einer der großen Autoren der deutschsprachigen Moderne seine Wahlheimat. Der Südtiroler Franz Tumler verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens in Berlin. Dort teilte er den Kneipentisch mit Gottfried Benn, kam später mit Autoren wie Uwe Johnson, Günter Grass oder Peter Härtling zusammen. Seine Werke standen in einer Reihe mit den ihren.
Dieser Band versammelt Essays, Erzählungen, Reportagen und Gedichte von Franz Tumler, die Berlin zum Thema haben, darunter auch unveröffentlichte Texte und Skizzen. Seine Themen sind vielfältig: von Zeit- und Alltagsgeschichte im geteilten Deutschland über das literarische Leben in Berlin bis zu Tumlers schriftstellerischer Wende hin zur erzählerischen Moderne, die für seine großen Romane stilbildend ist. In seinen Berliner Texten zeigt Franz Tumler im Kleinen, was seine Romane für Publikum und Kritik beispiellos gemacht hat - schlicht das Leben in ebenso kunstvoller wie sinnlicher Sprache.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum27. Mai 2014
ISBN9783709935736
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    Buchvorschau

    Hier in Berlin, wo ich wohne - Franz Tumler

    Franz Tumler

    Hier in Berlin,

    wo ich wohne

    Texte 1946 – 1991

    Herausgegeben und mit einem Nachwort von Toni Bernhart

    Inhalt

    Die Zeit der Einsicht

    Ein kurzer Besuch in München

    Berlin. Geist und Gesicht

    Wintertage in Berlin

    Muschel aus Traum

    Die Dinge allein

    Die Straße mit dem Auslieferungssalon

    Auf der Autobahn

    Hier in Berlin, wo ich wohne

    Das Wort zum Tage

    Berliner Tagebuch

    Rede zur Enthüllung einer Gedenktafel für Gottfried Benn

    Die letzte Woche vor Weihnachten

    Die Schüsse auf Dutschke

    Verringerung zu einem Stern

    Stationen des Schreibens

    Rede zum Gedenken Hans Scharoun

    Berliner Fenster

    Bild

    Orte

    Entwurf

    Grunewald

    Wohnung nahe der Stadtbahn

    nur noch das Rauschen

    Austausch

    Aquarium Tegeler See

    Chorin aufgesaugt

    Nachwort

    Textnachweise

    Franz Tumler

    Zum Autor

    Impressum

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    Die Zeit der Einsicht

    1946, veröffentlicht 1952

    Das Dasein, in dem keine Richtung und Entwicklung entschieden vorgreift, dauert schon sehr lange. Ich glaube, es wird noch länger dauern. Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, wie einer die Zeit äußeren Stillstandes, diese Zeit des Aufenthaltes in einem Niemandsland gewissermaßen, nützt. Ich möchte sie benützen um Einsichten zu gewinnen weniger mit dem Verstand als mit dem ganzen Trachten meiner Person. Ich sage mir: in dem inneren Stand, in den ich mich jetzt bringe, werde ich später auf lange Zeit hin endgültig sein. Schon der Krieg war für mich eine solche Zeit der Einsicht, und nichts hätte sie mir mehr fördern können als die Abgeschiedenheit des Lebens damals; ich habe sie aufgesucht und mich zu ihr hingenötigt. Dann kam die andere Zeit; ich muß sie nochmals als einen Umstand wahrnehmen, der mich genauer das werden läßt, was ich werden soll. Zuweilen denke ich: je näher ich dem Nichts komme, umso unabhängiger und furchtloser kann ich sein. Manchmal aber fliegt mich eine Ahnung an, als wäre die Entschlossenheit zum Nichts heute schon eine veraltete Erscheinung, die noch fortgeistert in der Welt, während der wahre Ort des Menschen an anderem Punkte gegründet wird. Dann sage ich mir, ich dürfte den äußeren Dingen nicht zuviel Einfluß auf den inneren Kern der Person gestatten. Dies aber ist eine täglich zu leistende Arbeit und ist eine Frage der Gesundheit und Geduld im weitesten Sinne. Eine Handlung traue ich mir heute zu, wenn sie auf ein tägliches nahes Bedürfnis gerichtet ist. Wenn ich ein Ding, das außerhalb dieses Kreises liegt, betrachte, werde ich unsicher, gar, wenn ich Handlungen sehe, die aufs allgemeine gerichtet sind. Einer Macht, die im allgemeinen wirkt, mich anzuvertrauen, bin ich nicht fähig, weil ich sie nicht durchschauen kann wie mich selber.

    Dies ist ein sehr schmaler Grund, auf dem ich stehe. Ich will versuchen, ihn mir im einzelnen Satz für Satz vorzustellen.

    Das Dasein, sagte ich, in dem keine Richtung und Entwicklung vorgreift, dauert schon sehr lange, es wird noch länger dauern.

    Ich sehe nicht, daß die zusammengeschlagene Welt wieder aufgebaut wird. Zwar strenge ich mich wie jedermann an, daß ich mich in dem Vorhandenen notdürftig einrichte, aber über das Dringende hinaus eine Einrichtung auf Dauer zu berechnen, dafür bringe ich die Zuversicht nicht auf, weil ich sehe, daß die Zeit einer solchen Absicht entgegen ist. Ich bin geneigt, diesen Zug der Zeit für ein Streben nach Umbau zu halten; eher ist mir davon gewiß, daß dieser Umbau noch einmal für jeden Zerstörung und Abbruch bedeuten kann.

    Merkwürdig ist das Verhalten des einzelnen Menschen in dieser Lage. Er hat zwar genug von den überstandenen Schrecken und möchte Ruhe haben. Aber er weiß, daß es Ruhe nicht geben wird, und richtet sich darauf ein, neuen Schrecknissen zu begegnen. Er tut es ohne Widerstand und ohne zu zögern und auch ohne genau zu fragen, von wem die fortwährende Unruhe ausgeht, wo doch jeder nur die Ruhe wünscht.

    In diesem Verhalten, scheint mir, beweist der einzelne Mensch, daß er die Art des Vorgangs richtig einschätzt; er schreibt ihn einem unablenkbaren Wettlauf zu.

    Hier muß ich eine Anschauung anführen, die sich in mir über diese Dinge gebildet hat.

    Ich sehe nicht, daß irgendwo Halt gemacht wird in einem Sinne, der das Wenige an Leben, das heil geblieben ist, schützt und bei diesem Wenigen anfängt. Im Gegenteil sehe ich, daß seit langem bestimmte Entwicklungen vorwärtsgetrieben werden, gleichgültig unter welcher Regierungsform und in wessen Namen sie geschehen. Es kommt mir so vor, als ob die Entwürfe der Staatsmänner und die Vorsätze der Völker dem wirkenden Geist der Geschichte nur zu Vorwänden dienen. Ich sehe ein unbekanntes Etwas am Werk, das abwechselnd die entgegengesetzten Strebungen als Mittel gebraucht, um eine umfassende Verwandlung des Menschen Schritt für Schritt zu vollziehen. Weil ich diese Einsicht habe, liegt mir wenig daran, der einen oder anderen Richtung zu helfen; gewiß ist mir vielmehr, daß alle Handlungen, gleich mit welcher Absicht sie begonnen werden, so einem Ziele beitragen, das von jeder Absicht unabhängig ist.

    Davon eben kommt es, daß ich zögere, in einer bestimmten Entwicklung vorzugreifen. Ich bin mit der Schicksalsmacht in einem tieferen Grunde einverstanden und kann einem menschlichen Plan, den Geschicken zu steuern, kein Zutrauen schenken. Umgekehrt sogar muß ich mir eingestehen, daß ich den Gehalt dessen, was im Augenblick geschieht oder jüngst geschehen ist, gar nicht einsehen kann. Was dies betrifft, so ist es vielleicht möglich zu sagen, daß in der Zeit ab 1914 alle Völker in Europa sich vereinigt haben, ihre herkömmlichen Ordnungen zu vernichten, ihre Städte zu zerstören, die festen Menschen-Heimaten aufzulösen und die geschlossenen Volkskörper durcheinanderzumischen, wobei sie zuweilen entgegengesetzte Absichten bekundeten – und auch entgegengesetzte Handlungen ausführten –, aber trotzdem nicht weniger erfolgreich bei dieser Arbeit waren, zu der noch gehört, daß die Menschen sich entschlossen haben, in Armut zu leben: ohne feste Wohnungen, ohne Eigentum, ohne Sicherheit und Freizügigkeit der Person, welche Dinge alle sie zuerst durch Willkür, dann durch Verordnungen, die sich scheinbar notwendig ergaben, abgeschafft haben. Was aber eigentlich geschieht, indem dies alles sich vor unsern Augen vollzieht, können erst spätere Zeiten einsehen.

    Ich glaube nun, daß es sehr wichtig ist, wie einer die Zeit äußeren Stillstandes, diese Zeit des Aufenthaltes in einem Niemandsland, nützt.

    Falsch wäre es, in den Zeiten des Stillstandes gewaltsam nach Handlungen zu drängen. Jeder Erfolg wäre ein Scheinerfolg, jedes Ergebnis eine Einbildung. Besser ist es, auf solche Beruhigung zu verzichten, anstatt den Verstand zur Erzeugung des Scheinhaften zu gebrauchen. In höherem Rang stehen die Mittel, die dem menschlichen Leben Nähe und Wärme geben: Bescheidung, Häuslichkeit, der fromme, den kleinen Gewährungen des Täglichen zugewandte Sinn, die einfache Arbeit.

    Dazu möchte ich sagen, daß ein Mensch, der körperlich arbeitet, für gewöhnlich nüchtern und zuverlässig urteilt; er kann mehrere Parteien hören. Der Fußbreit Bodens, den der Arbeiter mäht, die Schraube, die er in den Traktor eingesetzt hat, sind ihm wirklicher als eine zugespitzte Rede. Hier herrscht eine reinere Stimmung, die in jedem Fall die Kräfte spart.

    Ich sagte, ich möchte diese Zeit benützen, um Einsichten zu gewinnen, weniger mit dem Verstand als mit dem ganzen Trachten meiner Person.

    Dieser Vorsatz erfordert Ausdauer und Vorsicht. Die Einsichten, die gewonnen werden, sind zunächst oft nicht faßbar, aber die Ungeduld darüber muß hintangehalten werden. Jemand, der sich auf solche Weise vorbereitet, gleicht einem Manne, der in einer dunklen Kammer seine Kleidung auswählt. Er kann sich die Stücke anpassen, aber er kann sie nicht sehen. Wie er aussieht in ihnen, wird er erst gewahr werden, wenn er ans Licht tritt. In dem Beispiel ist vieles enthalten, was von unserer Lage zu sagen ist: die Unsicherheit, der wir ausgesetzt sind, ebenso wie die Wachsamkeit, die wir aufbringen müssen, aber auch die Möglichkeit der Überraschung, die wir uns bereiten können.

    Ich sage mir: in dem inneren Stand, in den ich mich jetzt bringe, werde ich später auf lange Zeit hin endgültig sein.

    Das kann eine Einbildung sein, ein Umweg, mit dem ich meine Zuversicht anfeuere. Aber der Satz entspricht der alten Wahrheit, daß jede Verwandlung schon vollzogen ist, ehe sie sichtbar wird, jedes Ding entschieden ist, ehe es geschieht. In der Art, wie einer stillhält, wird ausgemacht, was er später tun wird. Kein Augenblick ist gleichgültig, kein Einfall bleibt ohne Spur. In den Zeiten des Handelns ist Aufmerksamkeit weniger nötig als in den Zeiten, die der Handlung vorausgehen. Es gibt in unserem Leben jetzt keinen Tag, der unbewacht verstreicht.

    Schon der Krieg war für mich eine solche Zeit der Einsicht, und nichts hätte sie mehr fördern können als die Abgeschiedenheit des Lebens damals; ich habe mich zu ihr hingenötigt.

    Damals war es, daß ich jenes Einverstandensein, von dem zu Anfang die Rede war, gelernt habe, und daß es mich zu Freundwilligkeit und Einsamkeit gleichermaßen erzogen hat. Ich habe gelernt, daß die Menschlichkeit das einzige Gut ist, das mir in meinem Rang zu verteidigen zukommt, und daß mich nur das ehrenhafte Gewissen rechtfertigen kann, dem nichts hinzugefügt wird. Ich bin darum gegen die Hinzufügung von Meinungen, Überzeugungen und Glaubenssätzen abweisend geworden und habe mich an jenen Ort begeben, an den sie mir nicht nachgekommen sind. Je länger ich so mit den einfachen Leuten gelebt habe, bei einfachen Beschäftigungen und abgetrennt an entlegenen Punkten, desto unangefochtener dufte ich innen sein. Wenn ich heimgekommen war, bin ich hellhörig gewesen, und wenn ich dorthin wieder zurückgekehrt war, habe ich gewußt, wie ich gleich allen, mit denen ich das Leben geteilt habe, von dem weltlichen Stand fortgerückt worden bin in eine Art geistlichen Stands – wenn dieses Wort nicht mißzuverstehen ist; – und in ihm sind wir verblieben.

    Dann kam die andere Zeit. Ich muß sie nochmals als einen Umstand wahrnehmen, der mich genauer das werden läßt, was ich werden soll.

    Obwohl ich erschöpft war, wär ich bereit gewesen, in der gewonnenen Einsicht fortzufahren, wenn mir die Freiheit dazu gelassen worden wäre. Statt dessen hat eine veränderte Welt begonnen, jedem von uns Strafen auszuteilen für Dinge, von denen wir entweder niemals gehört oder denen wir längst abgesagt hatten. Es ist dadurch erreicht worden, daß wir uns mit dem Abgetanen noch einmal auseinandersetzen müssen, und weil uns zugleich neue Meinungen und Überzeugungen als unfehlbar vorgehalten wurden, waren wir gezwungen, unsere frühen verlassenen Meinungen und Überzeugungen hervorzuholen und zu prüfen, ob sie denn wirklich so schlecht gewesen waren. Insofern sind wir in Gefahr gekommen, daß wir im ganzen zurückgeworfen werden in Zustände, derer wir uns schon entledigt hatten, und diese Gefahr ist um so näher, als jenen alten Meinungen jeder Grund und jede Ehrenhaftigkeit überhaupt abgesprochen wurde und auf die Art ein lösendes und verständiges Gespräch unmöglich gemacht wird. Indessen habe ich erkannt, daß ein solches Gespräch nicht gewünscht wird, und habe gelernt, es auch von mir aus nicht mehr zu wünschen und statt dessen auf mich selber zu sehen, was aus mir wird in der Zeit.

    Zuweilen denke ich: je näher ich dem Nichts komme, um so unabhängiger und furchtloser kann ich sein.

    Dieser Weg ins Nichts ist der Weg des äußersten Widerstandes. Ein Umstand hält mich jetzt ab ihn zu gehen: es ist das schlechte Gefühl, daß die Verzweiflung ihn raten will, was dasselbe ist: daß die Unvernunft des Gegners ihn aufdrängt. In guten Augenblicken sage ich mir, daß in dieser unbelehrbaren Welt diesesmal endlich, um die Kette der Schuld zu enden, der Besiegte für den Sieger Vernunft oder zumindest eine Art verachtender Geduld haben müßte. Aber ein Gefühl auch sagt mir, daß es eine Entschlossenheit zum Nichts gibt, die unabhängig ist von den gestellten Bedingungen. Ich frage mich, ob ich mir diese Entschlossenheit zu eigen machen kann.

    Manchmal nämlich fliegt mich jene Ahnung an, von der ich gesprochen habe: als wäre die Entschlossenheit zum Nichts heute schon eine veraltete Erscheinung, die noch fortgeistert in der Welt, während der wahre Ort des Menschen schon an anderem Punkte gegründet wird.

    Hier stößt mir ein Gedanke noch auf, der mich schon lange beschäftigt, ohne daß ich weiß, ob er richtig ist. Ich möchte sagen, daß das Leben in mehreren Schichten gelebt wird. In der einen wird Leben immer wieder hervorgebracht so wie der bebaute Grund eines Mannes an den Grund seines Nachbarn stößt und das so fortgeht über Flüsse und Grenzen hinweg ohne Unterschied. Der Unterschied: die Grenzen und der Krieg, kommen aus einem andern zunächst unanschaulichen Reich, und sie werden gemacht von Menschen einer Art, die nicht dem nährenden unschuldigen Lebensgrund angehören, sondern den losgelösten Machtgründen eines erwachten, gegen Einbildungen empfindlichen Daseins. In diesem zweiten Dasein wird der Lebensvorrat verbraucht; es werden in ihm freilich auch die namentlichen Gestalten hervorgebracht, die fortdauern – als Zeugnisse vernichteten Lebens nur, aber doch als Gestalten: sie sind die weitblickenden weitschallenden Denkmäler eines ungeordneten, zwanghaft zufälligen und in Leidenschaften schuldhaften Ablaufes, den wir Geschichte nennen und der uns das Gedächtnis unseres Geschlechtes schafft.

    Seit einiger Zeit nun spreche ich mir dieses Gefühl aus, als ob in den Gestalten der Geschichte und der Kunst etwas Unveränderliches, von den Bedingungen der Zeit, die sie hervorgebracht haben, Unabhängiges enthalten sei. Jetzt spüre ich manchmal, daß auch im Gegenwärtigen, einer Handlung etwa, die heute geschieht, nur ein gewisses Maß diesem Heute gehört. Aber die Beschaffenheit jenes dritten vertrauenerweckenden Teiles ahne ich kaum. Ich frage mich: Was ist er? Ich breche ab, weil ich diesen Weg weitergehen möchte ohne mit Worten vorwegzunehmen, was ich nicht erfühlt und erfahren habe.

    Ein kurzer Besuch in München

    um 1952

    Ein kurzer Besuch in München belehrte mich, daß, anders als noch vor einem Jahr, die Menschen in Deutschland plötzlich sprechen. Das ist etwas Neues. Bis jetzt nämlich haben sie geschwiegen, – wahrscheinlich aus Instinkt für Selbsterhaltung; und die Auseinandersetzung über die Niederlage von 1945 fand bestenfalls in ungelesenen Zeitschriften statt. Nun erst, sieben Jahre nach Kriegsende, geht sie über ins Volk: überall, in den Eisenbahnzügen, den Gasthäusern, in zusammengewürfelter Gesellschaft, quirlen die Reden auf. Das ist ein Wendepunkt, und gern möchte man sich dazu stellen, denn die Auseinandersetzung darf nun nicht oberflächlich, sondern muß von Grund auf geführt werden. Der einzelne kann sich hierzu melden, er kann sich berichtigen lassen, er kann fragen und versuchen eine Antwort zu finden.

    Ich glaube, die Deutschen haben von ihrer politischen Macht kam einmal einen guten Gebrauch gemacht. Fast sieht es so aus, als ob den Deutschen die äußere Macht etwas Fremdes wäre, das mit ihrer angeborenen Art nicht übereinstimmt. Es ist darum meine geringste Sorge, wenn ihnen die Möglichkeit Macht zu entfalten genommen wird. Nichts was zu ihrem Wesen gehört, wird ihnen damit genommen. Sie sind ein nach innen gekehrtes Volk, dem der Umstand, daß es Macht entfalten soll, die Seele verstört. Was sollte ihnen geschehen, wenn sie das Fremde ablegen und auf Macht verzichten? Immer noch bleiben sie, wenn sie nur am Leben bleiben, was sie sind, und verlieren nichts, und jetzt auch wird es von ihnen, ob sie zwischen Osten und Westen standhalten, abhängen, wie das Gesicht der Welt aussehen wird.

    Die Deutschen bleiben auf dem wichtigsten Ort der Erde, weil auf dem mittleren Feld zwischen Westen und Osten.

    Wenn sie keine Macht haben, aber dicht leben, werden sie die Kräfte sparen und mit reinem Gewissen dazu einen Vorsprung an Leben, an unwillkürlich wirkendem Gewicht gewinnen. Die Dinge, die sie mit solchem Gewicht gewonnen haben, sind ihnen immer erhalten geblieben; die Dinge, die sie mit Gewalt gewonnen haben, immer wieder verloren gegangen.

    Die Deutschen gehören nicht zum Osten und nicht zum Westen, vielmehr: in ihnen begegnen sich Osten und Westen. Ihre großen Staaten: Preußen und Österreich, ungleiche Geschwister, waren Kinder aus dieser Vermählung, und eben sie erzeugt jenes unruhige Element in den Deutschen, wie Toynbee es nennt; er möchte es ihnen gern ausziehen, vielleicht auch: er möchte ihnen die schwere Last nehmen und sie zu germanischen Rheinuferstämmen wieder machen, die sie am Anfang ihrer Geschichte waren. Die Teilung Deutschlands an der Elbe könnte diese Folge haben, sie würde den Deutschen, die übrigbleiben, ein leichteres Leben gestatten, aber sie würde ihnen ihren Charakter nehmen. Hier droht den Deutschen die eigent­liche Gefahr, ihr müssen sie widerstehen. Und die Natur hilft ihnen dabei, die Teilung wird nicht gelingen. Die große Ebene, die Kette der Wälder, die Waldesluft reicht noch immer vom Rhein bis nach China.

    Vorerst müssen die Deutschen ihr Einzelnes, wie sie leiblich zusammenhängen, kräftigen, ohne daß sie teilnehmen an unsicheren Machterrungenschaften, die Kräfte nur verzehren. In ihren Bestand dürfen sie nicht den Westen aufnehmen; sie dürfen sich auch nicht dem Osten verschreiben; sie müssen trachten zu vermitteln zwischen Westen und Osten. Diese Vermittlung wird vielleicht bald von ihnen verlangt werden.

    Dabei wird den Deutschen zustatten kommen, daß sie innen entschiedener verwandelt worden sind, als sie es wissen. Die Welt wird diese Verwandlung nicht zurückdrehen können.

    Die Deutschen werden noch eine Weile hilflos ihre Aufgabe verkennen. Der Anstoß zu handeln wird ihnen von den andern Deutschen kommen, die aus dem nahen Osten ausgetrieben worden sind, sobald sie sich die einverleibt haben. Mit der Austreibung dieser Deutschen haben die slawischen Völker dem mittleren Deutschland Kräfte zugeführt, die nicht allein in der Zeitspanne nach dem Niederbruch unschätzbar sind. Sie haben ihm ebensosehr einen Dienst erwiesen als sie sich selber geschadet haben: sie werden durch den Verlust eines gewohnten Lebenszusammenhanges auf kurze Zeit abgelenkt, auf lange Zeit gelähmt sein.

    Die Deutschen haben den Westen nicht verstanden, aber sie haben fest geglaubt, daß die alte Welt in Europa am Erliegen sei, wenn sie sich nicht vor sie stellten. Und weil sie die alte Welt erhalten wollten, haben sie sich dazu gebracht für den Westen zu kämpfen. Sie haben sich für diesen Kampf bereitgemacht mit Mitteln, die der alten Welt entgegengesetzt waren. Das konnten sie tun, weil ihre Führer bedenkenlos waren: sie gehorchten nicht den Vorschriften eines Standes, eines Glaubens, nicht einmal den beschränkten Vorschriften ihres eigenen Volkes; nicht umsonst entstammte Hitler dem merkwürdig zwielichtigen, wie von entkörperten Geistern erfüllten Raum, der sich an die Stelle des zerstörten habsburgischen Reiches gesetzt hat. Ihm bedeutete es nichts, sein Volk mit Eigenschaften auszurüsten, die es endlich ins Verhängnis geführt haben. Der waghalsige Versuch scheiterte, weil in ihm zwei Irrtümer vorkamen:

    Im Innern zeigte sich, daß die Rüstzeuge einer vermeintlich neuen Menschenart nicht verwendet werden konnten. Widerstand, Unverständnis, Vorsicht in der Anwendung, die Meinung, sich alles äußerlich aneignen zu können, halfen zusammen, daß die innere Rüstung der Deutschen in einem halben Anlauf steckenblieb und zu einem groben Unfug entartete. Immerhin hat sie die unterschiedlichsten Kräfte in den Deutschen aufgestöbert und eine Zeitlang benützt. Sie hat damit den Umsturz der alten Werte innerhalb des deutschen Volkes planlos beschleunigt.

    Von außen her aber gab die alte Welt sehr bald zu erkennen, daß sie nicht gesonnen sei sich von einem Volk verteidigen zu lassen, dem die Güter, die es verteidigen wollte, offensichtlich nichts galten, zumindest für die Dauer des Kampfes nicht. Den Deutschen solcherart zu mißtrauen war vielleicht vorausschauend gedacht; vielleicht auch entsprang die Ablehnung einem strengen Gewissen. Freilich konnte der gewissenhaft bleiben, der nicht verzweifelt zu sein brauchte.

    So kam es zu dem Schauspiel, daß der Deutsche, der sich anschickte für seine Mitwohner das Haus zu verteidigen, ob er gleich keinen guten Platz in ihm hatte, von diesen andern Mitwohnern niedergestreckt und danach verhöhnt wurde.

    Nun, da der Deutsche wieder aufstehen soll, versucht er sich klarzumachen, was geschehen ist. Sehr viele Gedanken bewegen ihn, weil sehr viel, Unvereinbares und Widersprechendes,

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