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Fragment über einen jungen Nichtstuer
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eBook442 Seiten5 Stunden

Fragment über einen jungen Nichtstuer

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Über dieses E-Book

Die Bäume waren Bäume, wollten es sein und waren es, ebenso die Gräser, die Wolken, die Vögel. Ich wollte nicht Zivildienstleistender sein und war es. Ich empfand einen heftigen Widerwillen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum15. Juni 2015
ISBN9783739289502
Fragment über einen jungen Nichtstuer
Autor

Michael Unterberg

Michael Unterberg, geboren 1967, lebt in Bergkamen.

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    Buchvorschau

    Fragment über einen jungen Nichtstuer - Michael Unterberg

    Niemand

    Schnitte, Hitze, Krach

    Am 19. Juli hatte ich, wie am Tag zuvor, die Schnitte durch die Hallen einer Maschinenbaufabrik in Arbeit. Die Hallen sollten erweitert werden. Der Grundriß der gesamten Fabrik im Maßstab 1 zu 100 war größer als der Zeichentisch. Das hatte bedeutet, daß ein Teil der Zeichnung während des Zeichnens über den Tischrand herabhing und mir auf die Nerven gegangen war. Die nötigen Informationen schöpfte ich aus den vergilbten Bauantragszeichnungen in 1 zu 100, die Jahre und Jahrzehnte in Aktenordnern verbracht hatten und nun maßlos die Wand neben mir verbargen. Wie jeder weiß, entsprechen die Bauantragszeichnungen 1 zu 100 nie dem, was tatsächlich gebaut wird. Somit entsprach meine augenblickliche Arbeit von vornherein nicht der Wirklichkeit. Ich kam nur schleppend vorwärts, die Größe der Zeichnung zwang mich zu den unmöglichsten ermüdenden Haltungen über dem Brett, ich kann es nicht leiden, mir alles aus irgendwelchen steinalten Zeichnungen anderer Leute zusammenzuklauben und damit etwas zusammenzubasteln, was sowieso nicht stimmt, überdies fehlten mir das nötige Wissen und die Erfahrung, das war die erste Fabrik, die ich zeichnete, ich hatte das Gefühl, mir alles sinnlos aus den Fingern zu saugen, außerdem war das Ding nicht schön, es war häßlich und piesackte mich. Ich stand am Ende der Lehrzeit zum Bauzeichner, die Prüfung lag bereits hinter mir. Mein Vater, in dessen Büro ich arbeitete, wollte, daß ich Architekt würde wie er, aber das wollte ich seit einiger Zeit nicht mehr, ich wollte nur noch möglichst bald das Ende des Zeichnens erleben, in ein paar Tagen. Diese Fabrik lag mir wie ein Berg aus Stahl, Beton und Wellblech im Weg, es widerte mich an, Längsschnitt, Querschnitt, Schnittschnitt. Ich schwitzte und zeichnete unter immer größeren Anstrengungen, es war, als beleidigte ich mich selbst, es ging mir gewaltig gegen den Strich. Ich stellte mich verkrampft ans Fenster, um Luft zu schnappen, das sah ganz nach dem aus, was ich einen Anfall nannte, ein Zustand, in dem es mir unmöglich war, weiterzuarbeiten, auf Biegen und Brechen ging es dann nicht, ums Verrecken nicht, es war, als flößte man mir eine Art Schierlingsbecher ein, einen lähmenden Cocktail aus Wollen und Nicht-wollen. Diese Anfälle passierten nicht oft, immerhin gegen Ende der Lehrzeit gehäufter, und das gefiel mir nicht. Nach dem Mittagessen war die Geschichte so weit gediehen, daß es mir unmöglich war, aufzustehen und zurück ins Büro zu gehen, ich blieb auf dem Bett liegen, völlig angespannt und verkrampft. Der letzte Anfall lag etwa zwanzig Tage zurück. Ich hasste mich selbst und konnte es doch nicht ändern. Vater, beunruhigt durch diese Kapriolen, kam ins Zimmer und fragte, ob ich krank sei. Später kam Mutter und wollte reden. Ich lehnte mit dumpfer Stimme ab und blieb wie ein einziger Krampf da liegen, bis zum Dunkelwerden. So heftig war es noch nie gewesen. Wie ich jedoch erst viel später feststellte, war die Büroarbeit nur der Auslöser gewesen, zumindest, was diese letzten zwei Anfälle betraf. Die Ursache war Freund Max. Wir kannten uns seit siebzehn Jahren. Im Frühjahr fuhren wir zusammen nach Korsika, danach tat ich den heiligen Schwur, nie mehr mit ihm zu verreisen. Zweieinhalb Monate nach der Reise besuchte Max mich erstmals wieder und blieb nur kurz. Zwei Tage darauf kam der Ausfall im Büro. Ich kaufte mir Kuchen und las Die Farbe Lila. Auf diesen Besuch hin schrieb ich ihm am 11. Juli einen kurzen Brief, in dem ich die Freundschaft für beendet erklärte. Am 18. Juli bekam ich Max’ Antwortbrief, den er am 13. Juli geschrieben, also postwendend, und den er dann einige Tage mit sich herumgeschleppt hatte. Am 19. Juli lag ich nachmittags im Bett. Ich hatte das Ende einer Freundschaft beantragt, und dem Antrag war stattgegeben worden. Lädiert, gefühllos und gleichgültig war ich am nächsten Tag wieder im Büro. Die Sache war vom Tisch. Gut.

    Seitdem ich frei hatte, stand der Brauch des Mittagsschlafes wieder in schönster Blüte, und ich gab mich ihm gern ungestört hin. Diesmal weckte Mutter mich vorzeitig, ich sollte für sie den Chauffeur machen. Verärgert und blinzelnd entzog ich mich dem Bett. Ich nahm ein Buch für die Wartezeit mit. Unterwegs mußten wir natürlich am Bahnübergang halten, in einer in der Mittagshitze dampfenden Autoschlange, bis endlich ein rasselnder Güterzug vorbeikroch. Da hätte ich doch lieber geschlafen. In der sogenannten City stieg Mutter aus. Ich blieb im Wagen. Der abschüssige, schotterbedeckte Parkplatz lag zwischen Hochhäusern, die in den späten sechziger Jahren hochgezogen worden waren, die Autos standen mitten in der Sonne. Es war sehr heiß. Ich klappte das Fenster der Ente auf und schwitzte vor mich hin. Seufzend griff ich nach dem Buch, Mutters Rückkehr ließ auf sich warten. Schon bald wellten sich die Buchseiten unter meinen Händen. Ich drehte am Radio. Das Lenkrad war heiß, meine Arme glänzten. Jedesmal, wenn ein Wagen von der Straße aus den Parkplatzschotter herunterhumpelte, zog für eine Weile eine weißliche Staubwolke vorbei. Der Parkplatz grenzte, durch ein paar niedrige Sträucher unterbrochen, an den Vorplatz der Friedenskirche, einem modernen Betonbau. Dort fuhr eine offene Kutsche vor, von zwei weißen Pferden gezogen. Der Kutscher war in Frack und Zylinder. Ein Wagen manövrierte vor meiner Nase wippend durch die Schlaglöcher, und hinter dem Staubschleier öffnete sich der Kircheneingang und spie eine Schar festlich gekleideter Leute aus, die sich zum Spalier aufstellte und auf dem Platz verteilte. Ich hatte das Radio abgestellt. Das Brautpaar erschien im Eingang, und ich vernahm ein fernes Raunen durch das Geräusch startender, fahrender Wagen. Des Pfarrers Habit blähte sich in einer Brise. Konfetti wurde geworfen, Hände geschüttelt, es wurde applaudiert. Ich grinste ungeniert hinter meiner Scheibe. Ich war fasziniert von diesem komischen Gebräu aus trockener Hitze, Hoch-zeit, Hochhäusern und Autostaub. Das Brautpaar bestieg die Kutsche, eine prachtvolle Hochzeit, der Kutscher setzte seinen Zylinder wieder auf, schwang sich auf den Bock, die Pferde nickten mit den Federbü-schen auf dem Kopf. Das Gefährt fuhr langsam davon, die Menge zer-streute sich nach und nach. Meine erfrischte Aufmerksamkeit wandte sich der City entgegen, wo schwitzende, rote, verquollene Passanten in ihren saloppen Sommerdressen reizvoll vom Hochzeitsprunk abstachen. Dahinter die Hochhauskulisse, abrupte Schatten, leuchtende Helle. Rings um meinen Beobachterposten war alles beschäftigt, schien zufrieden und niemand hetzte sich. Mir wurde bewußt, daß hier soeben der Sommer stattfand, nicht nur in fernen Ländern und unter anderen Voraussetzungen. Während ich mit trockenem Mund unter dem roten Entensonnen-segel glühte, da, wo ich jetzt eigentlich garnicht sein wollte, fand der Sommer statt. Zu Hause kochte ich Tee. Es war hoher Nachmittag. Mein Zimmer, dessen Fenster nach Südwesten ging, war erfüllt von Wär-me und Helle. Die Hitze draußen wurde von einer entspannten Stille begleitet. Barfuß, in kurzer Hose und T-Shirt lümmelte ich mich in den Sessel, schlürfte Tee, sah hinaus und nahm wieder das Buch in die Hand, las in aller Ruhe ein weiteres Stückchen über Leben und Werk von Walt Whitman. Er hatte seine Gedichte Grashalme genannt. Das hatte mich angezogen, und er wurde mir sympathisch. Denn er hatte als Zimmermann gearbeitet und jeweils zwischen der Fertigstellung einiger Dachstühle seine Zeit vor allem mit Nichtstun, Herumliegen und Spazierengehen verbracht, und natürlich schimpfte die Familie angesichts dieser Liederlichkeit. Was ihn aber nicht anfocht. Schließlich wurde er Dichter. Ich ließ meine Gedanken schweifen. Ich war für eine Stunde im Land der glücklichen Weisen. Der strahlende, fast weiße Augusthimmel trug in der Ferne prall-geballte, butterhelle Wolken, die unbeweglich verharrten, während sich die Sonne unablässig auf die Gärten stürzte und mit ihnen verschmolz. Ein hartes Glitzern kam von den Birken, die den Bahndamm verdeckten, der japanische Kirschbaum reckte seine schwarzen Äste kraftvoll hinan, seine Blätter vibrierten in einem metallischen herbgrünen Glühen und sprachloser Stille. Energie des Sommers. Ich stand am Fenster und sah mir das an.

    Es war wieder einmal unerträglich. Ich hätte vor Wut platzen mögen. Dieser zerfetzte Tag trieb mich in die Raserei. Fünf Stunden hatte ich es im Büro ausgehalten, dann war der Zustand der Unmöglichkeit des Zeichnens eingetreten, und ich zerfaserte mich in meinem Zimmer in einer lächerlichen Ohnmacht, zerknirscht, unruhig, untätig. Die ganze verschissene Umgebung vollführte einen Höllenspektakel. Mindestens zwei Nachbarn mähten den Rasen, einer davon, den ich sehen konnte, fuhr auf einer Art kleinem Traktor über seine Grünfläche. Von irgendwoher kam das Rumoren von Baumaschinen. Autos grölten durch die Straße. Und auf dem Bahndamm wurde ganz offenbar extra für mich mit den Güterwaggons rangiert, die Diesellok stieß ein langanhaltendes vulgäres Dröhnen aus, ein hohles Poltern lief durch die Waggons, sie ruckten an, und es folgte ein endloser, mörderischer Schleifer, ein entsetzliches, durchdringendes Bremsengequietsch, das mich fast umbrachte. Es war gegen Ende September. Ich befand mich in der Übergangszeit vom Bauzeichnerlehrling zum Zivildienstleistenden, beides Angelegenheiten, die mich nichts angingen, dazwischen hatte ich einige Tage frei oder wieder nicht. Vor kurzem hatte ich zum ersten Mal ein wenig geschrieben, fünf kleine Kurzgeschichten oder Skizzen waren dabei herausgekommen. Dadurch euphorisch gestimmt, hatte ich daran gedacht, nun auch mit dem Malen zu beginnen, aber das wurde nichts als eine geplatzte Seifenblase. Meine Einfälle und Pläne blieben nur nutzlos. Mir fiel auch nichts weiter zu schreiben ein, und ich fühlte mich durch dieses Nicht-arbeiten immer schuldig. Ich war rastlos und unfrei. Seit Tagen hing draußen ein schlaffer, dunstig-grauer Himmel und darunter nur Staub und Gestank.

    Goldklumpen auf Rübenacker

    Von nun an hast du für die nächsten zwanzig Monate keinen eigenen Willen mehr, du bist ab sofort im Staatsdienst, du hast zu tun, was man dir sagt. So dachte ich, als ich zum ersten Mal zu meiner Dienststelle fuhr. Ich begab mich in das Büro der Einsatzleiterin und saß dort bis in den Vormittag hinein, während ungezählte Leute kamen und gingen, den engen Raum füllten, übers Wochenende plauderten oder über Autoversicherungen. Ich wartete vergeblich auf irgendeine Arbeitsanweisung. Als das Büro später etwas leerer geworden war, fragte ich nach einer Beschäftigung. Die Einsatzleiterin verwies mich zunächst in den Aufenthaltsraum. Ich war offensichtlich überflüssig. Mir war schlecht. Ich öffnete die Tür zu diesem Raum, und nie gesehene Zivildienstleistende musterten mich flüchtig. Ich sank in einen Sessel. Das Zimmer war ziemlich klein, bot gerade genug Platz für einen länglichen Couchtisch mit Sitzgelegenheiten ringsherum, und überall saßen die Zivis, redeten und rauchten und — das machte mich vollends konfus — sie bedienten sich von dem kalten Buffet, das auf den überquellenden Couchtissch gequetscht war. Sektflaschen und Orangensaft in Fülle, Schinkenröllchen, Wurst, Stangenbrote, verschiedene Käsesorten, Butter, Weintrauben, dazwischen Aschenbecher, Zeitungen, Zigarettenschachteln, Sektgläser, Zettel und Kugelschreiber. Man ließ es sich schmecken. Ich brachte keinen Ton heraus, und die Sonne schien schräg ins Fenster. Jemand bot mir Sekt an, was ich dankend ablehnte. Der Gleiche fragte mich, ob das auf dem Parkplatz meine rote Ente sei, falls ich Ersatzteile brauche, kön-ne er mir welche verschaffen. Diese Geschäftstüchtigkeit wurde von ei-nigen gelinde belacht. Bei Reparaturen käme der Wagen in die Werkstatt, antwortete ich, und der Typ machte Ah und Oh und Hm. Anscheinend feierte er seinen letzten Tag und wollte sich ihn mit einem letzten Deal, einem neuen Kunden versüßen. Ich schwieg erneut. So ganz allmählich gingen die Leute doch noch an die Arbeit, und ich konnte schließlich einen Langhaarigen zu Einsätzen begleiten. Wir gruben die Dienstmofas aus der vollgestopften Garage und drehten zunächst eine Proberunde auf dem Parkplatz. Das ließ sich schon besser an. Als erstes waren die Ein-käufe für einen alten Mann zu erledigen, Supermarkt, Metzger, Bäcker. Wir lieferten die Sachen ab, erhielten ein winziges Trinkgeldchen und schwangen uns wieder auf die Rücken unserer wilden Mofas, fuhren quer durch die Stadt zu einem Alkoholiker, der in einer kümmerlichen Bude unterm Dach lebte. Herr Blatter war über fünfzig und etwas gehbehindert. Seine geteerte Stimme war die eines alten widerlichen Rauchers, seine Lippen so dick wie ein Bleistiftstrich. Als wir eintraten, machte er seinen Hosenschlitz zu. Der Fernseher lief, und über einem Teelicht schmurgelte eine halbvolle Kaffeekanne. Wir teilten uns die Arbeit. Lutz setzte sich und hörte Blatter zu, eine Art Unterhaltung, die Kontaktpflege genannt wurde, ich ging einkaufen und zur Apotheke, froh, wieder an die Luft zu kommen. In der Apotheke besorgte ich Tropfen gegen den durch das Rauchen rauhen Hals. Hinterher fuhren wir weiter in einen anderen Stadtteil. Wir hielten hinter einem grauen zweistöckigen Mietshaus, Lutz wohnte da. Er wollte erst was essen und dann zu einer blinden Frau, die gefüttert werden mußte, fahren. Wir trennten uns. Ich fuhr zwei Straßen weiter zu einem Kohlenträgerein-satz. Eine kleine, etwas gebeugte Frau öffnete. Sie trug eine lange Hose und eine Strickjacke und hatte kurzgeschnittene weiße Haare. Frau Pritz-ky. Sie zeigte mir Keller und Kohlenkeller und erklärte mir genau, was sie wollte, bevor sie wieder nach oben entschwand. Ihr Kellerraum hatte keine Lampe. Im Halbdunkel eines trüben Scheins vom Fensterschlitz und einer schwachen Funzel auf dem Gang zerschlug ich mit einer Axt alte Obstkisten zu Splittern, die ich, in einer Staubwolke hüstelnd, in Plastiktüten stopfte. Ich füllte zwei Eimer mit Briketts, mit Händen so schwarz wie die eines Schiffsheizers. Im Kohlenkeller tappte ich dann auf einen Berg Preßkohle zu und schaufelte zwei weitere Eimer voll. Das staubte auch nicht schlecht. Ich trug das Zeug mit leicht zusammengebissenen Zähnen hoch und stellte es an ganz bestimmten Stellen im Flur ab. Aber dann führte mich Frau Pritzky in die Küche ans Waschbecken, zeigte mir die richtige Seife und das Handtuch, es ging mir gleich besser, und sie lobte mit rüstiger Stimme die Zivildienstleistenden, die im Gegensatz zu den Soldaten Gutes und Sinnvolles tun, die kleine alte Frau geriet richtig in Feuer, ich unterdrückte mein Lächeln und trocknete meine Hände. Als ich den Einsatzzettel auf der Fensterbank ausfüllte, erzählte sie mir ohne Umschweife von ihrem Bruder, der im Krieg gefallen war, ihre Stimme bebte vor Empörung, Anklage, Protest, und ich hatte den Eindruck, das sei erst gestern passiert. Ihr Bruder mußte nach einer schweren Kopfverletzung erneut in den Krieg ziehen und wurde auf einem Rübenacker in Rußland erschossen. —Auf einem Rübenacker! rief sie aufgebracht und unterbrach ihre Unterschrift auf dem Einsatzzettel — zittrige, tapfere, alte Schrift -, sah durch die Brille zu mir auf. Während ich auf die trostlose Straße unter dem grauen Himmel blickte, hatte ich eine kurze ungemütliche Vision vom Tod auf dem Rübenacker, es ist kalt in Rußland, Schneereste vergilben im Matsch, ein Sprühregen senkt sich unbarmherzig herab, die Klamotten sind klamm, der Lehm klebt an den Stiefeln, während man durch die Ackerfurchen stapft, auf einen kah-len Waldrand zu, wo vielleicht der Feind lauert, das schwere Gewehr liegt kalt in den schmutzigen Händen, man hat keine Lust auf den Krieg, da fallen Schüsse, man fällt in den Schlamm, der Schmerz, die Kälte, mit dem Gesicht im Dreck röchelnd verrecken, der Tod. Langsam faltete ich den Zettel und steckte ihn ein. Wir gingen zur Tür. Ich sagte Auf Wiedersehen, und Frau Pritzky krächzte Tschüß. Sie winkte, winkte unter zackigen Bewegungen, rief mir noch zweimal auf der Treppe hinterher: -Tschüß...! Tschüß...! Verwundert trat ich das Mofa an, brauste über einen Feldweg, durchschnitt mit der Nase den Wind und fuhr direkt nach Hause zum Essen. Auf der Rückfahrt zur Dienststelle trat mir der Schweiß aus, das Mofa spuckte, stotterte auf halber Strecke, ich dachte, es gäbe den Geist auf und daran, wie ich das erklären sollte. Ich sah mich bereits mit dem Helm auf dem Kopf ein Mofa durch die Stadt schieben, aber der Feuerstuhl riß sich zusammen, wir schafften es. Für die nächsten drei Stunden saß ich untätig im Aufenthaltsraum. Ich zählte etwa zwölf Zivis. Sie spielten Karten, lasen Zeitung und redeten. Zigarettenrauch hing in der Luft, das Transistorradio plauderte in der Ecke vor sich hin. Wer in diesen Raum eintrat, konnte die Tür ungefähr um hundertundzehn Grad öffnen, bevor sie links an einen klapprigen Schrank stieß. Sodann bot sich dem Eingetretenen entgegen dem Uhrzeigersinn ein Bild der vollendeten Geschmacklosigkeit des Billigen: An der Wand neben der Tür stand ein mit einem Wachstuch bedeckter Tisch, auf dem sich schmutzige Tassen, Teller und anderes Geschirr, zwei Körbe für Einsatzzettel, eine schmierige Kaffeemaschine namens Bruno III, Zeitungen und sonstiges Zeug stapelten. Darüber hing eine Europakarte an der Wand, darunter lag ein Berg Altpapier neben dem randvollen Papierkorb. An der Längsseite rechts folgten zwei dicht nebeneinanderstehende Stühle, Überbleibsel eines Sechziger-Jahre-Eßplatzes, dann ein graues abgeschabtes dreisitziges Sofa, ehemals möglicherweise eines der ersten ausklappbaren Bettsofas, und in der Ecke bis zum Fenster ein quadratischer Tisch mit dem Radio, einigen Gesellschaftsspielen, einer unausstehlichen Plastikgießkanne für die zwei oder drei bedauernswerten Topfpflanzen und verwaisten Automatenpfandflaschen. Uber dem Dreisitzer waren drei Kunstdrucke auf überdimensionierten stoffbespannten Platten angebracht. Von jenem Ecktisch wand sich ein curryfarbenes Ecksofa über die Schmalseite des Raumes, wo sich das hohe Fensterelement von Wand zu Wand erstreckte, hinüber zur anderen Längsseite, wo zwei nie-drige Sessel mit hölzernen Armlehnen den verbliebenen Platz bis zum zwei Meter fünfzig hohen Kleiderschrank, an den die Tür anschlug, ausfüllten. Das Fenster war mit einer verblichenen weißlichen Tüllgardine verhüllt, links und rechts hingen undurchsichtige grünliche Vorhänge. Ein mit Heftzwecken an die Wand über dem Currysofa gespickter großer Kalender diente der allgemeinen Urlaubsplanung. Daneben mahnte ein Plakat zum Thema Aids zur Liebe mit Gummi. Uber den Sesseln befand sich ein Anschlagbrett, das von den angehefteten Urlaubspostkarten, Zetteln und Firlefanz fast verdeckt wurde. Der Kleiderschrank war teilweise mit kleinen Bildchen von Fußballspielern und Comicfiguren beklebt. Oben auf dem Schrank befanden sich die Reste einer großen elektrischen Schreibmaschine, bedrohlich über den Rand hinausragend, und das Plexiglasgehäuse einer Neonlampe. Der längliche Couchtisch in der Mitte, der mit einer an allen Seiten lang herunterhängenden Tischdecke bedeckt war, konnte vor langer Zeit an einer Kurbel in der Höhe verstellt werden, der Mechanismus war kaputt, der Tisch wackelte. Der Raum war höher als drei Meter, das Neonlicht fiel wie in einer Lagerhalle von der Decke, streifte die undefinierbar gefärbten Rauhfasertapeten und versickerte im zertretenen Teppichboden. Um halb fünf stieg ich erleichtert und bedrückt in die Ente und gab Gas. Das konnte heiter werden.

    Am nächsten Tag saß ich bis mittags im Aufenthaltsraum, bis es endlich etwas zu tun gab. Der jungenhaft aussehende Til und ich gingen den Flur des flachen Gebäudes entlang, an den Toiletten vorbei, durch den Tanzsaal, in einen kleinen Raum neben der Bühne. Wir stiegen in zu große Gummistiefel, nahmen Wasserschlauch, Bürste und Besen und gelangten durch die Hintertür des Tanzsaals auf den Parkplatz, wo wir den Behindertenbus waschen sollten, einen signalorangen Mercedes-Transporter mit zwei Passagierbänken, Platz für einen Rollstuhl und die Hebebühne. Til nahm sich eine Hälfte des Wagens mit Schlauch und Bürste vor, während ich innen ausfegte und Kaugummipapier aufsammelte, leere Zigarettenschachteln, Zettel, Pfandflaschen, Coladosen aus der Ablage entfernte. Das war zwar eine miese Arbeit, aber besser als nichts. Als ich dann die andere Hälfte der Außenseite mit der wässernden Bürste abrieb, wobei mir das Wasser auf Pullover und Hose schwappte, kam ein Unbekannter im grauen Jogginganzug vorbei. —Na, da haste ja gleich die richtige Arbeit abbekommen, was...?! Hehehe...! lachte er und ging weiter. Ich sah ihn kurz an. Er schien ein paar Jahre älter als ich zu sein und sah sehr kräftig aus, wie ein Masseur oder Schlächter, stark untersetzt, sein Hals hatte den gleichen Umfang wie sein Kopf, und die Zigarette zwischen seinen Fingern machte eher den Eindruck eines Streichholzes. Ich wußte nicht, woran ich war und wischte wieder über das Blech. Nach höchstens einer Dreiviertelstunde war die ganze Sache erledigt, der Einsatzzettel hierfür geschrieben, es blieb nichts mehr zu tun. Und wieder saß ich stundenlang im Stimmengewirr des Aufenthaltsraumes, und das Schweigen wuchs wie eine zu enge Eierschale um mich herum, mein Kopf schwirrte überhitzt. Eine Stunde vor Dienstschluß warf ich im Büro einen Blick auf meine Spalte im Dienstplan und wurde bei dieser Gelegenheit zum Seniorentanztee beordert. Also begab ich mich in den Tanzsaal, setzte mich an einen kleinen Tisch hinter der Glastür und verkaufte Eintrittskarten. Die Leute strömten herbei, Senioren, Rentner ab fünfzig, alle herausgeputzt und gut gelaunt, der Parkplatz draußen war von Autos verstopft, der Kartenverkauf florierte. Die Tischreihen füllten sich zusehends, und die Kellnerinnen huschten mit Kuchen und Getränken herum. Die Musik begann. Der Mann an der Orgel sang alte und neue Schlager, der Schlagzeuger hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt und begleitete ihn dezent. Die Damen und Herren scherzten untereinander und machten frühlingshafte Bemerkungen, manche alte Knaben rissen müde Witze, während sie mir das Geld in die Hand drückten. Ich wurde schnell das Opfer der Verzweiflung, sie fiel über mich her wie ein Rudel Wölfe. Allmählich wurde getanzt. Die Herrschaften waren sämtlich guter Dinge, abgeschlaffte und aus der Form geratene Gestalten drehten sich und walzten vor meinen Augen in ungebrochener Lebensfreude. Bald drängten sich die Tanzenden so dicht auf der Fläche, daß die Kapelle dahinter verschwand, nicht aber ihre Musik, die laut genug war, daß sich einige besonders schwungvolle Tanzpaare auch hinter den Glastüren auf der freieren Fläche des Flures dazu hin- und herschwangen. Immer noch trafen Leute ein, verschiedene Parfümdüfte konkurierten mit Deosprays und Rauch. Die Musik bedrängte mich wie die Tänzer meinen kleinen Tisch mit der Kassenschatulle. Etwas hoffnungslos kraftloses haftete ihr an, selbst bei den flottesten Stücken. Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob das an der schlechten Qualität der Lautsprecheranlage lag oder an der Tatsache, daß die Musiker selbst bereits das Rentenalter erreicht hatten und dies der fünfmillionste Tanztee war, bei dem sie aufspielten. Der singende Organist hatte einen Glatzkopf, so rund und dick wie ein Fußball, und was er von sich gab, klang lauwarm und undeutlich, als hörte man es unter Wasser, es klang wie abgestandenes Bier, dessen Schaum am Glasrand vertrocknet ist. Ich bemerkte eine jüngere Frau, die ganz offenbar einen gutsituierten Alten abschleppen wollte, sie war auffällig geschminkt, ihr Rock besonders kurz. Ein herzkranker Greis mit dicker Pension, den kurz nach der Hochzeit der Schlag träfe, wäre nach ihrem Geschmack gewesen. Als mir ein Sechzigjähriger dann auch noch in einem Anfall von Großzügigkeit, während er mit seinem alten Kumpel lachte, ein Trinkgeld aufzwang, war mir, als würden meine sterblichen Uberreste von einer Horde Elefanten überrannt. Es wurde eine der längsten Stunden meines jungen Lebens, bis die Ablösung eintraf, ich radelte völlig deprimiert nach Hause.

    Die Oma kam passenderweise gerade die Kellertreppe hinauf, ihr Hund, ein etwas magerer schwarzer Mischling, ein vorlauter Wicht, ließ den Hausflur mit Alarmgebell erschallen, seit ich geschellt hatte. Sie trieb den Burschen in die Wohnung, aber er entwischte aus der Küche und nahm mich wieder in die Mangel, als ich den Helm auf die Garderobe legte, die Jacke aufhängte. Laut schimpfend folgte die Oma und scheuchte den Hund ab ins Wohnzimmer. Bevor sie mir in der Küche erklärte, was zu tun sei, zeigte sie mir eine Rechnung der Wohlfahrt über 4 Mark 75, sie jammerte, daß sie doch erst kürzlich eine Rechnung bezahlt habe, und sie wüßte garnicht, wofür sie die 4,75 zahlen solle, sie habe schon ihre Tochter gefragt, aber die wüßte es auch nicht. Ich gestand der Oma, nachdem ich das Blatt gelesen hatte, auch keine Ahnung zu haben, aber sie war schwerhörig. Ich legte den Zettel auf den Küchentisch und erklärte mich nachdrücklicher. Die Oma war nicht befriedigt, sie hätte zu gern gewußt, wie die 4,75 zustande gekommen waren, und der Hund guckte auch schon wieder um die Ecke, das fing an, mir auf den Wecker zu fallen, konnte man denn für 4,75 zu arm sein? hier schien mir eher ein besonderer Fall von Knickrigkeit vorzuliegen. Selbst wenn die 4,75 ungerechtfertigt oder versehentlich in Rechnung gestellt worden wären — konnte man denn so kleinlich, so herzlos sein und stundenlang darauf herumkauen? Ich erklärte in mittlerer Lautstärke, daß ich den Dienst erst vor wenigen Tagen angetreten habe, daß dies die erste Rechnung sei, die ich sehe, daß ein Anruf bei der Dienststelle die Sache sicher aus der Welt schaffen könne, und dann wiederholte ich das nochmal etwas lauter. Vielleicht war die Oma auch schwer von Begriff. Wir gingen zu dem über, was mich hierhergeführt hatte. Die Alte zeigte mir ihren Staubsauger, ich ging an die Arbeit, fuhrwerkte im kleinen mit aus der Mode gekomme-nen Möbeln vollgestellten Wohnzimmer auf dem Teppichboden herum. Der Staubsauger war ein antiker Klopfsauger und stieß ein heiseres Heu-len aus, der Hund war wieder der Küche entkommen und überschüttete mich mit Gebellsalven, ich guckte auf die zahlreichen Enkel- und Verwandtenfotos, die sich im Wohnzimmerschrank und auf einem Tischchen in einer Wandecke drängten. Um überall hinzugelangen, mußte ich das halbe Zimmer umräumen, danach saugte ich das Schlafzimmer, das ebenfalls nicht besonders groß war. Die Möbel waren alt, zusammengewürfelt und billig. Der gehäkelte Bettüberwurf auf der hohen Matratze berührte den Boden und kam den Plüschläufern in die Quere, mit denen der Klopfsauger auf dem glatten Linoleum zu kämpfen hatte. Als ich das geflickte Kabel um den Sauger wickelte und ihn in seine Ecke hievte, wollte die Oma noch die Gardine gerichtet haben. Ich bugsierte die Haushaltsleiter hinter dem Sauger hervor und hakte die Plastikösen der ausgebleichten und ermatteten Vorhänge an die Plastikschiene, und der feine trockene Staub der Jahre rieselte milde. Anschließend fragte ich die Oma nach Schrubber, Wischlappen und Eimer für Bad und Küche, aber wenn sie einem den Rücken zukehrte, schien sie völlig taub zu sein. Ich wiederholte mein Anliegen in ihrem Gesichtskreis. Es schien mir dann eine gute Idee, die Brosamen und Hundefutterkrümel zunächst zusammenzufegen, bevor ich den Küchenboden unter Wasser setzte. Als ich das Wischwasser dann nach Omas Wunsch hinter der Küche im verwahrlosten Mietshausgarten ausgoß, stieß mir ein massiv klingendes, brutales Baßgebell in den Rücken. Das war kein Rilke-Panther, das war ein mordgieriger Schäferhund, der da im Zwinger tobte, er ließ keinen Zweifel aufkommen, was er mit mir anstellen würde, wenn nur das Gitter nicht wäre. Ich ging gern wieder hinein zu dem schwarzen Kläffer, der sich nun wie ein Papiertiger ausnahm. Kurz darauf hüpften draußen auf der Treppe zur Küche und auf dem Fensterbrett schon wieder die Sperlinge um die flachen Schalen mit Vogelfutter, als ich den Einsatzzettel schrieb. Die Alte fragte mich nochmals nach den 4,75. Ich wüßte es wirklich nicht, antwortete ich und bat sie, die Dienststelle anzurufen. Ich schrieb ihr auch die Nummer auf. Die Oma schien ihr Gehör wiedererlangt zu haben, bei meiner Wischerei hatte sie einen Anruf entgegengenommen, und nun konnte man ganz normal mit ihr reden. Als ich mich verabschiedete, drückte sie mir auch noch ein Fünfmarkstück in die Hand, so schön hätte ihr noch keiner den Boden gewischt. Sie begleitete mich hinaus zum Mofa, der Hund, der nicht mehr bellte, ging auch mit. Ich saß bereits im Sattel, da erzählte die Alte von ihrer Jugendzeit, wie schwer sie als Zimmermädchen in einem Hotel hatte arbeiten müssen, einmal mußte sie sogar bei minus dreißig Grad Fenster putzen und an den Füßen nichts als Holzschuhe, jaja, das kann sich heute keiner mehr vorstellen.

    Ich war für einen abendlichen Fahrdienst eingeteilt und fuhr nach Dienstschluß nach Hause, kochte Tee und traf mich dann auf dem Parkplatz der Wohlfahrt mit dem Zivildienstleistenden, der mir diesen Fahrdienst vorführen sollte. Ich erfuhr, daß für die Fahrten, die ich soeben mit Fahrrad und Ente zurückgelegt hatte, üblicherweise ein Dienstwagen benutzt wurde. Wir stiegen in einen Ford Escort und fuhren die paar Meter vom Parkplatz um das Gebäude herum zum Hintereingang. Wir gingen in die Kurzzeit- oder Tagespflege. Im Durchgang vom Flur zum Gesellschaftszimmer befand sich eine kleine Küchenzeile. Dort lehnte jener Schlächter im grauen Jogginganzug, er hatte augenblicklich nichts zu tun. Mein Kollege schien mit ihm bestens bekannt zu sein, die beiden unterhielten sich sogleich. Im hellen Gesellschaftsraum saßen gebrechliche alte Leute an Tischen und verzehrten ihr Abendbrot, während ein Fernseher mit lautem Ton auf sie niederflimmerte. Im Gang, durch den wir gekommen waren, führten Türen zu Schlafzimmern, und weil mir diese ganze Abteilung wie eine Mischung aus Krankenhaus und Altenheim erschien, schätzte ich den Schlächter-Masseur als Krankenpfleger ein, ohne im Entferntesten für möglich zu halten, daß er an dieser Stelle ebenfalls Zivildienst leistete. Viel später sah ich ihn zu meiner Überraschung zwischen den anderen Zivis im Aufenthaltsraum sitzen, er prah-te gerade damit, als Schweißer beim Bau und bei Reparaturen von Atomkraftwerken einen enormen Lohn zu verdienen, infolge der Strahlungen, denen er sich dabei auszusetzen habe. Nach einer Weile ging mein Kollege in den Gesellschaftsraum und führte die Frau hinaus, die wir nach Hause zu bringen hatten. Er half ihr in den Mantel, dann trotteten wir hinaus zum Wagen. Ich setzte mich nach hinten. Die Alte hatte wirre weißgraue Haare, schwarze Augen, einen Oberlippenflaum und einige Fäden am Kinn. Sie stieg unbeholfen in den Beifahrersitz und wurde angeschnallt. Lukas fuhr los. —Wo bringen Sie mich denn hin? fragte Frau Dinkelmann, kaum daß wir den Parkplatz verlassen hatten. Lukas sagte es ihr. —Ach... Wissen Sie denn, wo das ist? —Frau Dinkelmann! Ich hab sie doch schon so oft nach Hause gebracht, sagte mein altgedienter Kollege. Wir fuhren das kurze Stück am Fluß entlang, hielten an der Ampel. —Huh, fahren Sie nicht so schnell, sagte Frau Dinkelmann, als Lukas auf die Hauptstraße abbog. Wir kippen um...! Mir wird schlecht! Ich muß brechen...! Lukas erklärte, das könne sie ihrem Frisör erzählen. Ich war verblüfft über diesen Ton. Frau Dinkelmann war offensichtlich unbeeindruckt. —Oh! sagte sie. So viele Autos...! Wo kommen die denn alle her? Das ging so weiter, bis wir sie ihrer Tochter eingehändigt hatten. —Ah...! Fahren Sie doch nicht so schnell, das gibt einen Unfall! Bringen Sie mich zu meiner Mutter? Sie wissen doch, wo das ist, oder? Ach, Sie bringen mich zu meiner Tochter?! Ist ihr Mann denn auch da? So viele Autos überall! Sie bringen mich doch nach Hause?! Nicht wahr, Sie wollen doch nicht mein Geld stehlen? Nicht so schnell! Ist denn überhaupt jemand zu Hause? Nicht, daß ich vor der Tür stehen muß. Sehen Sie mal, da kommt ein großer Laster! Wo bringen Sie mich denn hin? Muß ich was bezahlen? Ich hab gar kein Geld dabei. Hoffentlich ist jemand zu Hause! Wir brachten Frau Dinkelmann zur Tür und verabschiedeten uns. —Oh, sagte Frau Dinkelmann, mich ansehend, da ist ja noch einer! Das sei Frau Dinkelmann, erklärte Lukas mit einem gewissen Vorführstolz während der Rückfahrt. Und das sei noch harmlos gewesen. Sie könne auch schreien und hätte auch schon gespuckt. Solche Zusatzeinsätze wurden in einem Ordner als Uberstunden vermerkt, jeder hatte einen Zettel darin, auf den er seine Stunden selbst eintrug. Für unseren Fahrdienst, der dreißig Minuten gedauert hatte, würde er zwei Stunden eintragen, sagte Lukas. Das fand ich nicht korrekt und schrieb mir stillschweigend eine halbe Stunde gut, entschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben. Ich verwartete gerade in einem der Sessel im stimmenschwirrenden vollen Aufenthaltsraum unschuldig die Zeit, als Lukas zur Tür hereinplatzte und vor der versammelten Belegschaft meinen Halbe-Stunde-Eintrag herausposaunte, den er bereits schleunigst in zwei Stunden umgemünzt hatte. Was mir denn einfiele...?! Ein Murren und Raunen ging durch die Reihen. —Das kannste doch nicht machen! —Du machst uns unsere Zeiten kaputt! —Oh nein! Das gibt’s doch nicht! Meine Gesichtsfarbe wechselte. —Das geht so nicht! Wir schreiben alle mehr auf. —Tja, sagte Alex, du wirst dich hier an einiges gewöhnen müssen! Gebügelt versank ich tiefer im Sessel.

    Zuerst sollte ich den Schlüssel in der Wohnung im zweiten Stock des Mietshauses abholen. Als ich da schellte, rief es vom Dachboden hinunter. Ich stieg eine Treppe höher. Die Schwiegertochter, eine etwa fünfundzwanzigjährige, ins Dickliche tendierende Frau, erschien hinter Leinen voller Wäsche. Sie trug ein Kind auf dem Arm, zwei weitere versteckten sich hinter ihren Beinen. Sie gab mir den Schlüssel und Bettwäsche. Ich schloß die Erdgeschoßwohnung auf und ein Wimmern empfing mich. In der durch und durch ärmlichen Küche lag die alte Frau hinter dem Tisch auf der Sitzbank, sie hatte die Hände vors Gesicht gepreßt und heulte wie ein kleines Mädchen. Als ich einen Gruß aussprach, um meine Anwesenheit kundzutun, hielt die Frau kurz ein und sah scheu über die Tischplatte hoch. Dann duckte sie sich wieder auf die Bank und wimmerte nur noch lauter. Ich zog mich in den Flur zurück, tappte durch die Wohnung. Im Schlafzimmer schlugen mir verbrauchte Luft und scharfer Uringeruch entgegen. Ich hielt die Luft an und stürzte zum Fenster. Das Bett, ein Ehebett, das nur noch auf einer Seite benutzt wurde, war zerwühlt und vollgepinkelt. Ich blieb am Fenster stehen, bis die Luft besser wurde und ich mich etwas gesammelt hatte. Draußen war ein milder Herbstvormittag mit zartem Sonnenschein. Ich hatte die Gardine und das Zimmer in meinem Rücken und sah starr hinaus, bis mir einfiel, daß ich die Wohnungstür nicht abgeschlossen hatte, das fehlte noch, daß die Frau, die wie ein altes kleines Mädchen aussah, entwischte, dann wäre ich soweit, mich in die Küche zu setzen. Also schloß ich ab und suchte nach Besen, Wischlappen, Eimer. Das Wimmern hielt an. Uber dem Eimerrand hingen Gummihandschuhe, die streifte ich über, nahm mich zusammen und zog das Bett ab. Rings um das Bett war der PVC-Boden von trockenem dunkelbräunlichem Gebrösel übersät. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was das sein könnte, ich fegte das rasch zusam-men und wischte. Das Wimmern aus der Küche blieb die ganze Zeit, manchmal kurz verebbend, dann erneut einsetzend, leiser, lauter. Nachdem das Bett frisch bezogen war, schaute ich nochmals in die Küche, sagte aber nichts mehr. Ich schloß die Wohnungstür und drehte den Schlüssel um. Der nächste Einsatz war einige Straßen weiter. Ein hochgewachsener dürrer Greis über achtzig ließ mich herein. Er wohnte zusammen mit seiner Schwester, die schwerkrank im Schlafzimmer lag. Die Wohnung war geräumig und hell, gutbürgerlich eingerichtet. Die Flurwoche lag an. Ich wollte wissen, auf welche Weise die Treppe gewöhnlich gereinigt würde, aber der alte Mann winkte ab. —Ach, frag mich nicht, meinte er. Davon hab ich keine Ahnung, ich bin kein Kaufmann. Das hätte mir zu denken gegeben, wenn ich kaufmännische Ambitionen gehabt haben würde, so dachte ich eher an nichts, als ich wischte, diese Putzereien schienen sich immer ins Unendliche zu dehnen. Danach holte ich den Staubsauger aus dem Besenschrank und ging damit durch Flur, Küche und Wohnzimmer. Das Wohnzimmer hatte eine etwas die Kehle zuschnürende Ausstrahlung, es war, als hätte sich dort seit Jahrzehnten nichts mehr bewegt, eine starre Ordnung hielt die Dinge an ihrem Platz, und nichts würde sie je wieder beleben. Der alte Mann saß in einem Sessel und rauchte seine Zigaretten langsam bis zum Filter herunter. Seine Haut sah zerknittert und durchsichtig aus.

    Die mürrische Frau hatte ziemlich genaue Vorstellungen, wie ich vorzugehen hätte: -Und auf der Treppe nicht rund putzen, gehen Sie schön bis in die Ecken hinein! —Ja. Jawohl. Sie versorgte mich mit dem nötigen Gerät und schloß die Wohnungstür hinter sich, die Wohnung kam zuletzt. Ich fand mich in einem düsteren Trockenraum unterm Dach wieder, an einem dunklen Nachmittag in einem finsterem Stadtteil in einem Haus, das ich nie gesehen hatte, bei einer Frau, die ich nicht kannte. Da hingen leere drahtige Wäscheleinen und eine 25-Watt-Glühbirne. Eine Fensterluke saß hoch oben in den nackten Dachpfannen. Das war ein Gemeinschaftstrockenraum. Man konnte sich fragen, ob der überhaupt benutzt wurde, Schmutz konnte nur unter der Lupe ausgemacht werden. Ich fegte und wischte, und manchmal ließ ich die Arme hängen und konnte nur noch den Kopf schütteln. Im ganzen Haus war kein Laut zu hören. Die Uhren ließen sich die Minuten genußvoll auf den Zeigern zergehen. Ich wischte das Stück Flur bis zur Treppe, dann die Stufen herunter, das Stück bis zur Wohnungstür und weiter die Treppe herab bis zur Haustür. Danach hätte ich von mir aus aufhören können, solche Arbeiten mochten nicht anstrengend sein — mich machten sie hoffnungslos schwach. Die Frau ließ mich

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