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Spur 2 Spielen: Privatzeug 1856 bis 2012
Spur 2 Spielen: Privatzeug 1856 bis 2012
Spur 2 Spielen: Privatzeug 1856 bis 2012
eBook524 Seiten5 Stunden

Spur 2 Spielen: Privatzeug 1856 bis 2012

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Über dieses E-Book

Spur 2 Spielen

Freitag erzählt davon, wie die (vor-)geschichtlichen Spuren ungerufen, überflüssigerweise in einen prall gefüllten Alltag und Wirkungskreis platzen und was sie da auslösen (können). Die Spuren weisen hin auf Menschen und ihre Schicksale, die im Rollenspiel (Ausländer, Hörspiel; Ankunft, Theaterstück) zu neuem, virtuellen Leben erwachen und zeigen, dass sie sich mit Freuden und Leiden herumzuschlagen hatten, die für die Nachgeborenen nicht einmal so schrecklich fremd sind. Das heitere und gelassene Spielen mit den zufällig aufgefangenen Spuren von Privatzeug wird zu einer Hommage an geglücktes Überleben.


Privatzeug 1856 bis 2012
Versuch einer Spurensuche
Rainer Bressler, Herausgeber

besteht aus fünf Spuren. Jede Spur hat eine andere Hauptperson. Eine Mutter, deren Sohn im Exil lebt. Da ist das Thema Migration (1). Ein Mensch, der seine Spuren sucht. Der spielerische Umgang mit der eigenen Geschichte (2). Ein Teenager, der sich seinem Tagebuch anvertraut. Auch das Intime muss irgendwie raus (3). Ein Dichter, der nicht mehr veröffentlichen kann. Protest gegen bestehende Verhältnisse (4). Ein Ausgewanderter, der Briefe von seinen Freunden, Verwandten und Bekannten aus der alten Heimat und aus dem übrigen Ausland erhält. Die Ankunft am fremden Ort (5).
Die Spuren, die aus Dokumenten bestehen, erzählen Geschichten, die das Leben schrieb und die sich dementsprechend wie ein Unterhaltungsroman über scheinbar gewöhnliche Alltage lesen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. Jan. 2014
ISBN9783732202294
Spur 2 Spielen: Privatzeug 1856 bis 2012

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    Buchvorschau

    Spur 2 Spielen - Books on Demand

    Freitag. Erzählung Zürich 1999

    von Eugen Tanzner

    Ausländer. Hörspiel Zürich 2002

    von Rainer Bressler

    Ankunft. Theaterstück Zürich 2006

    von Rainer Bressler

    mit Buchzitaten, Dokumentzitaten, Sentenzen

    und Illustrationen, letztere von Dani Blizz

    Inhalt

    Freitag

    Ausländer

    Freitag (Fortsetzung)

    Ankunft

    Freitag (Fortsetzung)

    Anhang

    post (festum) scriptum. Interview Tanzner / Herausgeber

    Nachwort

    Lieraturverzeichnis

    Verzeichnis der verwendeten Dokumente

    Freitag. Erzählung Zürich 1999

    von Eugen Tanzner

    Woran ich zur Zeit schreibe, ist wieder sperriger. Hoffentlich wird irgendwann einmal etwas daraus. Noch sind es nur Ansätze.

    Matthias Zschokke, Lieber Niels, S. 625

    p.r.o.l.o.g Sturz: Neunzehn Uhr eins

    Kainer stürzt im Bruchteil einer kleinsten Zeiteinheit hinaus aus seinem gewöhnlichen in einen bezüglich seiner Lage gewöhnungsbedürftigen Alltag herein. Der Sturz bewirkt als erstes eine Flugphase. Kainer wird sodann in eine Landungsphase hineinfallen und je nach Betrachtungsweise tief oder nicht tief stürzen. In die Überraschung über den unerwarteten Flug hinein blitzen unzählige Gedanken auf: es darf nicht wahr sein; strahlend wach; erstaunlich, was ein einziger Mensch erlebt; dieses neckische Kitzeln im Bauch.

    Die Differenz zwischen der Absicht und dem tatsächlich Eingetretenen. Kainer war in der Küche beim Öffnen einer Flasche Perrier Jouet Belle Epoque Rosé von der ihn plötzlich heimsuchenden Idee gepackt worden, Camus’ La Chute zu lesen. Er kann dem Drang nicht widerstehen, stellt die für den Öffnungsvorgang erst vorbereitete Flasche zurück auf den Küchentisch, hastet hinter Vicky Schöntal, ohne ein Wort zu Vicky Schöntal, die Wendeltreppe zwei Stockwerke hoch, um sich in der Winde hinter dem Schlafzimmer aus seinen Büchergestellen das gewünschte Buch zu pflücken. Aus dem Nichts prallt sein linker Fuss im Schlafzimmer gegen einen Widerstand, der Kainer in der Hitze des Wettlaufs unvorbereitet trifft, den er sich in seiner Bewegtheit nicht erklären kann und der ihn wie im Traum anfällt. Der Gegenstand fällt Kainers Körper, physikalischen Gesetzen folgend. Der Schwung der raschen, im aufrechten Gang ausgeführten Vorwärtsbewegung wird umgeleitet. Kainers Körper verliert das Gleichgewicht. Kainer strauchelt, trudelt und schleudert, dem neu ausgerichteten Schwung der Materie folgend, von der Vertikalen in die Horizontale und mutiert zu einem Geschoss, das kopfvoran (rein physisch), durch die Lüfte saust. Kainer antizipiert erschreckt eine allenfalls schmerzhafte Bauchlandung, bei der er sich etliche Knochen brechen wird. Es ist neunzehn Uhr eins, an diesem Freitag, dem Dreizehnten. Kainers im Bruchteil einer Sekunde entfesselter und durchrasender Erinnerungsfilm rekapituliert gedanklich in Kürze die verschiedenen aufwühlenden Begegnungen dieses verflixten Tages, dessen Krönung der Sturz, beziehungsweise der Flug sind. Der Film streift Vati, Vicky Schöntal, den Fremden, das Hörspiel, Tomislav, Oberholzer, Teiker, nochmals den Fremden und das Theaterstück.

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend Vati.

    Obacht, du spinnst, wenn du dich noch immer von ihm verfolgen lässt! An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins ist die Urne mit der Asche Vatis (Eine Geschichte für sich!) seit rund zehn Jahren soundso viele Zentimeter unter der Erde vergraben und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (noch) nicht zu Erde geworden, ist und bleibt eine geduldige Spur, die nichts weiter tut, als eine sich mit Zeitlupentempo zersetzende Spur zu sein, mit einem Grabstein drauf.

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend Vicky.

    Hilfe, ich verpatze durch mein kopfloses Handeln den gemütlich und kuschelig geplanten Abend, und Vicky Schöntal fragt sich bestimmt, wo ich stecke!

    Keine Rede davon, dass Vicky Schöntal (Was für eine Geschichte!) Kainer bereits vermisst. An diesem Dreizehnten um neunzehn Uhr eins, während Kainer fliegt, steht Vicky in ihr Tun versunken und die Umwelt nicht mehr wahrnehmend in der Küche und drapiert die extra dick geschnittenen Stücke vom marinierten Lachs in einem hübschen Muster auf den beinahe schon antiken KPM-Teller aus Kainers Fundus. Ihre Gedanken kreisen um den Entscheid, die Senfsosse nicht auf den Teller, aber in ein separates Schälchen zu geben, weil die Sosse sonst, falls Kainer sich zu hastig oder zu ungeschickt bedient, durch den durchbrochenen Rand des Tellers auf das soweit noch saubere Tischtuch tropfen könnte. Das Tischtuch will sie, ohne es vorher zu waschen, bis zur grossen Familieneinladung am Sonntag behalten, eventuell sogar bis zur St. Galler-Einladung vom übernächsten Samstag.

    Dani Blizz, Herr K., wie er leibt und lebt, Zeichnung 1983

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend den Fremden.

    Wie kann ein Mensch seinen Mitmenschen und Nächsten lieben, wenn dieser ihn aus dem Hinterhalt anfällt und ihm beliebige Geschichten auftischt!

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins sitzt Ariel Unterwasser (eine höchst seltsame Geschichte!), der für Kainer Fremde, vergnügt in fröhlicher Runde im Certo bei Klatsch & Tratsch oder, wie andere den Anlass zu nennen pflegen, im Klub der toten Dichter, erschrickt und starrt verblüfft ins Leere, als sein privater Kobold, sein Medium, ihm auf die rechte Schulter hüpft und ihm ins linke Ohr flüstert, Operation gelungen – Proband mit dem Material in Verbindung gebracht. Ariel Unterwasser reibt zufrieden seine Hände, ist entzückt und wendet sich wieder seiner Runde zu, in Gedanken noch an seinem Mini-Parzival klebend, den er in den dunklen Wald geschickt hat.

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend das Hörspiel.

    Diese Geschichte geht mich nichts an!

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins haben die Spuren des Stoffs, aus dem ein Hörspiel werden wird, Kainer gefällt, ohne dass dieser sich dessen bewusst ist und ohne dass er ahnt, wie nah er diesem Stoff ist, der in alten, verstaubten Hüllen in einem Karton dahindämmert.

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend Tomislav. Das arme Schwein – oje, jetzt nenne selbst ich ihn so!

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins sitzt Tomislav (irritierend als Geschichte!), zusammen mit seiner Schwägerin Marina und deren Tochter Olivia in deren Küche bei einem köstlich mundenden Bami Goreng. Tomislav ist echt gut drauf und setzt gerade an, um Marina zu erzählen, dass er von einem Freund ein Darlehen für seinen Verlag erhalten hat und das Buch veröffentlichen kann, das mit Bestimmtheit ein Bestseller werden wird. Marina kommt Tomislav zuvor und gratuliert ihm fröhlich, sichtbar belustigt, zu der tollen Lügengeschichte, die er Zoran aufgetischt und die dieser ohne mit der Wimper zu zucken geschluckt habe. Sie finde die Geschichte, dass das Konsulat nicht bereit gewesen sei, ein Notfallvisum auszustellen, genial erfunden und er, Tomislav, habe sie so gut erzählt, dass sie sie selber beinahe geglaubt habe. Tomislav kann es nicht fassen. Der Menschheit ganzer Jammer packt ihn augenblicklich an.

    Ich hatte, wie gesagt, keine Ahnung, wie weit ich gekommen war, ob das trägt, aber das Problem, von dem ich spreche, also die Inkongruenz zwischen dem Funktionieren der Erinnerung und dem Funktionieren des Geschichtenerzählens, dieses Problem ist so alt wie die Menschheit.

    Harald Martenstein, Gefühlte Nähe, S. 204

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend Oberholzer. Mit seinen Lügen ist Oberholzer selber am meisten gestraft – und Oberholzer kann mich mal!

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins sitzt Oberholzer (Oje, schon wieder so eine Geschichte!), mit seiner Frau Martha schweigend am Küchentisch beim Nachtessen. Martha hat ihn – und auch sich – auf Diät gesetzt. Martha und er sind alleine. Röbeli ist bei einem Freund. Oberholzer schweigt verbissen und nagt am trockenen Brot und am fettarmen Käse. Er ist noch immer verärgert über Martha. Kaum hatte er die Haustüre geöffnet, gellte auch schon Marthas Stimme ihm vom Treppenabsatz im dritten Stock durch das Treppenhaus entgegen. Stell dir vor, Karl, ich bin am Ende mit meinen Nerven, sie haben den Röbeli mit Haschisch erwischt. Oberholzer gerät erneut in Rage bei der Vorstellung, dass alle Nachbarn die peinliche Geschichte mitbekommen. Insbesondere die Sollenbergerin, das Waschweib, wird die Neuigkeit bestimmt im Brustton der verlogenen Betroffenheit in die gesamte Nachbarschaft hinausposaunen. Dass ausgerechnet der Röbeli von Polizistens – von ihm hätte man es am Allerwenigsten erwartet – , vom dritten Stock, kifft. Ist es nicht schrecklich, die ärmsten Eltern!, wo sie doch so anständige Leute sind.

    Diese Art von polyphoner Philosophie ist ein Bewusstmachungsdenken und Zu-Gehör-Bringen von Standpunkten, eine Inszenierung verschiedener Stimmen.

    Michael Hampe, Das vollkommene Leben. Hanser 2009, S. 254

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend Teiker.

    Teiker verkennt mich. Er wird mit mir noch seine blauen Wunder erleben! An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins liegt Teiker (wenn eine Geschichte empört, dann diese!) neben einem wildfremden Menschen, der ihn unmittelbar zuvor in den Arsch gefickt hatte, in einer Liegekoje der (Männer-) Sauna Antinous und erzählt ihm, dass ein kleiner Untergebener es gewagt hatte, ihn, seinen Chef, ein Arschloch zu nennen. Er habe ihn auf der Stelle fristlos gefeuert.

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend den schon wieder, nochmals aufgetauchten Fremden.

    Nein, Hilfe, nicht schon wieder dieser Dödel mit seinen endlosen, niemanden interessierenden Geschichten!

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins sitzt Ariel Unterwasser, siehe oben, im Certo.

    Kainers Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflacker betreffend das Theaterstück.

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins schlummert das Theaterstück (diese Geschichte geht mich nun wirklich nichts an!) diffus als Idee in Kainers Kopf, ohne dass Kainer auch nur etwas davon ahnt, weil er die Verbindung zur Geschichte noch nicht geschnappt hat.

    Filmriss, Ende des Bruchteil-einer-Sekunde-Gedankengeflackers.

    Kainer ist Superman. Er fliegt. Sein Denken und Trachten löst sich im Flug orgiastisch auf, zerfliesst in diesen relativen Höhen, so dass Kainer trunken-taumelnd-beduselt deliriert: ich fliege ichfliegeichfliegeichfliegeich. Euphorie. Ich fliege, ich fliege ichfliegeichfliegeichfliegeich. Phantasmagorie. Beherrscher des Alls. Kainer im Nukleus eines unentwirrlichen Knäuels, gefangen, gefesselt und schlafend bei hellwachen Sinnen. Fliegen durch die Lüfte des Schlafzimmers, die zum All werden. Das All ist nicht nichts. Es erscheint als gewöhnliches Umfeld im gewöhnlichen Alltag, wie jede neue und noch so absonderliche Position in seiner gewohnten Umgebung automatisch zu seinem gewöhnlichem Alltag wird, sobald sie da ist, weil er, Kainer, nicht aus seiner Haut hinausfahren kann und seinem Körper überall hin folgt. Kainer ist Körper und Geist. Und Seele. Sein gesamtes Wissen in der Erinnerung, in der Phantasie, in den Träumen strebt auf einen Punkt zusammen und ist eine geballte, unendliche, nicht zu beschreibende Ladung, die sich aus tausend Teilchen zusammensetzt, deren Beschreibung ein Millionenfaches des Bruchteils einer kleinsten Zeiteinheit erfordert und daher bei einer exakten Beschreibung jeden Details die kompakte Form schrecklich aufbläht, verzerrt und sie in allen Dimensionen (inklusive der Zeit) zu sprengen droht. Da sind der Flug, die Flugzeit, der Flugkörper und im Geist dieses Flugkörpers – Kainers – das entfesselte Erinnern von tausenden und abertausenden Geschichten und Wahrnehmungen gleichzeitig, im Bruchteil einer Sekunde. Das Papier ist geduldig, drängt nicht. Kainer fliegt und hier soll der Versuch unternommen werden, das Wechselbad von Kainers Befindlichkeiten und Stimmungen während dieses Sekunden-Flugs einzufangen. Der Sturz Kainers ist nicht bloss eine Folge von durch physikalische Gesetze bestimmten Bewegungen eines Körpers in einem Raum. Die Erschütterungen von Kainers Geist und Seele, die als Spiegelungen und Schatten allen Privatzeugs, das die Person Kainers ausmacht, drängen, im Sprachraum Niederschlag zu finden und als Spur einen Text zu hinterlassen.

    Wetten, dass Gott die Welt so hört: Millionen von Klängen, die aufs Mal aufsteigen und sich in seinem Ohr vermischen, um eine unendliche Musik zu werden, unvorstellbar für uns.

    Peter Shaffer, Amadeus, 2. Akt, Szene 4

    Verdammt dazu, eine Rolle zu spielen, die du im Kopf nicht aushältst, doch in der Wirklichkeit stehst du grinsend da wie ein Clown, wie ein Don Juan, wie ein Faust, wie ein Odysseus, wie ein Buddha, wie ein Jesus oder wie Otto Normalverbraucher, träumend wie Lieschen Müller, und trägst ein Schicksal – widerlich!

    Well, Sir Anthony, since you desire it, we will not anticipate the past! – So mind, young people – our retrospection be all to the future.

    Sheridan, zitiert nach: Niall Ferguson, Civilization. The West and the Rest, S. 295

    Der plötzliche Schrecken vor dem Aufprall am Boden, nach dem Flug. Das hastig festgehaltene Protokoll eines zu knapp angekündigten Todes. Knochen bersten und ein zufällig am Boden, auf dem Spannteppich liegender spitzer Gegenstand wird sich beim Aufprall in Kainers Bauch bohren, in der aufgerissenen Körperöffnung durch die Verschiebung des Rumpfes und der Extremitäten (Kainer rollt sich intuitiv in Embryonalstellung) in die Weichteile von Kainers Bauch hineinboren, um dann – kaum lastet Kainers Bauch nicht mehr auf dem spitzen Gegenstand – aus der künstlich klaffenden Körperöffnung herauszuploppen. Aus der Wunde spritzt zuerst Blut in Fontänen. Danach quellen Innereien in gallertigen Säften und Fetzen von Geweben heraus. Flüssigkeiten blubbern, Blut rinnt. Das Bild einer an sich ruhigen, doch unerbittlichen Destruktion von Kainers Körper in immer dekonstruierteren Stufen bis hin zur totalen Zerfetzung dessen, was einmal sichere Basis eines gewöhnlichen Daseins gewesen war.

    Dani Blizz, Ich als Brunnen, verlorengegangenes Aquarell 1985

    Dani Blizz, Ich als Brunnen, nach Bruce Nauman, Fotokopie eines verlorengegangenen Aquarells 1985

    Der Schrecken wird schon von einem nächsten Schrecken überholt. Alles Unerledigte, alles Halberledigte, alles Scheinerledigte, alles Verlogenerledigte, jedes Ding, das Kainer je getan hat, blitzt auf und klatscht ihm von allen Seiten um die Sinne. Der sichere Tod und ab durch die Mitte, in Himmel oder Hölle, egal, den Rattenschwanz alles Dräuenden hinter sich herziehend, hinter sich lassend, abhängend, um die Stille, diese hallende, diese dröhnende Stille zu erleben und den Blick nach unten, in diesen wuselnden Alltag hinein, aus der Vogelperspektive, wo Kainers Ende als ein gemeiner Haushaltsunfall mit einem Wimpernschlag vorüber und erledigt ist, obwohl Kainer vielleicht danach, wenn’s gut endet, als Rollstuhlfahrer wieder in seinen gewöhnlichen Alltag zurückgetaucht wird. Die Stille, diese hallende, diese dröhnende Stille wirbelt in rätselhaftem Sog eine Erinnerungssäule auf.

    O Gott, ich verpasse den Freitagskrimi am ZDF! Und die Flasche Perrier Jouet Belle Epoque Rosé habe ich noch nicht geöffnet! Gefolgt von der objektiven Einschätzung: ein Sturz ist ein Sturz ist ein Sturz ist ein. Chaos. Das reinste Chaos. Ein Feuerwerk eruptiver Gedankensplitter, wuchernd aus kleinsten, glitzernden, durchsichtigen, irisierenden, opaken, substanzlosen, fliessenden Impulspartikelchen, die wie Wassertropfen-Brillanten aufblitzen, mäandernd im Lavastrom der Suche oder Sucht nach einer wie auch immer gearteten Artikulation, eine Textur aus gefühlten Phantasien / Träumen / Ideen / Impulsen / Gedanken / Sentenzen / Maximen / Aussprüchen / Zitaten / Hörspielen / Theaterstücken / Quellennachweisen / Fiktionen / Romanen / Gesetzen / Berichten / Briefen / Gedichten / Abhandlungen / Tagebüchern. In diesem Augenblick, in dem die Zeit stillsteht und sich auf einem Rundum, wie auf einem Karussell alles dreht, was war, was ist und was wird, leuchtet die Essenz der Existenz heraus in unzähligen Phantasien / Träumen / Ideen / Impulsen / Gedanken / Sentenzen / Maximen / Aussprüchen / Zitaten / Hörspielen / Theaterstücken / Quellennachweisen / Fiktionen / Romanen / Gesetzen / Berichten / Briefen / Gedichten / Abhandlungen / Tagebüchern, so dass Kainers Mund offen bleibt. Er staunt und lässt sich berieseln von diesen Phantasien / Träumen / Ideen / Impulsen / Gedanken / Sentenzen / Maximen / Aussprüchen / Zitaten / Hörspielen / Theaterstücken / Quellennachweisen / Fiktionen / Romanen / Gesetzen / Berichten / Briefen / Gedichten / Abhandlungen / Tagebüchern, als ob es Goldflitter ist, den es von oben auf ihn niederregnet. Voller Wonne jauchzend ob der Phantasien / Träume / Ideen / Impulse / Gedanken / Sentenzen / Maximen / Aussprüche / Zitate / Hörspiele / Theaterstücke / Quellennachweise / Fiktionen / Romane / Gesetze / Berichte / Briefe / Gedichte / Abhandlungen / Tagebücher. In Lichtgeschwindigkeit durchrasende Phantasien / Träume / Ideen / Impulse / Gedanken / Sentenzen / Maximen / Aussprüche / Zitate / Hörspiele / Theaterstücke / Quellennachweise / Fiktionen / Romane / Gesetze / Berichte / Briefe / Gedichte / Abhandlungen / Tagebücher. Endlose, bis ins kleinste Detail ausgedachte Phantasien / Träume / Ideen / Impulse / Gedanken / Sentenzen / Maximen / Aussprüchen / Zitate / Hörspiele / Theaterstücke / Quellennachweise / Fiktionen / Romane / Gesetze / Berichte / Briefe / Gedichte / Abhandlungen / Tagebücher. Bis die Bewegtheit plötzlich erstarrt, in Licht erstrahlt, gestochen scharf geschrieben steht, jede einzelne Phantasie, jeder einzelne Traum, jede einzelne Idee, jeder einzelne Impuls, jeder einzelne Gedanke, jede einzelne Sentenz, jede einzelne Maxime, jeder einzelne Ausspruch, jedes einzelne Zitate, das einzige Hörspiel, das einzige Theaterstück, jeder einzelne Quellennachweis, jede einzelne Fiktion, jeder einzelne Roman, jedes einzelne Gesetz, jeder einzelne Bericht, jeder einzelne Brief, jedes einzelne Gedicht, jede einzelne Abhandlung, jede einzelne Tagebuchseite festgeschrieben war, ist, wird.

    Eine gestochen scharfe Erinnerung.

    Kainer auf seinen Fersen sitzend, in Andachtshaltung vor der Sitzfläche des Stuhles, den Namiki-Füller in der rechten Hand. Das Blatt unbeschrieben. Kainer setzt die Feder seines Namiki-Füllers am rechten oberen Rand an. Von da an die gezogenen, gestossenen Fäden mit Montblanc Tinte Südsee Blau. Kaleidoskop der Möglichkeiten / Gedankenreisen, trunken von der Schönheit der Farbe, in der die Worte aufs Papier fliessen, in dieses Morgengebet hinein. Sätze, Sentenzen, die er aus den Briefen seiner Grossmutter aufgeschnappt hat, die ihm selber eingefallen sind, die ihn amüsieren, fesseln, irritieren, die immer wieder präsent sind, überall und da und dort auftauchen, aus Texten hervorlugen, in Schnürchenschrift beschwingt geschrieben mit südseeblauer Sehnsuchts-Inseltraum-Tinte.

    Er sah mich an, mit diesem kühlen Blick, mit dieser ernsten Miene, hinter der ich den Zynismus grinsen sehe, die Unmenschlichkeit in Person, und er lässt wie beiläufig fallen, dann sind sie hier wohl am falschen Platz! Verdammt dazu, eine Rolle zu spielen, die du im Kopf nicht aushältst, doch in der Wirklichkeit stehst du grinsend da wie ein Clown, wie ein Don Juan, wie ein Faust, wie ein Odysseus, wie ein Buddha, wie ein Jesus oder wie Otto Normalverbraucher, träumend wie Lieschen Müller, und trägst ein Schicksal – widerlich!

    Und ich trotte hinterher, nicht mal widerwillig, lasse mich belehren und gebe brav die richtigen Stichworte.

    Zurzeit nicht opportun! Hat man da noch Worte?! Privatzeug, sieh nicht hin, geht niemanden was an. … unaussprechlichen Teil des Körpers …

    Was bist du mir für ein tapferer Krieger! Ha ha ha.

    Anbiederung an die hiesige Lebensart – und erst noch an der Basis, gratuliere! Anstatt ernsthafter Gedanken um die Situation im Allgemeinen und so, Gestolper in verdammt trügerischem Schein-Alltag!

    Deine Schoko schmeckt, wie immer, sehr gut.

    Ich verstehe doch nur zu gut, dass ein junger, strammer Deutscher Schwierigkeiten mit dem Regime in seiner Heimat hat. Und ich verstehe auch, dass er seine Haut retten möchte und Arbeit im nahen Ausland sucht. Ich bin sogar bereit, ihm zu helfen. Doch dann soll er sich gefälligst anpassen und sich wohl verhalten.

    Wenn einem hier was nicht passt, soll er verreisen!

    Wie Behörden, Politik, der öffentliche Diskurs mit den Ausländern umspringen, irritiert mich, ist eines aufgeklärten Staates nicht würdig.

    Wenn er bei der intimsten Verrichtung nicht mehr alleine sein kann, das ist entwürdigend, das hält ein Gesunder kaum aus. Wie muss das erst auf einen schwachen, angeschlagenen, kranken Menschen wirken?

    Dieses Geständnis. Ist es echt? Ist es falsch? Wird das Geständnis seine schrecklichen Charaktereigenschaften beseitigen? Er wird nicht zum pflegeleichten Flüchtling, der wie ein Hündchen seinen treuherzigen Blick auf einen pflanzt und mit dem Schwänzlein wedelt!

    Peinlich, irritierend, aber auch erhellend, anregend, mit begierig-widerwilligem Blick Dinge mitzubekommen, die einen nichts angehen. Privatzeug! Heut möchte ich Dir einmal ordentlich den Kopf waschen. Warum lässt du ihn hängen? Danke Gott, dass Du eine gute Stellung hast und dass Dich Deine Tätigkeit befriedigt.

    Also Kopf hoch, alter Junge.

    Du sollst Dich aber wirklich öfters zerstreuen, damit die Einsamkeitsgefühle sich verflüchtigen.

    Das Damoklesschwert Illegalität. Kein Mensch ist illegal! Ein Mensch ist ein Mensch und ihm gebührt der notwendige Respekt.

    Nach langem, endlos langem Gespräch erst kam er auf den Punkt.

    Und gerade in der Jugend drängt es ja jeden, Genossen zu gemeinsamen Pläsieren zu haben – denn Genossen zu gemeinsamer Betätigung hast du ja, wenn sie auch, wenigstens zum Teil, anders beschaffen sein könnten.

    Denken – Gedanken! Ich setze dir eine Idee in deinen Kopf. Von da soll sie runterrutschen in dein Herz und dort heranwachsen, erblühen.

    Man hat doch so niemand mit dem man sich so richtig aussprechen kann. Ich selbst bin mit den Nerven ziemlich runter bin.

    Bei der Lektüre und im Leben beschäftige ich mich mit Teilaspekten, den schönen Formen, lasse mich davon betören und verliere somit den Blick für das Ganze. Zum Schluss weiss ich nicht, was ich gelesen habe, was läuft und so weiter. Eine schwelgerische Haltung, entgegengesetzt dem gezielten Schlag eines Henkerbeils, dem Abzug zu einem Schuss ins Schwarze, doch, Obacht, zielgerichtet heisst noch lange nicht, das Ganze im Auge zu haben, ich schwebe, ich floate.

    Es stürmte zu viel auf mich ein und ich bin doch schliesslich.

    Das Auge erhascht was. Im Gehirn blubbern Teilchen von Unfassbarem, Mythologischem, Legendärem, Verrücktem auf. Aus welcher Vergangenheit, aus welcher Ahnung blubbert es auf? Wo stehe ich zwischen meiner Wahrnehmung und meinen Gedanken? Drängt Vorgeschichte ins Bewusstsein, mit der angesammelten Weisheit aller Ahnen? Nicht nur Weisheit, auch Erfahrung, Dummheit … Der Schock, dass Geister da sind, aus fremden, früheren Welten, verstaubt, die ich entstaube, so dass es stiebt und ich nach Atem ringe, um unversehens dann eine Ahnung davon zu kriegen, wie das Leben, ein Leben, mein Leben aus tausend Dingen zusammengefügt ist, wie das kunstvollste Bild auf Leinwand, Farben, gekonntem Strich entsteht, als Einzelteil ein Nichts und erst im Ganzen dann das Kunstwerk, aus dem heraus der Geist von Menschen spricht, von Menschen, die sich mir mit einem Mal zuneigen und mit denen ichim Nu in einen anregendsten Diskurs verstrickt mich vorfinde, so dass Einige aus meiner Gegenwart ihre Köpfe schütteln und sich fragen, mit wem redet er? Keine Sorge, ich behalte nichts für mich, ich schreibe alles nieder, meine stummen Monologe, Dialoge, Phantasien, Träume als Geschichten, Hörspiele, Theaterstücke, Privatzeug eben, weil, was vergangen ist, Zukunft in sich barg und noch immer birgt.

    Du fühlst dich so hilflos, total hilflos, im wahrsten Sinne des Wortes. Du funktionierst. Niemand da, der dir helfen kann, will, darf.

    Hilfe von denen, die tatsächlich helfen können und wollen. Sonst möglichst alleine, mir selber überlassen, bitte! Andrerseits die Vorstellung, dass Ereignisse schrill, reisserisch, blutrünstig, leiddräuend dargestellt und banal-beliebig mit Aufmerksamkeit erhaschendem Tremolo in der Stimme aufgebauscht werden, um zu verblüffen, Nervenkitzel hervorzurufen und den Boten im Abglanz der «Sensation» erstrahlen zu lassen – ich will eine ganz gewöhnliche Annäherung an die Katastrophe, die Nachgestaltung aus der Erinnerung im Alltag, im ganz gewöhnlichen Alltag ankommen lassen.

    Der Katastrophe knapp entronnen. Weshalb nun meinen tüchtig durchgeschüttelten Lebensplan vollends über den Haufen werfen?! Ich muss an meinen Plänen festhalten, so gut ich kann. Die Katastrophe ist dort. Ich bin da. Ich muss für mich schauen, mein Leben leben, so schockierend, herzlos es scheinen mag und so sehr sich die Andern auch ihre Mäuler zerreissen und über mich tratschen. Eine gescheitere Lösung vermögen auch sie nicht anzubieten. Ihre scheinbare Betroffenheit ist so etwas wie ein diffuser Nebel, weiter nichts. Ich will mein Leben leben!

    Das Leiden – Privatzeug. Politik, Ruhe und Ordnung, Gesetze – na ja. Der Humor, ja, der Humor, er ist wiederum Privatzeug.

    Solange Distanz da ist, die künstliche Anonymität, kann man ihm kühl alles Perverse runterzujubeln. Doch dann schaut er einen an, mit grossen Augen, diesem Blick – und man ist wie gelähmt.

    Planetengeplänkel. Planeten strahlen sich gegenseitig an, Einfallwinkel der Strahlen je nach Eigenbewegung und Position. Was für einen Sinn macht es? Ob sie sich bewegen, die Planeten, sich gegenseitig anstrahlen oder ins Leere strahlen?

    Verdrängung der irritierenden Wirklichkeit, dann, sobald man die Katastrophe im Griff hat, das Klageweibergetue, entfesselt. Eine obszöne Vereinnahmung der Oberfläche der Katastrophe als willkommene Plattform für eigene Kapriolen, ohne dass es zu schmerzen braucht. So eine Art Rollenspiel, Beschwörungsritual. Heiliger Sankt Florian, hast Andrer Haus angezündet, Gott sei Dank!

    Weshalb nicht ruhig bleiben. Den Opfern Zeit lassen, sich wieder zu sammeln, Luft zu kriegen, Bedürfnisse zu artikulieren. Helfersyndrom / Überbehütung – krasse Vergewaltigung durch Gutmenschentum.

    Der Umgang mit der Tragödie. Die Tragödie wird geboren beim mentalen Nachvollzug der irritierenden Geschehnisse. Die irritierenden Geschehnisse sind chaotisches Leben bei entfesselten Natur-, Menschen-, Kosmosoder Strukturgewalten. Wir kleben das Etikett Tragödie dran, ein Lehrstück. Sofern der erschreckte Mensch daraus überhaupt etwas mitkriegt. Der erschreckte Mensch nicht seine Empfindung abgeschaltet hat. Sich den schockierenden Geschehnissen zum Trotz genüsslich /selbstzufrieden zurücklehnt, nach üppigem Mahle seinen würzigen Rülpser in den Äther entfahren lässt, und nichts weiter will als gute Unterhaltung, obszön und lustig, Komödie oder Tragödie, egal, verdammt noch mal!

    Das Ringen um eine angemessene Haltung. Teils ist man getrieben, von seligen oder unseligen Geistern, teils beflügelt, geritten von einflüsternden Teufeln oder Engeln.

    Und da will einer noch behaupten, alles sei klar. Nichts ist klar. Ständig ringt man um Klarheit, Wahrheit, Authentizität – und hört man auf damit, plumpst man in den Morast des Irrtums, in diese Scheisse, warm und wohlig, doch leider, leider nicht das Element fürs Leben, selbst wenn sie generell zum Dünger taugt. – Hör auf mit Schnarchen! Schnarchen?! Ich?!

    Diese verdammte Zerrissenheit, ach! Je mehr gleichzeitig der Fall ist, desto schmerzhafter wird es!

    Kainer hebt den Namiki-Füller vom Blatt, setzt die Kappe auf den Vorderteil mit der Feder. Kainer steht auf, verspürt ein Kribbeln in den Beinen nach dem langen auf den Fersen Hocken, spürt, dass er lebt, in der Erinnerung, während er tatsächlich der (harten oder mit etwas Glück weichen) Landung entgegenfliegt.

    Kainer antizipiert, aus der Gemeinschaft der Ungestürzten ausgeschlossen zu sein, sich im Beziehungsnetz der gemächlich ungestürzt in den Tag hinein Lebenden künftig fremd zu fühlen. Kainers Blick krallt sich am rasant den Augen entgegenflirrenden Teppichboden fest. Zittern und Zähneklappern.

    Erst die Ähnlichkeits-, die Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen machen die Dinge wahr. Die Wahrheit ist der Zufälligkeit des blossen Nebeneinanders entgegengesetzt. Wahrheit bedeutet Bindung, Beziehung und Nähe.

    Byung-Chul Han, Der Duft der Zeit, S. 52

    Im Blick die Oberflächenstruktur des Spannteppichs, rasend sich nähernd, dunkelbeige, flauschig und weich, der Teppich, und Kainer denkt im Moment des Sturzes die Frage, wie eine so beschaffene Landefläche Schrecken verbreiten kann? Die Spannteppichoberfläche lädt zum weichen flauschigen Dasein ein. Dennoch weit aufgerissene Augen, stockender Atem. Gedankenriss. Kainers Gedanke in der letzten Phase des Stürzens: ein Bild für Götter! Ich bin komisch anzusehen, zum Kranklachen, Slapstick, Komödie. Wäre ich Schriftsteller, tagträumt Kainer, müsste ich festhalten, was ich an Erstaunlichem erlebe, was für phantastische Begegnungen mir das Leben beschert. Bisher habe ich immer Glück gehabt, ich bin ein Glückskind, frohlockt Kainer, ich werde dem sicheren Tod von der Schippe springen und mit einem blauen Auge davonkommen, damit alles seine Richtigkeit hat. Ich werde den Sturz heil überstehen und einen Roman schreiben.

    Wahrhafftig steckt die Kunst inn der Natur. Wer sie heraus kann reyssen, der hat sie.

    Albrecht Dürer

    Einen fünfbändigen Roman von insgesamt 1'437 Seiten. Dokumente, Texte kunterbunt zusammengefügt zu einer Collage.

    Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern sie macht sichtbar.

    Paul Klee

    An diesem Freitag, den Dreizehnten, um neunzehn Uhr eins schlägt Kainer fatal auf dem Boden auf. Das einzig Kohärente ist die Imagination eines fliegenden Torsos, gezeichnet, in unzähligen Stellungen, nackt und bloss, zerstreut als Vignetten in der (Vor-) Geschichte und den (Vor-) Geschichten des Sturzes. Die Kunst der Zeichnung als Spur (eines Dagewesenseins). Die Landung, der harte Aufprall – und damit Ende des Stürzens.

    If, as Marx insists, the point of departure for our analysis must be the historical present, then it seems to me that a new way of understanding how temporalities conflict and converge will be necessary for any complex description of that present.

    Judith Butler, Frames of War. When is Life grievable, Verso London New York 2010, S. 133

    Sieben Uhr zweiundvierzig

    Vati ist gefällt, zerstört, verbrannt, zu Asche mit kleinen Knochenresten, im übertragenen Sinn zu Erde geworden. Weltgewissen, das – solange sich jemand an sein vergangenes Erdendasein erinnert – unvermittelt an dieser oder jener Stelle, in diesem oder jenem Moment aufblubbert und das niedliche Menschlein, in diesem Falle Vatis Sprössling, Kainer, der plötzlich von diesem Gesicht, von diesem Gespenst übermannt wird, mitten aus seinem Erdengewusel aufschreckt. Der Sprössling, dieser kleine Wicht, erbleicht. Er hasst es von Gesichten heimgesucht zu werden. Insbesondere, wenn das Gesicht Vati ist. Diese hämische Fratze taucht aus dem Nichts auf, lauert in der Luft, in der Erde, im Feuer, im Wasser. Am Morgen dieses Freitag des Dreizehnten kommt Kainer in seinem Büro an. Er richtet sich ein und entfaltet dann die NZZ auf seinem Schreibtisch, blättert sie durch, bleibt genüsslich lesend an einem Bericht über eine Ausstellung von Werken von Francis Bacon und Bruce Nauman in Bilbao hängen. Die Vorstellung springt ihn an, dass Teiker, sein Chef, plötzlich in sein Büro platzen und ihn bei der Zeitungslektüre überraschen könnte. Diese unwillkürliche und irrlichternde Vorstellung belustigt Kainer. Teiker nimmt sich die Freiheit, ohne jegliche Erklärung im Amt physisch zu erscheinen, wann es ihm passt. Meist zur Zeit der Neun-Uhr-Kaffeepause oder noch später. Bis da wird Kainer schon bis über beide Ohren in seiner Arbeit stecken. Kainer schmunzelt beim Gedanken, mit welchen Nieten als Chefs sich ein kleiner Angestellter wie er herumzuschlagen hat! Bestimmt sei es an anderen Orten noch schlimmer, denkt er. In seiner Häme hebt er seinen Blick an diesem Freitag, dem Dreizehnten, um sieben Uhr zweiundvierzig, und starrt für einen Augenblick Löcher in die Wand. In diesem Augenblick blubbert ihm aus der angegrauten, weissen Wand, wie aus einem plötzlichen Riss durch schönste Oberfläche, Vatis grinsende Fratze entgegen. Für einen kurzen Augenblick. Doch dieses kurze Aufleuchten des Gespenstes genügt, um diese aus Hass genährte Erregung für einen kurzen Moment auflodern zu lassen, bis Kainer wieder weiss, dass er seinen Hass auf Vati längst überwunden hat. Was soll ihm, dem gestandenen Mannsbild, ein Häufchen vermodernde Asche anhaben! Kainer nimmt den Spuk spontan als schlechtes Omen für den Tag. Dann lacht er über seinen Aberglauben. Zum Glück ist er nicht krank. Wenn er bei der intimsten Verrichtung nicht mehr alleine sein kann, das ist entwürdigend, das hält ein Gesunder kaum aus. Wie muss das erst auf einen schwachen, angeschlagenen, kranken Menschen wirken?

    … Sie können höchstens einen

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