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Spur 1 Reisen: Privatzeug 1856 bis 2012
Spur 1 Reisen: Privatzeug 1856 bis 2012
Spur 1 Reisen: Privatzeug 1856 bis 2012
eBook525 Seiten6 Stunden

Spur 1 Reisen: Privatzeug 1856 bis 2012

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Über dieses E-Book

Spur 1 Reisen
Lokomotion. Reisebericht Japan 1997 von David Kristiaan
Deportation. Dokumentencollage Breslau 1941

1997 reist im Sinne einer Flucht vor seinem nervenden Alltag der Protagonist von David Kristiaans Reisebericht nach Japan, schmeisst sich in Tagträume, wacht auf und erlebt in der Fremde das Fremdsein am eigenen Leibe. Dabei wird er überraschend und unerwartet von der Geschichte seiner Grossmutter anhand von Briefen, Tagebucheinträgen, Gesetzen, Gedichten, Medienberichten, Zitaten, Anmerkungen) eingeholt, stürzt in Trauer über das bisher Verdrängte und schwört sich, nach der Rückkehr sich den Spuren und Dokumenten, die er bruchstückhaft und ungeordnet erinnert, zu widmen, um endlich zu erfahren, woraus das bisher tatsächlich Verdrängte/Verschwiegene/Vorenthaltene besteht.


Privatzeug 1856 bis 2012
Versuch einer Spurensuche
Rainer Bressler, Herausgeber

besteht aus verschiedenen Spuren. Jede Spur macht einen Aspekt der Integration einmal zugefallener und wahrgenommener (Vor-)Geschichte(n) in einen alltäglichen Alltag les- und erkennbar. Historische private (Tagebücher, Briefe, Gedichte, Oral History, Erinnerungen) und allgemeine Dokumente (Gesetze, Medien­berichte, Zitate, Anmerkungen) werden mit (Reise-)Berichten, Erzählungen, Hörspielen, Theaterstücken, Romanen aufgemischt. Dialogisch, diskursiv, assoziativ schliessen sich Dokumente (Geschichte und Geschichten) mit Fiktivem, Vergangenes mit Gegenwärtigem kurz. Schälen sich dabei nicht heiter und gelassen als Leitthemen der Bemühungen um Spurensicherung das Fremdsein, der spielerische Umgang mit der Wirklichkeit, das Intime, der Aufruhr und das Empfangen von Geschichte(n) heraus?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Juni 2013
ISBN9783842392663
Spur 1 Reisen: Privatzeug 1856 bis 2012

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    Buchvorschau

    Spur 1 Reisen - Books on Demand

    75

    Initialzündung

    Il y avait in der idyllischen Schweiz, im Hause seines freien Vaters, un jeune garçon à qui la nature avait donné les moeurs les plus douces. Sa physionomie annonçait son âme. Il avait le jugement assez droit, avec l’esprit le plus simple; c'est, je crois, pour cette raison, qu'on le nommait (mein Gott, ist dieser Anfang etwa von Voltaire abgekupfert, schlag nach bei dessen Candide!) Kess Frank. Dem Haus seines Vaters, Vatis Haus, ist er längst entwachsen, haust zusammen mit Marina Frank im eigenen Haus. Was auch gut so ist, denn er hasst Vati. Vati ist zwar längst tot, seit zwölf Jahren schon. Von einem Baum erschlagen. Seither spukt Vati als Gespenst in Kess Franks Kopf herum. Die Nachstellungen des Gespenstes Vati hängen Kess Frank zum Hals raus. Er kann mit niemandem darüber sprechen, weil alle gleich loskreischen, ach, du mit deinem Ödipus! Marina Frank und er haben es gut zusammen. Auf der besten aller Welten in die beste aller Zeiten hineingeboren, seufzt Kess Frank wonnevoll, rülpst und streicht sich über seinen Bauch, dessen Ausmass sich in Grenzen hält. Ja, falls Kess Frank sich im Profil vor dem Spiegel etwas streckt, die Luft aus seinem Körper rauspresst und seine Muskulatur anspannt, geht dieser Ansatz von einem knospenden Bäuchlein noch für einen Waschbrettbauch durch, bis, ja, bis Kess Frank in sich zusammensackt, nach Luft japst, die, in sein Inneres strömend, die waschbrettimaginierte Bauchdecke zu einer Rundung, dem Ansatz einer sachten, an den Rändern etwas durchhängenden Halbkugel anschwellen lässt. Im Grunde hat er die Nase voll von diesen Spielchen, lechzt nach Abenteuer, muss gleich etwas unternehmen, irgendetwas, weiss der Kuckuck was. Ausbrechen aus seinem Wirkungskreis, den er über hat. Kess Frank kennt ihn in- und auswendig, erlebt nicht mehr die geringsten Überraschungen. Sein Blick fällt, rein zufällig, er kann ruhig schwören, dass er hier, was bei ihm selten bis kaum je der Fall ist, weder flunkert noch übertreibt, sein Blick fällt tatsächlich rein zufällig auf ein Bild in einer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung, der NZZ, die aufgeschlagen auf dem Tisch liegt. Das Bild zeigt das Skelett einer archaischen Form, in Schwarzweiss, irritierend, rund in sich ruhend, emporragend, mit Löchern wie Augen, die den Betrachter anstarren. Er wird in dieses Bild eingesogen, ist fasziniert, trunken von dessen schräger Ästhetik, und er zerfliesst in Zeit und Raum. Er murmelt – ja, er murmelt, er sagt es leise vor sich hin –, dieses Ding muss ich in natura sehen! Er liest die Bildlegende (Der Atombomben-Dom in Hiroshima) und den Bericht. Es ist der 6. Dezember 1996. Gegen den Willen der USA wurde der Atombomben-Dom in Hiroshima in die UNESCO-Liste des Welterbes aufgenommen. Kess Frank ist augenblicklich von der Idee besessen, dorthin zu reisen. Er wird dorthin reisen. Und zwar alleine, ohne Marina Frank. Wieder einmal etwas ganz für sich haben. Weil Reisen eine Erholung bedeutet, einen erfrischt. Da flitzt ihm durch den Kopf, Vati würde, falls er ihm von diesem Vorhaben berichten könnte, ruhig, in diesem zynischen Tonfall wie nebenher fallen lassen, typisch Herr Sohn, seine Freunde denken an ihre Karrieren, er an sein Vergnügen. Wart’s nur ab, Bürschchen, selbst du wirst den Ernst des Lebens kennenlernen! Man wird dir deine Hammelbeine geradeziehen! Höchste Zeit, dass du dich endlich auf deinen Allerwertesten setzt und etwas erreichst! Die Erinnerung an Nänne, Kess Franks vor fünfunddreissig Jahren verstorbene Grossmutter, ploppt auf. Sie würde mit dieser zittrigen Altfrauenstimme und einem Leuchten in den Augen gleichsam flüstern, Laotse, Konfutse – China zwar, doch liegt Japan ganz in der Nähe, Zen. Herrlich, wie du anders bist als die Andern und dich für besondere Dinge interessierst, fügt sie an und streicht ihm, Kess Frank, Klein-Kess Frank, dabei sanft mit ihrer Hand und den von Gicht angeschwollenen Fingergelenken über den Kopf. Mutti, die mit ihren fünfundachtzig Jahren im Pflegeheim lebt, berichtet er als erstem Menschen vom Projekt dieser zusammenphantasierten Reise. Ein Testlauf, wie liebe Mitmenschen auf diese Ankündigung reagieren. Mutti schaut ihn mit ihren grossen dunkeln Augen gross an. Er zweifelt, ob sie mitgekriegt hat, was er ihr soeben gesagt hat. Dann äussert sie strahlend, mit dieser brüchigen Greisinnenstimme, die ihn an Nänne erinnert, du hast vollkommen recht! Du musst reisen, solange du kannst. Ich könnte es nicht mehr. Dabei nickt sie mit ihrem Kopf. Ihr Blick ist aufmunternd, verschmitzt. Kess Frank fragt sich, wie lange sie sich an das erinnert, was er ihr mitteilt. Er schiebt diesem Gedanken das Gedankenschwänzchen nach, dass sie ihn selbst bei klarem Kopf nie wirklich ernst genommen hatte. Das Projekt ist noch zu wenig gereift, als dass er darüber mit Marina Frank sprechen möchte. Noch plagt ihn das Geraufe zwischen Wünschen und Skrupeln in seinem Kopf, so dass er ernsthaft daran zweifeln muss, ob

    alles so harmlos, ziellos, spielerisch seinen Gang genommen. Eines Tages – um der Wahrheit Genüge zu tun, bleibt anzufügen, dass es sich dabei um eine angezechte Nacht handelt – verplaudert er sich mit seiner Reiseimagination bei seinem Freund Franz Keller. Kaum ist ihm rausgerutscht, dass er nach Hiroshima reisen wird, weil er dieses Bild vom Atombombendom in der NZZ gesehen hatte, bedauert er es. Franz Keller lacht ihn aus. Ein obszöner Anblick – und schon ist’s um dich geschehn! Dass ein vernünftiger Mensch freiwillig eine Reise unternimmt! Franz Keller bricht mitten im Satz ab und schüttelt den Kopf. Was für eine Furzidee! Eine Reise zur Erholung ist ein Widerspruch in sich. Du wirst alleine sein und dich beschissen fühlen. Das ist die Wahrheit. Du wirst dort keine Adresse habe. Zurückgekehrt wirst du. Er bricht seinen Satz ab, um einen neuen Gedanken anzuhängen. Und erst die Hitze dort! Du wirst schwitzen wie eine Sau. Und die niedlichen Japanerinnen, die kein Wort von dem verstehen, was du ihnen sagst, grinsen dich verlegen an, weil es ihnen schrecklich peinlich ist, wie diese Langnase stinkt. Wovor fliehst du? In einer Reise ein Wohlfühlmedium zu sehen, ist, seien wir ehrlich, verdammter Verklärungskitsch! Reisen ist nichts als Stress! Kess Franks Gedanken schwrubeln. Trotzig wirft er hin, ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln. Ich wurde am Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, am 6. August 1945, gezeugt. Zum Beweis: mein Geburtstag ist der 30. April 1946 – rechne! Franz Keller ist platt. So platt, dass ihm weder der wahre Geburtstag seines Freundes einfällt, noch er den Bluff mit dem Zeugungsdatum hinterfragt. Er staunt bloss darüber, dass einer den Tag seiner Zeugung kennt und überlegt sich, dass

    kann’s nicht lassen und muss auch Peter Semper gegenüber fallen lassen, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, alleine nach Japan zu reisen, diese Furzidee aber aufgegeben, zur Vernunft zurückgefunden habe. Peter Semper wedelt ihm prompt mit der Wochenendausgabe des Tagi vom 5. / 6. April 1997 vor dem Gesicht herum und schwärmt davon, dass Japan ihn schon immer interessiert habe. Es sei höchst spannend, was dort ablaufe. Aus dem Tagi-Artikel, der ein Interview beinhaltet, springt Kess Frank das Foto eines etwa gleichaltrigen Japaners an. Der Japaner ist Schriftsteller, Ryu Murakami. Dieser gibt im Interview von sich: Traditionelle japanische Kultur ist eine Kultur der Alten – auch diese Speisen: Alles ist weich gekocht für die Zähne alter Leute. Sumo, Kabuki, Bonsai, Ikebana – das ist Kultur für die Alten. Vielleicht ist Kabuki eine Ausnahme: Es ist zurzeit bei Jungen wieder in Mode. Kess Frank stürzt sich gierig, jedoch gedankenlos auf Murakami Ryus Roman Les bébés de la consigne automatique. Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, vielmehr einer Erscheinung im modernen Tokyo. Mütter, die nicht für ihre Neugeborenen sorgen können oder wollen, setzen diese in Schliessfächern in Bahnhöfen aus. Der Autor schildert in seinem Roman die Lebensläufe von zwei auf diese Weise ausgesetzten Säuglingen. Der eine schreit sich die Lungen aus dem Leibe, der andere erbricht sich und stinkt fürchterlich. Beide werden wegen des Geschreis und des Gestanks entdeckt und aus den Schliessfächern befreit. Beide kommen in das gleiche Waisenhaus, werden wie Geschwister behandelt und leben mit der Besonderheit, keine Mütter zu haben, weil sie ja aus den Schliessfächern kommen. Ihr Schicksal schweisst sie zusammen. Schicksalshaft werden die Beiden zusammen von einem Ehepaar adoptiert und verleben eine glückliche Kindheit in Kyushu. Beide machen Karriere, Kiku als Sportler, Hashi als Popsänger. Trotz ihres Erfolges kommen sie nicht zur Ruhe. Sie suchen nach etwas. Sie fügen der Umwelt Schmerzen zu. Wo sie wandeln, lassen sie hinter sich einen Pfad der Zerstörung. Nach Murakamis Worten ist diese Geschichte eine Metapher für die Befindlichkeit der jungen Generation. Der letzte Teil des Romans spielt unter der strahlenden Oberfläche des Shinjuku-Quartiers mit seinen High-Tech-super-Design-Wolkenkratzern, die beinahe den Himmel kitzeln. Neuer Schauplatz ist unter dem Asphalt, im Untergrundslabyrinth der endlosen Kanalisationsbauten und Keller. Eine verkommene, ekelhafte, vergiftete Alltagswelt, eine Unterwelt, in der die beiden Jungs zusammen mit Freaks, ohne den geringsten Gedanken an einen gewaltsamen Tod zu verschwenden, in den Tag hinein leben, weil die Oberwelt sie abgestossen hat und sie sich notgedrungen von einem durchschnittlichen Alltag verabschieden. Sie vegetieren, kopulieren, handeln, betrügen, kaufen, verkaufen, zerstören und lieben ohne Rücksicht auf Verluste. Die Beschreibung des Faustrechts und einer unsäglichen Verlassenheit. Kess Frank denkt viel über diese Geschichte nach. Er erinnert sich auch, wie er vor Jahrzehnten vom Film Hiroshima, mon amour hingewesen war. Von der schönen Emmanuelle Riva, von Marguerite Duras, vom eleganten Bau des Peace Memorial Museums. John Phillips gerät buchstäblich aus dem Häuschen, als Kess Frank nebenher fallen lässt, im Moment interessiere er sich für Japan, einfach so, ohne irgendwelche Hintergedanken. John Phillips durchwühlt wie wild seine Büchergestelle und zieht ein schmales Bändchen hervor, den Roman Banzai! aus dem Jahre 1925 von John Paris (1889 bis 1976; Pseudonym als Schriftsteller für Frank Ashton-Gwatkin, von 1913 bis 1921 im Britischen konsularischen Dienst in Japan tätig). Der Autor sei ein Freund von Violet Trefusis gewesen, seiner – John Phillips’ – Lebenspartnerin. Ein Kenner Japans zur Zeit, als Japan sich während und nach der Meiji-Zeit gegen Westen hin öffnete. Auf der Titelseite, unter dem Titel und dem Namen des Autors steht das Zitat: Frères humains, qui après nous vivez / N’ayez les coeurs contre nous endurcis. Villon. Kess Frank verehrt Villon. Er verwechselt den Titel des Buches (Banzei bedeutet in etwa Hurra) mit Bonsei und findet es hübsch, etwas über japanische Zwerglinge zu lesen. Der Roman spielt in der Zeit zwischen der Öffnung Japans zum Westen hin – 1854 ist mit der Öffnung zweier Häfen die über 200 Jahre dauernde Isolation Japans beendet – und dem Zweiten Weltkrieg. Ein Engländer erzählt in den Zwanzigerjahren (eines der letzten Kapitel handelt vom grossen Erdbeben am 1. September 1923, das Tokyo verwüstete), wie er in London einem Japaner begegnet, der ihm sein Leben und seine Lebensumstände von seiner Geburt an erzählt und wie es dazu kam, dass er in London als Aussenseiter strandet. Der Japaner stammt aus ländlichem Gebiet um Kyoto, aus einer guten, aber verarmten Familie, besucht höhere Schulen. Er erliegt jeder Versuchung, den traditionellen Lebensstil zu Gunsten westlicher Einflüsse aufzugeben. Das macht ihn in den Augen seiner Familie zu einer Schande. Als er endlich das gelobte Ausland erreicht, scheitert er kläglich und muss sich aus immer neuen Scherbenhaufen retten. Die wohlmeinenden Engländer geben ihm ständig neue Chancen. Er ist und bleibt ein Unangepasster, der Fremde, der Aussenseiter. Ein Zufall spielt Kess Frank Günther Anders Die Antiquiertheit der Menschen, dieses Manifest gegen die Entfesselung der Technik, im Nachklang auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, in die Hände und auch Keiji Nakazawas Barfuss durch Hiroshima, den Comic-Roman über den Atombombenabwurf und die unmittelbaren Folgen für Betroffene. Selbstverständlich fällt ihm auch der NZZ-Artikel über eine reizvolle Busverbindung von Koya-san nach Ryujin Onsen über reizvolle Höhenzüge auf, doch das Thema Japan ist für ihn

    von der Aussage, man müsse sich Sisyphus glücklich vorstellen. Bei mir, denkt Kess Frank, ist es ganz und gar nicht so. Der Leerlauf an sich, überlegt er, wäre ihm grundsätzlich egal, doch die Vorstellung, etwas zu verpassen, quält ihn und nagt an ihm. Sein Leben ist grundsätzlich und an sich okay, durchschnittlich, doch okay. Eins ergibt sich aus dem andern – und wutsch, ist schon wieder ein Jahr vorüber. When I am 64 der Beatles als echt giftige Frage. So weit ist man ja auch nicht mehr davon entfernt, die paar Jährchen! Er geht nicht ganz so weit wie Dani Wächter, der allen Ernstes behauptet, im Leben müsse man durch drei Phasen der Beschissenheit hindurch, um zurückgekehrt heitere Gelassenheit und die richtige Adresse zu erlangen und in Hoffnung Fussfassen zu können. Die Beschissenheit der Trennung / Trennung vom eigenen, alltäglichen Wirkungskreis, sodann das Befremden bei der scheinbaren Erholung in versifften Träumen und dem desillusionierenden Erwachen und zu guter Letzt die Angst beim Erkennen der widerlichen Wirklichkeit in ihrer tatsächlichen Wahrheit. Kess Frank bewundert Dani Wächter, doch irritieren ihn dessen unanständige Wortwahl und dessen Zynismus. Wenn Dani Wächter in Fahrt kommt und Kess Frank in aller Öffentlichkeit, wenn möglich beim Nachtessen in einem Restaurant, provoziert, indem er hinausposaunt, na ja, in Scheisse fühlt man sich nicht a priori unwohl. Man produziert sie auch selber, und nicht mal wenig. Man ekelt sich zwar pro forma und arrangiert sich dann. Einerlei, Kess Frank spürt, dass er etwas unternehmen muss, um wieder einigermassen gut drauf zu sein. Zudem, falls Franz Keller, Peter Semper, John Phillips, oder – in einem lichten Moment – Mutti Marina Frank gegenüber etwas von der längst überholten Japanreise fallen lassen sollten! Eigentlich blöd von mir, denkt er, dass ich Marina Frank nicht mit der Behauptung provoziere, ich reise nach Japan! Sie wird sagen, was fällt dir ein, kommt nicht in Frage – und damit ist die Angelegenheit gestorben. Er schlägt mit Schwung die Bettdecke zurück und juckt aus seinem Bett. Nach dieser herrlichen Vollmondnacht mit klarem Dunkel und silbern glänzenden Konturen, wo die blendend leuchtende Scheibe des Mondes ihre dunkle Seite, ihre Hinterseite impliziert. Er hatte wachgelegen und über sein Leben nachgedacht. In Gedanken eingelullt fiel er wieder in Schlaf. Inzwischen ist es Morgen. Draussen dämmert es. Kess Frank ist hellwach und echt gut drauf. Er ist noch immer dabei, seinen Schwung beim Sprung aus dem Bett mit beiden Füssen abzufedern. Er wirft einen Blick zurück in Richtung Marina Frank, die eingekuschelt in ihre Decke zu schlafen scheint. Zu seinem Erstaunen nimmt er plötzlich wahr, wie das Lid ihres rechten Auges hochkriecht, reflexartig, im Halbschlaf oder was auch immer, so dass eine Pupille zu ihm hinstarrt. Er vermutet zwar, dass Marina Frank trotz des aufgerissenen Auges eher noch nicht so ganz bei wachem Sinn ist, hält den Moment dennoch für äusserst günstig, endlich mit übertrieben frischer Stimme das loszuwerden, was er zur Klärung der Dinge los sein muss. Er sagt, – und die Erleichterung, dass es endlich rausgedrückt wird, schwingt im Tonfall seiner Stimme mit – ich reise nach Tokyo! Er wartet gespannt darauf, dass sie schrill aufschreit und protestiert. Das Lid ihres geöffneten Auges klappt wieder zu. Sie gibt ein nicht interpretierbares Knurren von sich. Dennoch schnauft er auf. Draussen ist’s! Ob sie tatsächlich mitbekommen hat, was er mit frischer Stimme hinausposaunte, kümmert ihn wenig. Als er bereits vor seinem Müsli am Küchentisch sitzt und die NZZ überfliegt, erscheint Marina Frank traumwandlerisch, beinahe wie ein Gespenst in ihrem weissen Morgenrock, und fragt mit verschlafener Stimme durch ihren vom Gähnen schräg aufgerissenen Mund, wann? Er begreift vorerst nicht, was diese Frage soll, sieht Marina Frank kopfschüttelnd an, worauf sie ihm einen Blick zuwirft, der seine Erinnerung an Gesprächsmodule der jüngsten Vergangenheit aufwirbelt. Mit Erstaunen und Schrecken stellt er fest, sie muss seine Ankündigung der Tokyo-Reise mitbekommen haben. Hat nichts dagegen. Er schnauft auf, dass sie nicht darauf besteht, mitzureisen. Dies hätte ihn echt erstaunt. Früher einmal hatte sie lauthals verkündet, Japan sei das letzte Land, das sie bereisen möchte. Er wirft mit gespielter Lässigkeit hin, ohne über das, was er ihr antwortet, nachgedacht zu haben, am 12. Juni, wenn du nichts dagegen hast! Sie schneidet kurz eine Grimasse, zuckt mit ihren Schultern und konzentriert sich wieder voll und ganz auf die Zubereitung ihres Morgenkaffees. Ihm ist klar, was es geschlagen hat: will er nicht sein Gesicht verlieren, muss er tatsächlich

    Verkaufsbüro der Swissair im Hauptbahnhof sitzt er einer Schalterbeamtin gegenüber und sagt, ich will am 12. Juni nach Osaka fliegen! Das gehe nicht, erwidert die Schalterbeamtin, auf deren Namensschild Lee Zschokke steht. So, und weshalb nicht, Frau Zschokke, fragt er mit süffisantem Lächeln, worauf sie nüchtern erklärt, an diesem Donnerstag gebe es keinen Flug nach Osaka. Falls er unbedingt am 13. Juni in Osaka sein müsse, könne er entweder zusätzlich einen Inlandflug von Tokyo nach Osaka buchen oder den Shinkansen von Tokyo nach Osaka nehmen. Die Zugsverbindungen in Japan seien ausgezeichnet. Das wisse er, wirft er genervt hin. Er hasst diese kleinen Schönheitsfehler. Sie verderben ihm den Spass an seinem Unterfangen. Er wolle unbedingt von hier auf direktestem Weg nach Koya-san gelangen, ohne Umwege, wirft er in gehässigem Tonfall hin, weil ihm kein anderer Ort und Grund einfällt, um sein gedankenlos hingeworfenes Osaka am 12. Juni zu rechtfertigen. Zudem denkt er, es beeindruckt, wenn einer an einen Ort geht, der für seine Klöster bekannt ist, gleichsam auf den Spuren eines Franz von Assisi, Niklaus von Flüe oder Buddha wandelt – falls eine gewöhnliche Schalterbeamtin überhaupt mit dem Namen Koya-san etwas anzufangen weiss. Lee Zschokke schaut auf, lächelt. Sie und ihr Mann hätten letztes Jahr ebenfalls Koya-san besuchen wollen. Kess Frank würde sich am Liebsten die Zunge abbeissen. Um ein Kloster von innen zu sehen, fährt Lee Zschokke fort. Doch dann hätten sie es irgendwie nicht geschafft, leider. Falls er an Klöstern interessiert sei, müsse er unbedingt dieses Buch lesen von, von einem, wie heisse er gleich wieder? Will von Janns… In etwa so laute der Name: Der Titel des Buches? Irgendein Einrichtungsgegenstand. Richtig! Vielleicht Schrank oder so. Der volle Schrank! Das sei der Titel des Buches, womöglich. Jetzt denke er bestimmt, fügt sie hinzu, was wolle eine kleine Schalterbeamtin ihm Ratschläge erteilen! Er solle ihren Buchtipp vergessen, sagt sie, während sie sich dem Computer zuwendet. Er braucht keine Ratschläge, auch nicht von Lee Zschokke. Wenn’s nicht Osaka sein soll, will er sein Ticket nach Tokyo. Erster Klasse, fügt er mit fester Stimme hinzu und versucht, nicht zu unsicher zu klingen, bei diesem Begehren, das ihm etwas schwer über die Lippen kommt. Lee Zschokke kann ihm egal sein, doch kränkt es ihn, als Hochstapler, Aufschneider oder was auch immer dazustehen. Sie schaut nicht auf. Sie hackt ruhig auf die Tastatur ein und sagt nach einem Weilchen, die Flüge seien okay, der Rückflug am 26. Juni, erster Klasse. Das Ticket nach Tokyo und zurück koste soundso viele Franken. Ob er bar bezahle oder mit der Karte. Wenig später, das Erstklass-Ticket nach Tokyo in seiner Brusttasche, durchquert er beschwingt und mit vor Freude beinahe platzendem Herzen die Bahnhofshalle, steuert auf die Rolltreppe in Richtung Shopville zu, hüpft die Stufen der Rolltreppe mit zum Herzschlag leicht versetztem Rhythmus runter. Dass ihm gleichzeitig etwas bang ist, weil er so überhaupt nicht weiss, was er ausgerechnet in Japan verloren hat, verdrängt er in seinem Überschwang. Sein schweifender Blick bleibt am Schaufenster der Buchhandlung Barth hängen. Trotzig grinsend schwört er sich, die Buchtipps einer Lee Zschokke bestimmt zu vergessen. Schon packt ihn eine unwiderstehliche Neugier, zu wissen, was diese an sich ja nette Frau ihm empfiehlt. Er steht in der Buchhandlung, zwischen stöbernden Leuten, einen Buchhändler vor sich, einen jungen pummeligen Typ mit liebem Gesicht. Kess Frank flüstert mit Überwindung, verschämt, wegen der in seinen eigenen Ohren seltsam klingenden Namen und Titel, hätten sie vielleicht, ich weiss nicht, ob der Name stimmt, von Will van Janns Der volle Schrank? Der junge Buchhändler wirft ihm spontan einen vernichtenden Blick zu, fängt sich gleich wieder auf, schüttelt seinen Kopf, holt tief Atem, um zu einer Höflichkeitsfloskel anzusetzen, als eine metallige Stimme aus dem Nichts rüberschrillt, der Autor ist Jan Willem van de Wetering und der Titel lautet Der leere Spiegel! Die Stimme gehört Valentin Grossland, der Bohnenstange mit dem kleinen Kopf und blitzenden Äuglein, seines Zeichens Geschäftsführer der Buchhandlung und eine Legende bei Buchliebhabern. Valentin Grossmann bedient einen anderen Kunden, kehrt dem Buchhändlerkollegen und Kess Frank seinen Rücken zu, bekommt dennoch alles mit, was in seinem Reich geschieht, und wirft seine Worte über seine rechte Schulter präzis gezielt an den richtigen Ort. Sich bei seinem Kunden mit einer knappen Kopfbewegung und einer Grimasse entschuldigend, fliegt Valentin Grossland auf ein Gestell zu und zieht mit treffsicherem Griff ein dünnes Bändchen raus, das er Kess Frank mit den Worten, ein sehr wertvolles Buch, überreicht, um sich mit einem Lächeln als Entschuldigung wieder seinem Kunden zu widmen. Beim Stöbern in den Regalen entdeckt Kess Frank einen Krimi des gleichen Autors, Ticket nach Tokyo. Ticket nach Tokyo, in der Brusttasche, zwischen Buchdeckeln, überall, Kess Frank fühlt sich im siebenten Himmel, weil er es gewagt hat, weil er reisen wird und weil – überhaupt! Van de Wetering, als gebürtiger Holländer, konzentriert sich in Ticket nach Tokyo neben der Thriller-Geschichte auf die Rolle Hollands im alten Japan. Er schildert, wie Japan während der Shogun-Zeit beinahe hermetisch gegen die Aussenwelt abgeschlossen war. Bloss die Holländer durften, mit Bewilligung des Regimes, auf der Nagasaki vorgelagerten Insel Dejima eine Handelsgesellschaft zum Warenaustausch zwischen Japan und der übrigen Welt betreiben. Kess Frank staunt, wie er Tatsächliches über Geschichte und Sitten nebenher aus einem Krimi erfährt. Er liest über die Yakusa, das organisierte Verbrechen, das in diesem Thriller eine Rolle spielt. Über den unaufgeregten Umgang der Japaner mit dieser kriegerischen Organisation. Die Yakusa, erkennbar am Fehlen eines Gliedes am kleinen Finger und / oder an Tätowierungen, finden durchaus ihren Platz neben den friedlicheren Lebensentwürfen. Er bezweifelt nicht, dass die Beobachtungen des Autors der Wirklichkeit entsprechen. Besonders berührt ihn das Bild des holländischen Kommissars, der ausnahmsweise in Japan ermittelt und der sich von den Mühen des Denkens und Herumgehens am Liebsten im Ryokan ins heisse (Gemeinschafts-) Bad, das ofuru, setzt und Bier trinkt. In Der leere Spiegel berichtet der Autor über Erfahrungen in einem japanischen Zen-Kloster. Als Sechsundzwanzigjähriger hatte er Geld geerbt, das er 1958 in eine Reise nach Japan investiert. Er verbringt einige Monate in einem japanischen Kloster. Diesen Aufenthalt beschreibt er im Buch. Nach der Lektüre weiss Kess Frank, dass das Klosterleben nicht sein Ding ist und er mit Bestimmtheit darauf

    als Überraschung zum Abschied in einer romantischen Anwandlung heimlich ein Champagnerfrühstück vorbereitet, es zeitlich so einrichtet, dass er Marina Frank nicht zu früh weckt, was ihren Unwillen erregen würde. Gleichzeitig weiss er um sein Reisefieber und wie ihm die Musse fehlt, ruhig sitzen zu bleiben, wenn er in Gedanken bereits mit seiner Reisetasche zur Busendstation rennt, im Zug zum Flughafen sitzt, eincheckt, die Passkontrolle passiert. Marina Frank und er hatten sich gestern früh schrecklich gestritten und er war, weil er tatsächlich ins Büro musste, mitten aus dem Streit davongelaufen, weil sein Wirkungskreis tatsächlich da ist und ihn fordert. Während des Tages hatte er dann und wann kurz Zeit gefunden, Marina Frank anzurufen, doch sie war nie erreichbar gewesen. Abends hatten sie sich mit Freunden getroffen und beide so getan, als ob nichts wäre. Selbst als sie zu Bett gingen, ergab sich keine Gelegenheit, um den immer noch schwelenden Streit beizulegen. Indem er sie mit diesem Champagnerfrühstück zu überraschen versucht, schafft er die besten Voraussetzungen, dass sie sich vor seiner Abreise aussöhnen und er mit zurückgewonnenem Seelenfrieden abreisen kann, ohne virulente Altlasten, die ihm den Spass vergällen. Er richtet, auf Zehenspitzen schleichend, ein Zwischenlager auf dem Spieltisch beim Fenster ein, um Marina Frank, die noch ruhig schläft, erst zu wecken, wenn es bereit ist. Er vergewissert sich, dass alles da ist, klemmt die zwei Champagnergläser an ihren Stielen umgekehrt zwischen die Finger seiner Linken und bewegt die Hand so, dass die hängenden Kelche leicht aneinanderschlagen und das Kristall hell erklingt, während er in seiner Rechten die Flasche Pink Champagne hält und Lady wachküsst. Sie ist, obwohl verschlafen, platt, quietscht vor Vergnügen, sprudelt über und kann sich von der Überraschung kaum erholen, umarmt Kess Frank und küsst ihn immer wieder, so dass er sich kaum losreissen kann, um die übrigen Köstlichkeiten auf dem Nachttisch und dem Bett hübsch zu drapieren, denn es muss vorwärts gehen, sonst verpasst er seinen Flieger nach Tokyo. Beiläufig lässt Marina Frank plötzlich fallen, bitte vergiss nicht, mir die Adresse aufzuschreiben, unter der du in Japan zu erreichen sein wirst. Er zuckt mit den Schultern und grinst. Wozu soll er erreichbar sein? Sie wiederum kommentiert seine Antwort in diesem Tonfall, der klar einen Vorwurf beinhaltet, mit der Frage, dann wisse er nicht, wohin er gehe? Was sie seinem Chef, seinen Freunden sage, falls sie während seiner Abwesenheit Dringendes für ihn hätten? Sie stehe als Idiotin da, wenn sie nicht einmal wisse, wo ihr sauberer Herr Gemahl sich herumzutreiben beliebe. Verreise er alleine, sollten sie als Paar – ganz im Ernst – sich wieder einmal überlegen, ob alle Vollmachten noch gültig seien. Für sie sei die Vorstellung einer Reise, die im totalen Chaos ende, der blanke Horror. Horror vacui, höhnt er, sie hasse jede Überraschung! Sie giftelt lächelnd, ach, das sei ihr nun doch neu, dass sie mit Überraschungen nicht umzugehen wisse. Wer, falls die Frage erlaubt sei, habe diesen Wutanfall in Paris gekriegt? Sie sage bloss, Musée Rodin, schiebt sie genüsslich nach. Ich bringe dich um, schreit sie mit einem Mal. Er sucht das Weite, um nicht zu explodieren und etwas zu tun, das

    an diesem 23. Juni 1997 im Shinkansen nach Hiroshima, bewaffnet mit zwei grossen Büchsen Kirin Bier und einer Bento-Box. Er bemüht sich, seine Freiheit, die Reise, das Leben zu geniessen und alles Lästige zu verdrängen. Das Lesen hat er über. Er weiss, dass auf seiner Lokomotion. Japan 1997 alles nett gewesen ist, dass es ihm eine diebische Freude bereitet hat, sich seinem gewohnten Wirkungskreis zu entziehen, dass auch die letzte Station seiner Reise nett sein wird, doch – verdammt nochmal! – die Gewissensbisse wegen seines Streits mit Marina Frank bei der Abreise holen ihn immer wieder ein, in diesen flauen Momenten, wo er seine Gedanken freilässt. Dann beissen sie zu, diese ekligen Gewissensbisse, und Kess Frank zuckt zusammen, zückt schuldbewusst seinen silbernen Parker Füller, kramt umständlich die verbleibenden in seiner Umhängetasche verstauten Ansichtskarten hervor und sucht die Karte mit einem Bild von Hiroshima hervor. Bereits in Tokyo, gleich nach seiner Ankunft, hatte er, um den verpatzten Abschied von Marina Frank gut zu machen, um Normalität zu heucheln, einer plötzlichen Eingebung folgend gleich vierundzwanzig Ansichtskarten mit Motiven von allen Stationen seiner Reise gekauft, um Marina Frank jeden Tag eine Postkarte zu schreiben. Später fällt ihm ein, dass er Franz Keller, Peter Semper, Mutti, John Phillips, Dani Wächter und vielen Verwandten, Freunden und Bekannten je eine Karte werde schreiben müssen. Er hatte daher, zum Zeitvertreib auch, und um etwas zu tun zu haben, nach und nach weitere zwanzig Ansichtskarten gekauft und in Fotogeschäften Ansichtskarten mit selbst geknipsten Bildern drucken lassen. Geschrieben und abgesandt hatte er bisher nur die täglichen Karten an Marina Frank und die eine Karte an Mutti. Er hält die Ansichtskarte mit einem Bild des Atombombendoms in Händen und überlegt sich, was er schreiben soll. Sätze wie, Hiroshima ist super-toll, ich geniesse Japan aus vollen Zügen, nächstes Mal musst du mich unbedingt begleiten, fallen ihm ein. Er lächelt über seine Lügen. Er ist sich bewusst, dass die Ansichtskarten und vor allem die Texte, die er schreibt, einer Strategie folgen. Hiroshima darf nicht super-toll sein. Es darf interessant oder eindrücklich, ja, eindrücklich sein. Er fragt sich bang, ob Marina Frank noch so verärgert über ihn ist, dass sie seine Karten ungelesen wegschmeisst. Ihm graut vor dem, was ihn zu Hause erwarten könnte. Veränderungen in seinem gewohnten Wirkungskreis würde er, trotz allem, schlecht ertragen. Vati, fällt ihm ein, hatte die Postkarten, die ihm seine Eltern, vor allem seine Mutter von 1937 bis 1944 aus Deutschland in die Schweiz geschrieben hatte, in einer hübschen Konfektdose aufbewahrt, unzählige, Hunderte von Post- und Ansichtskarten mit Texten, die einen, überlegt sich Kess Frank, heute noch berühren. Vor allem auch, denkt er, weil man das Ende kennt. Doch Vati hatte die Karten von allem Anfang an aufbewahrt und sorgsam behandelt. Was Marina Frank mit seinen Karten macht, interessiert Kess Frank nun doch. Das Foto mit ihm, Kess Frank, vor einem roten Tori-Bogen. Er hatte einen anderen Touristen gebeten, das Foto zu knipsen. Der Kult mit den eigenen Bildern ist lächerlich, denkt Kess Frank und erinnert sich an das leere Schlucken, wenn er im Fotogeschäft seine Bilder abholt und zum ersten Mal durchschnippt. Seine Bilder kommen nie an die Bilder der Profis und berühmten Fotografen ran. Er knipst, um sich zu beweisen, dass er die Dinge mit eigenen Augen gesehen hat, da gewesen ist – als ob es eine Rolle spielte! Durch den Wagon klingt eine Ansage zuerst auf Japanisch, dann auf Englisch. Die Karte hat er nicht

    Landschaft vorüberzieht und die Ankunft in Hiroshima näherrückt, ekelt ihn vor der Ankunft an schon wieder einem neuen, fremden Ort. Ankunft als Routine, als Enttäuschung, als Akt der Gewöhnung. Als etwas, das man nolens volens hinter sich bringen muss, solange man sich auf der Welt bewegt. Etwas Beliebiges, das seinen reizvollen Glanz erst in der verkitschten Erinnerung entwickelt. Bringen wir auch diese letzte Station der Lokomotion. Japan 1997 in Würde hinter uns! Auf der brackigen Wasseroberfläche des Teiches der Erinnerung gleiten Bilder und Filme von Ankünften lautlos vorüber. Wie er, vor Jahrzehnten, einem Impuls folgend, an einem total misslungenen Samstagmorgen in Scheisslaune gleich nach dem Aufstehen sich telefonisch nach dem nächsten Flug nach Amsterdam erkundigt hatte, um seine Scheisslaune wegzukriegen. Er bucht einen Hinflug für in zwei Stunden und den Rückflug für den nächsten Tag. Wenig später Ankunft in Amsterdam. Stürzt sich sogleich in die Sauna Thermos, wo er einst Wonnemomente erlebt hatte. Zu seinem Ärger widert ihn diesmal dieser gleiche Ort an. Er ist schmuddelig und riecht versifft. Die Leute widern ihn an. Das Hochgefühl, in die ihn der Entscheid zur Reise, der Flug und die Vorstellung, der Trägheit des Augenblicks ein Schnippchen geschlagen zu haben, versetzt, ist verdampft. Seine Scheisslaune ist noch immer da und klebt fest an ihm. Das Wochenende ist im Eimer, die Reise hat nichts gerettet. Der junge Mann Kess Frank widert sich an. Er flegelt sich schmollend in eine Ecke, hängt der verklärten Erinnerung an früher besser Gewesenes nach, versinkt in ein schwarzes Loch. Er kann diese verdammte Scheisslaune nicht wegkriegen. Noch weiter weg zu fliehen, macht keinen Sinn. Er schleppt sich und seine Scheisslaune notgedrungen mit sich mit. Langeweile macht sich breit und eine Wut darüber, dass die Stunden nicht enden wollen. Er kann nichts, überhaupt nichts mit sich, seinen Mitmenschen, diesem Ort und überhaupt keinem Ort auf dieser Welt mehr anfangen. Da ruft einer plötzlich – Kess Frank schreckt aus seinem Trübsinn auf – hey, du, komm mit. Er folgt dem Typen ohne sich dabei etwas zu denken. Animiert und plötzlich in bester Laune. In der Gewissheit, dass er etwas erleben wird. Dabei fällt sein Blick, rein zufällig, auf eine Uhr. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht. Der Scheisssamstag ist vorüber. Der wonnige Sonntag hat angefangen. Kess Frank glaubt, sich düster zu erinnern, dass Heinrich Zschokke seine Ankunft in der Schweiz anno 1795 oder 1796 so geschildert hatte, wie er nach dem Grenzübertritt beim Rheinfall so begeistert gewesen war, dass er die Postkutsche da verlässt und sich zu Fuss aufmacht, um sich seinem Ziel, Zürich, angemessen zu nähern. Kess Franks eigene Ankunft 1979 in Marrakesch. Als Erstes entfernt er sich von seinen Freunden. Er verlässt das Hotel im Zentrum der Stadt, innerhalb der Stadtmauern. Er pilgert zum nächstgelegenen Stadttor. Er geht weit in die umliegende Wüste hinaus, überquert Ringstrassen, durchmisst lockere Hüttchen-Quartiere, Olivenhaine, bis er den Rand der Wüste, Wüstensand und eine unendliche Weite mit Bergen am Horizont, erreicht. Da erst wendet er sich um. Die Stadt ist eine scherenschnittartige Silhouette am Horizont. Überglücklich schlendert er der Stadt und dem Stadttor entgegen, die grösser und grösser werden. Unter der gleissenden Sonne. Seine Füsse in ausgelatschten Desert Boots. Im Schweisse seines Angesichts. Auf dem Moment schaukelnd. Trunken im Gefühl, sich der fremden Stadt angemessen in Anstand zu nähern. Aus dem Olivenhain winkt ihm eine wie aus biblischen Zeiten entsprungene Gestalt zu. Er winkt fröhlich zurück, bis er merkt, die Gestalt in Dschellaba winkt ihm nicht zu, sondern winkt ihn herbei. Er geht die rund hundert Meter hin, wo der stattliche Mann mit Bart und Turban unter einem Olivenbaum steht und Kess Franks auf Französisch hingeworfene Worte nicht zu hören scheint. Der Fremde gebietet Kess Frank mit Handzeichen, näher und näher zu treten, bis Kess Frank, das Kommende ahnend und sich dagegen aus Neugier nicht wehrend, den mit Knoblauch und Tabak geschwängerten Atem des Fremden riecht. Der Fremde packt Kess Frank mit einer Hand fest am den Nacken, mit der andern hebt er seine Dschellaba und zwingt

    auf Haiti anno 1974. Im Film The Comedians mit dem Glamour-Paar Elizabeth Taylor und Richard Burton, mit Peter Ustinov als Konsul, hatte er Ende der Sechzigerjahre etwas über das im Laubsägestil und in weisser, kolonialer Pracht erbaute Hotel Oloffson in Port-au-Prince aufgeschnappt. Dieser Anblick initiiert sofort einen Inseltraum: da muss Kess Frank hin! Kess Franks Verstand grinst süffisant. Die Zeiten, als exzentrische Weltenbummler dort ihre Inselträume verwirklichten, sind vorüber. Papa Doc, dann Baby Doc mit ihren Tontons Macoute herrschen mit Gewalt, Voodoo, Korrution. Haiti ist klar kein Trauminselziel. Niemand reist hin. Da stirbt kurz vor Kess Franks achtundzwanzigstem Geburtstag Kess Franks geliebter Patenonkel auf einer belebten Einkaufsstrasse in Zürich, an einem Herzschlag. Die Frau des Patenonkels, Kess Franks Tante, bittet ihn, auf dem Polizeiposten in der Stadt die persönlichen Gegenstände des verstorbenen Onkels abzuholen und ihr nach Hause zu bringen. Neben Brieftasche und sonstigem Privatzeug gehört auch eine Plastiktragetasche einer Buchhandlung dazu. In der Tragetasche befindet sich ein Buch, als Geschenk verpackt. Die Tante reicht das Geschenk Kess Frank und sagt, du hast ja bald Geburtstag. Bestimmt hat er, der Beste, er hat ja immer an alles gedacht, dieses Geschenk für dich zum Geburtstag gekauft, da, nimm es! Das Buch ist Graham Greenes in Haiti spielender Roman Die Stunde der Komödianten, auf dem der Film The Comedians basiert. Kess Frank nimmt diesen Zufall als Wink des Schicksals: er muss nach Haiti reisen! Er klügelt eine Flugroute aus, um nach dem selten angeflogenen Port-au-Price zu gelangen. Je näher die Abreise rückt, desto mehr zweifelt Kess Frank an der

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