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Die Schatten unserer Nachbarn: Mord, Vertreibung und andere Niedlichkeiten.
Die Schatten unserer Nachbarn: Mord, Vertreibung und andere Niedlichkeiten.
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eBook511 Seiten7 Stunden

Die Schatten unserer Nachbarn: Mord, Vertreibung und andere Niedlichkeiten.

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Über dieses E-Book

Eine autobiographische Familiengeschichte mit fiktiven Namen und real existierenden, zeitgeschichtlichen Bezügen führt uns zunächst an das östliche Ende der heutigen EU, tief in die Karpaten der heutigen Slowakei, vor Beginn des zweiten Weltkrieges. Johann F. Nietzsche erzählt von den Wirrungen der Kriegszeiten, die unsere Welt tief umgestürzt und neu geordnet haben, und geht weiter bis in die Gegenwart ins heutige Bayern.
Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind möglich, aber durch weitgehende Namensverfremdungen erschwert. Sollten Sie dennoch meinen, jemand aus Ihrer Familie wiederzuerkennen, so sollten Sie sich fragen, was Sie tatsächlich über die Verstrickungen in Zeiten des Nationalsozialismus wissen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Juni 2019
ISBN9783748549703
Die Schatten unserer Nachbarn: Mord, Vertreibung und andere Niedlichkeiten.

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    Buchvorschau

    Die Schatten unserer Nachbarn - Johann F. Nietzsche

    Die Reise nach der Ordensstadt

    Mitten im Sommer des vergangenen Jahres hatte mich die Nachricht erreicht, dass Walter, mein langjähriger Schulfreund, seinem Leben ein Ende bereitet hatte. Indes hatte sich meine Welt schon lange zuvor, seit dem Tode meiner Mutter Milli, völlig verändert. Der strahlend und stets leuchtende weißblaue Himmel über mir hatte sich mit einem Male zu verschleiern begonnen. Die wohlbehütete Zeit der Jugend, die Zeit der Sonne in meinem Herzen, die ich mit gewissen Einbrüchen in mein bisheriges Leben, immerhin mehr als fünfzig Jahre, gerettet hatte, war für immer vorbei. Genau genommen war es schon mit der Erkrankung meiner Mutter losgegangen. Nichts war danach mehr so, wie es früher war. Mit so, meine ich, wie ich eben bis dahin die Welt zu lieben gelernt hatte. Selbst so belanglose Dinge wie die Zeit schienen sich über Nacht verändert zu haben, so als wenn ein Allmächtiger an einer Einstellschraube die Lichtgeschwindigkeit, die ja bekanntlich die Grundlage jeder Zeitmessung ist, verändert habe, gerade so sonderbar tickte jetzt meine Welt. Mit einem Male gab es für mich die dahineilenden Tage des Jahres, die ich am liebsten eingefangen und eingefroren hätte, weil sie, wie ich fühlte, wesentlich schneller vergingen als alle anderen Tage, und das waren zugleich die Tage, zu denen das Jahr seinen Höhepunkt erklimmt und die Sonne morgens im Zeichen des Krebses aufsteigt und mittags unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft den Kulminationspunkt am Firmament erreicht. Von den anderen, den langsam vergehenden Tage des Jahres wollte ich nichts wissen, sie interessierten mich einfach nicht. Allenfalls im Alter wollte ich darüber nachdenken, wenn man dafür genügend Zeit hat. Überdies hatten sich die schnell dahineilenden Tage, ohne dass ich auch nur im Geringsten etwas dafür konnte, zur intensivsten Phase meines Lebens entwickelt, wie ich spürte, und sie fielen seit geraumer Zeit, es konnten gut und gerne schon mehr als zehn Jahre sein, Jahr für Jahr mit einer solchen Plötzlichkeit über mich her, dass ich die Vorstellung gewann, die Ereignisse seien, nur einem Sturz ähnlich, zu erklären, und sie seien so schnell passiert, gerade so, als wenn ich jeweils in ein großes dunkles Loch gestürzt sei und dann am Boden angekommen, mich noch gar nicht recht besinnen könne, was vorgefallen sei und überhaupt zu wissen, wo ich dabei gelandet sei. So fühle ich mich seit neuestem stets im Juni eines jeden Jahres, wenn es eben passiere, sagte ich zu Lara, meiner Frau. Damit meinte ich jene unvorhergesehenen Ereignisse die, wie der Tod Walters dieses Jahr, uns geradezu überfallartig seelisch in den Schlund einer vermuteten Hölle stießen. Darüber hinaus glaubte ich auch, der um diese Jahreszeit sich ein ums andere Mal berauschenden und an ihrem betörendsten Schöpfungspunkt zeigenden Natur wegen, dass mein Seelenleben selber jeweils zum gleichen Zeitpunkt in Resonanz zur Natur geraten sei und immer unmittelbar am höchsten Anschlag vibrieren würde, so stark empfand ich seit einiger Zeit mein ganzes Menschsein. Dabei lösten sich in diesen Sommermonaten Glücksgefühle, Schrecken und Hoffnungen fast gleich und regelmäßig ab und gingen bisweilen unmittelbar ineinander über, dabei die höchsten Verzückungen und Stimmungen, nach oben wie nach unten, in mir auslösend. Zudem überbot der Juni des letzten Jahres alle früheren Jahre und sollte sogar in die Annalen der Geschichte Deutschlands eingehen. Nicht nur, weil er sehr heiß begonnen hatte, nein, weil er überhaupt der heißeste und wärmste Monat seit Aufzeichnung des Klimas in diesem und letzten Jahrhundert werden sollte, was zunächst freilich noch keiner in diesem Lande ahnte. Möglicherweise war dieses, wie ich empfand, traumhaft heiße und kehlenerdürstende Wetter die Ursache dafür, dass landauf, landab die Vorstellung eines von Kinderherzen hingezauberten, in bunten Farben gemalten Märchens heraufbeschworen wurde, obgleich diese Monate noch ebenso gut mächtig verregnet und stark unterkühlt enden konnten. Einerlei. Alle wichtigen und bekannten Zeitungen, Boulevardblätter, Abendzeitungen ebenso wie fast alle Journale bedachten diesen heraufdämmernden Zustand allerorten mit der viel deutbaren Symptomatik „Sommermärchen. Im Übrigen schienen sich die Menschen in diesem Lande nur den allgemein für offen gehaltenen Ausgang der zur gleichen Zeit stattfindenden Fußballweltmeisterschaft als ein Märchen mit den deutschen Fußballern als deren Prinz zu wünschen, sozusagen sich eine Erlösung aus dem lange so anhaltenden Dornröschenschlaf ersehnten, in den FußballDeutschland gefallen war. Indes war, allen täglichen Beschwörungen der gesamten Presse zum Trotze, ein anderes Märchen nicht auszumachen, wenn man von Angela Merkel absah, die der eine oder andere schon mal leicht, ihres Pagenschnittes wegen, wenn nicht gerade für den Prinzen aus Schneewittchen, so doch für Prinz Eisenherz oder andere, in diesem Genre sich befindenden Erlösungswunder halten konnte. Von dieser unklaren und nebulösen Stimmung im Lande mal abgesehen, so kam es mir da in den Sinn, hatte ich vor vier Jahren eine weitaus spannendere Meisterschaft bei ebenso schönem Wetter erlebt, als es die jetzige mit diesem einfältigen, naiven wie auch reichlich übertriebenen Nationalismus, der sich in flatternden schwarzrotgoldenen Fahnen allüberall auflöste, auch insoweit war, als die jungen und fast unbekannten Afrikaner vor vier Jahren, mir fiel jetzt die Niederlage Frankreichs gegen eine dieser Mannschaften ein, für die eine und andere wirkliche Überraschung sorgten und ebenso herrlichen Fußball boten, also zu jener Zeit, wie ich mich jetzt entsann, als ich so arg in Verzweiflung um die Zukunft meines Lebens mit Vernon, meiner damaligen Freundin, gefangen war. Schwang nicht in diesen vielen Farben und Fahnen die Erinnerung an so manche erlittene Schmach, vielleicht an Versailles mit? Was war deutsch, was war französischer Fußball und was ist italienisch an einem Fußballspiel, fragte ich mich bei solchem Anblick? Unergründbar. Die Fahnen schwangen an den Fenstern und Kaminen, flatterten an den Autos, vorne und hinten und zogen einen jeden, ob er wollte oder nicht, in dieses nationalistische, überschwängliche Geschehen mit ein. Alle Zeitungen, Radios und Fernsehsender überfüllten sich von ganz oben bis ganz nach unten, von Hamburg bis München, mit Berichten, Kommentaren, Interviews und Meinungen über Deutsches und die Deutschen. Mal sagte der Akademiker, mal die Putzfrau etwas, natürlich in Deutsch zu Deutschland und über Deutsche, mal war es der Bundespräsident und wiederum ein andermal die Kanzlerin. Inwieweit bei dem einen oder anderen Gedanken an und über Goethe oder Schiller mit auf den Fahnen saßen und mitgeschwungen wurden, ließ sich nicht so ohne weiteres ausmachen. Nationalepisches Getöse war von deutschsentimentaler Gefühlsduselei nur schwer zu unterscheiden. Zum Höhepunkt der euphorischen, dem Volk Nationalismus schenkenden Wochen saß einer der beiden KaczinskyZwillinge, welcher es war, fiel mir wegen Ihrer Ähnlichkeit nicht ein, gemeinsam mit Frau Merkel einträchtig auf der Bühne eines Fußballstadions. Fast Arm in Arm, wie zwei kleine Kinder, die man zu sehen glaubte, zumindest wenn man die Köpfe betrachtete, die nebeneinander, einfältig einander zulachend, dabei unwillkürlich an Ludwig und Kaspar aus dem Struwwelpeter erinnerten, saßen sie da, klatschten, grölten, pfiffen mit den Fingern, streckten die Hände hoch, sprangen bei jedem Tor gleichzeitig auf und umarmten sich inniglich. Diese Zeit dieser allgemeinen Euphorie schwappte auf mich über, als ich angesichts der überblühenden Natur, des milliardenfachen, stillen Aufblühens von roten Rosenknospen im sengenden Feuer des höchsten Sonnenstandes, unterm kräftigen Ostwind vor mich hin spazierend den Sternflug der etwa zwanzig zählenden, weißen Schmetterlinge am Horizont wachsam beobachtete. Bald bildeten sie eine Raute, dann einen Drachen. Bald ein Kreuz und bald nahmen sie Bild und Ebenbild eines sich im Wasser spiegelnden Segelschiffes an, dann wieder die Form eines am hohen Himmel sich abzeichnenden Segelfliegers mit weiten, breiten Tragflächen, der das Himmelsfirmament zerschneidet. Während ich so ein ums andre Mal löffelweise vom Honig des Lebens leckte und versunken den Himmel und die Schöpfung in meinem Herzen über alle Maßen pries, fiel ich aus diesem glückseligen Zustand erneut in die Erinnerung von vor vier Jahren zurück. Mit einem Male sah ich meine Freundin Vernon und sah sie bald vor mir auf dem Wiesenweg, am Rande des mit zahllosen Mohnblumen umkränzten Weizenfeldes stehen, deren weit geöffnete, seidig rote Blütenblätter sachte im Winde flatterten. Im hellen, rosenbesprenkelten und dirndlähnlich ausgeformtem Kleid, mit schönem, tiefen Ausschnitt, einladend lächelnd. Nie hatte sie gesagt, dass sie mich liebe. War immer nur so lächelnd wie jetzt dagestanden. So aufregend sah sie immer aus. Gut gefüllt, fünfundzwanzig Jahre jünger, mit großen, kräftigen Schultern und blond gesträhntem, festem Haar, an dem ich gerne zog, wenn’s mich überkam. Ein Ungestüm von Natur, eine Bärennatur, die sich aber auch zutiefst weich anfühlen konnte. Ein Stück Traurigkeit bemächtigte sich meiner, wich dann der Erleichterung. Unvermeidbar. Jetzt musste er lächeln angesichts der Illusionen, die ich mir gemacht hatte. „Realitätsfern war ich gewesen. Welche Gnade des Himmels! Auf immer vorbei, Gott sei Dank! Kaum hatte ich mich berappet, war heimgegangen und in das Heute zurückgekehrt, als ich jählings erneut aus meinem Dämmerzustand herausgerissen wurde. Am 26. Juni, einen Tag nach dem elften Todestag meiner Mutter, mitten in die herrlichste Zeit des heißen Sommers 2006, hatten mich zwei Meldungen erreicht, von denen ich noch nicht ahnte, dass sie miteinander in einem engen Zusammenhang standen. Nichts scheint so beständig wie die Erinnerung an die Gräuel, die einem in den frühen Jahren des Lebens, soweit eben die Erinnerung reicht, von der Kindheit bis zu einem Alter von vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahren widerfahren sind. Am Vormittag hatte mein Halbbruder Harald angerufen und mir vom Tod seines Vaters Herwig berichtet und mich gefragt, wie man sich denn um eine Erbschaft bemühe, wozu er sich denn jetzt genötigt sähe, und am Nachmittag hatte derselbe Halbbruder noch mal angerufen und nach der üblichen Namensmeldung den Hörer einer Frau namens Gundula, die gleichfalls dort in der Sonthofen wohnte, weitergereicht. Diese erzählte mir sodann, dass sie mir die traurige Mitteilung machen müsse, dass jener Walter, mein Schulfreund, aus dem Leben geschieden sei. Auf weiteres Nachfragen nach dem Warum teilte Sie mir mit, dass Sie das nicht genau wisse und über das, was sie aber wisse, nicht reden möchte. Das abermalige und zweite, gleichfalls vom Tod berichtende Ereignis dieses Tages hatte mich an diesem späten Nachmittage so sehr getroffen, dass ich fortan über nichts anderes mehr als über Walter und die gemeinsam verlebte Jugend in jener Sonthofen nachdenken konnte. Als ich mit einem Male so sonderbare Stimmungen in mir verspürte, wollte ich meine Gedanken festhalten und ihm, dem treuen Freund früher Tage, in Vorbereitung einer Rede, zu der ich hoffte von Frau Gundula gebeten zu werden, meine Gedanken in einem Brief quasi als Nachruf mitteilen. Während ich Herwig, meines Halbbruders Vater, meistens als Scheusal und Ekel empfand, war ich Walter ganz zugetan und es tat mir sehr leid, dass jener in eine Lage geraten war, in der ihm nur noch Selbstmord als Lösung schien. Meinen Stimmungen folgend vergaß ich Herwig sehr schnell, obgleich dieser mir erst vor kurzem noch erzählt hatte, dass Töten sein Handwerk gewesen sei und dass er mehr als tausend Menschen eigenhändig erschossen habe, und ließ meinen tiefen Empfindungen und Gefühlen für Walter freien Lauf. Zuletzt entschloss ich mich, meinen Schulfreund Walter, sogleich zu erinnern. Ich schrieb: „In Gedenken meines lieben Freundes Walter. Ein ewig Suchender ist von uns gegangen, so lautlos, so wenig klagend, dass in mir, der ihn kannte, der Verdacht aufkommt, hier sei uns einer jener einsamen, in sich gekehrten Talente begegnet, eines jener Hoffnungen, die seine Sache einsam, wortkarg, einsilbig und dennoch zielsicher betreiben. Diesen Verdacht hätte man vielleicht auch mit der Frage „Hatte er überhaupt Freunde? umschreiben können, um auszudrücken, was so vielleicht manch einer gedacht und gefühlt hat, angesichts seines stummen Weggangs. Dennoch, ein Nein. Nein, ich glaube, er hatte sehr viele Freunde, nur wusste er nicht, wo sie sind und wie sie heißen, meistens nicht mal, wie sie aussehen und wenn er sie kannte, hielt er sie oft für Feinde, gelegentlich für Peiniger oder bisweilen gar für Verfolger. Woher kam denn diese scheinbare Diskrepanz in seinem Leben? Aus den zahllosen Gesprächen, die ich mit ihm geführt hatte und in denen er mir oftmals von seinen Qualen, Anstrengungen und Zerwürfnissen berichtet hatte, die er immer wieder, wie ein jeder von uns, der Wahrheit sucht, mit seinen Mitmenschen hatte, bildete sich bald eine Spur, die sich verdichtete und aufdrängte. Ich habe lange und mit einer gewissen Regelmäßigkeit darüber nachgedacht, worin denn der Unterschied zwischen ihm und mir liege und war eines Tages fündig geworden. „Weißt Du, was mir fehlt, ist einfach eine ewig strahlende Sonne in meinem kleinen Herzen. So eine große, warme Sonne, die immer für Dich da ist und die Dir durch alle Höhen und Tiefen des Lebens zielsicher und ohne nachzudenken Wärme gibt und dich lenkt. Er habe an dieser Stelle einfach nur ein schwarzes Nichts, ein riesiges Loch, mit diesen Worten hatte mir einst ein befreundeter Psychoanalytiker seinen Seelenzustand beschrieben. Die Konsequenz aus solchem Mangel sei ein ewiges Suchen nach Vorbildern und Leitbildern. „Du traust Dir nie zu, Deine Leitbilder selber zu entwickeln, fuhr jener fort zu berichten. „Du kannst Der zwar ständig schulen und zweifellos erheblich verbessern, wenn Du Glück hast. Jedoch deine innere Anspannung und Nervosität bleiben ein Leben lang bestehen und Du bleibst unsicher und verführbar. Das musste auch für Walter zutreffen. So ähnlich hatte ich Walter immer wieder erlebt. Mir schien, als rang er fortwährend mit sich um seine für ihn gültige Wahrheit. Ich bildete mir ein, Walter suchte unablässig seine Mutter, fand sie aber nie oder wenn er bei ihr war, fand er keinen Zugang zu Ihr. Er war eben für mich einer, der immer und stets diese Sonne suchte, um Erlösung zu gewinnen, sie aber nie fand. Auf diese Weise war er in weitaus höherem Maße als er selber es je geahnt, geglaubt oder gar geäußert hätte, mit seiner Mutter verbunden bzw. verstrickt. Seit jenem Zeitpunkt schien es mir so, als wäre Walter mit dieser Suche, die irgendwo am Ende der Schulzeit, wie für einen jeden von uns, auch für ihn einsetzte, fortan in seinem Verhältnis zu Frauen ambivalent gewesen. Mehr als nur sexuelle Begegnungen, so etwas wie stetige Beziehungen aufzubauen, gelang ihm nicht. Solange seine Mutter lebte durfte er auf Liebe hoffen. Danach blieb die gefühlte und erlebte Welt für immer leer und stumm. Sein Leben verarmte, rannte ohne Gefühle dahin, ohne Hoffnung auf Anerkennung und Zuneigung, bis es zuletzt nicht mehr zu ertragen war. Inwieweit körperliche Gebrechen ihn in diesem Gefühl der Unveränderbarkeit des Lebens bestärkten und damit das irdische, unausweichlichere, zuletzt gewollte Ende näher und näher heranrücken ließen, musste er vermuten. Genau und im Nachhinein besehen nimmt es weder mich noch andere Schulkollegen, mit denen ich über seinen Tod gesprochen hatte, Wunder, dass Walter seiner Mutter zwingend und unmittelbar folgen musste, um es so auszudrücken, wie Bert Hellinger Verstrickungen und Liebesverhältnisse von Mutter und Sohn beschreiben würde. Wir sahen uns zum ersten Mal als Sechsjährige, das war 1950 in der Sonthofen in der Schützenstraße, in der alten evangelischen Schule mit mir bis dahin zur Gänze unbekannten Kachelöfen und Menschen ohne Haare, von denen einer aus Pommern stammte, leicht breites Deutsch sprach und Gesewsky hieß und unser erster Lehrer war, bis an einem Februartag im 51er Jahr eine rundere, gut genährte jüngere Frau statt seiner in unser Zimmer trat und uns mitteilte, künftig werden wir sie statt seiner als Lehrer haben, da jener mit einer Angina daniederliege. Dass es auch eine Angina pectoris gab, wusste ich nicht, und als alle Schulklassen der Sonthofen mit ihren Lehrern in diesem Frühjahr den weiten Weg hinaus aus der Stadt zu einer schneebedeckten, riesigen Wiese, wie es sie damals noch gab, in die Nähe des Dorfes, das Berghofen hieß, geschickt wurden, um dort in den Himmel auf zwei Flugzeuge zu starren, die bald Schokolade und andere Süßigkeiten, von denen ich jedoch keine erhaschen konnte, abwarfen, sahen wir unseren Gesewsky an diesem sonnigen Februartag nur leicht bekleidet vor uns stehen, was uns Kinder sehr wunderte, waren wir doch gewohnt, bei einer Angina mit dicken Schals im Bette zu liegen. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob es tatsächlich die von uns gedachte Halsentzündung oder die weit schlimmere Erkrankung des Herzens war, die den ersten Menschen meines Lebens, der keine Haare mehr besaß, befallen hatte, zumal jener auch früh verstarb. Später sagte man uns, das mit dem Schokoladenabwurf sei Teil des Marshallplans gewesen. Als Walter mir seine ergatterte Schokolade zeigte, staunte ich nicht schlecht, die mir bekannten, dünnen HershleyyPlättchen in seiner Hand zu sehen, waren sie mir doch seit vielen Jahren vertraut. Meine Tanten und Onkels brachten öfters welche für mich mit, „von der Burg, wie sie mir sagten, wobei ich keine Vorstellung davon hatte, wie sie das meinten und warum eine Burg Schokolade bedeutete. Die Schule lag am Ende einer damals noch vom Tannach bis in die Stadtmitte und mit Unterbrechungen weiter bis zur Schützenstraße reichenden Kastanienallee, auf deren zahllosen weißen Blütenblättern wir mit großem Vergnügen, und wie damals üblich nach der Schule barfuß heim liefen. Vor allem nach den kurzen, heißen Gewittern der späten Frühjahre und der beginnenden Sommer, rannten und sprangen wir wie auf einem großen weißen, weichen und warmen Teppich, bis wir schließlich atemlos entweder zu Hause oder in der Schule angekommen waren. Die Schützenstraße endete zur Rechten beim Kindergarten und der Schule, die in einem Gebäude untergebracht waren, und zur Linken bei einem Kaminsetzer und Ofenrohrbauer, ich glaube mit Namen Judas, dem man interessiert bei seiner, für uns ebenso eigenartigen wie auch bis dahin nie gekannten Arbeit, dem Formen von Eisen und Blech, dem Treiben, Plätten, Dengeln und Rändern, im Freien zusah. Das taten wir, wenn unsere Blicke aus dem Schulzimmer gen Osten vorbei am Gefängnis, aus dem sich merkwürdige Köpfe und Hände hinter Gittern in einem fort bewegten und wir weiter in Richtung katholische Kirche blickten. Die Bewegungen dieser armseligen Kreaturen, die sich mal für mal zeigten und dabei raue, uns völlig unverständliche Töne ausstießen, deuchten uns rätselhaft und zogen uns zugleich magisch an. Später vernahmen wir, dass sich der Vater eines Mitschülers dort in jenem, für die Sonthofen damals seltenen vier- oder fünfstöckigen Hause an einem der kleinen, mit Eisen verbarrikadierten Fenster erhängt habe. Irgendwann hieß es, ohne dass wir den Sinn begriffen hätten, es habe mit der Vergangenheit zu tun gehabt. Seitdem tauchten immer öfter eigenartige Schatten in meiner Erinnerung auf, geheimnisumwoben und uns damals zur Gänze unverständlich, woher sie kamen, und noch weniger aufspürbar, wem sie zuzuschreiben waren. Dumpf und klamm wirkten sie in mir und erzeugten in mir bis dahin noch nie erlebte und gekannte Lebensängste. Ich glaube in dieser Zeit der ersten Wahrnehmung des Fremden, war ich, nicht unähnlich dem späten Walter, ein in sich Gekehrter, und es dauerte einige Zeit, bis Walter und ich einander prüften und für in Ordnung befanden. Seither bestand unsere Freundschaft offen und ehrlich, von großem Verständnis für einander, nie aufdringlich, nie einnehmend, immer lassend und wohlwollend. Spätestens seit dem Übertritt in die private Oberschule Besler, die zu jener Zeit noch mit einem monatlichen Schulgeld von fünf DM verbunden war, waren wir, ohne es indes zu wissen, aneinander gewachsen. Es konnte allerdings gut und gerne auch schon etwas früher geschehen sein. Möglicherweise hatte es sich auch schon still und heimlich bei der von uns Schülern im dreiundfünfziger oder vierundfünfziger Jahr vor der dritten oder vierten Klasse der evangelischen Volksschule aufgeführten „Goldenen Gans, einem Märchen, wie ich meine, der Gebrüder Grimm, vollzogen. Walter trug graue Knickerbocker und dazu eine ebensolche Jacke, trug ein schneidigen Jägerhut auf dem Kopfe und spielte den forschen jungen Wandersmann, der intuitiv die richtige Antwort gab, so dass die Gans goldene Eier legte. An der Rolle wird es nicht gelegen haben, dass wir so zueinander fanden, mehr am Gespür, dass jetzt größere Aufgaben beginnen und wir uns gemeinsam mit viel Spaß und Lust, aneinander gelehnt auf den neuen Weg machten. Dass Walter zu jener Zeit noch in der Burgsiedlung wohnte, erfuhr ich erst sehr viel später, ebenso wie die unselige Verquickung seiner Eltern in die NS Zeit. Mit dem Beginn der Oberschule begann die große Zeit unserer Geburtstagsfeiern, die abwechselnd mal bei Walter, bei Karlheinz, den wir Bimmi nannten, beim anderen KarlHeinz aus dem Sägewerk oder bei mir stattfanden. Dem Bimmi rannte beim Lachen regelmäßig der damals traditionell von den Müttern, oder, bei dem einen oder andern von uns, auch von Kindermädchen servierte Kakao aus den Nasenlöchern auf die meist weißen, frisch gewaschenen und gebügelten, in Mustern gewobenen, leinenen oder damastenen Tischtücher. Zwischen den Geburtstagen zeigten sich mal weitere, zuerst leichte, später schon längere, dunkle Schatten, die ich erst heute zu deuten ahne. Sie verwunderten uns und prägten sich unseren Kinderherzen ein. Bei Walter mussten bestimmte Rituale und genau definierte Ruhezeiten eingehalten werden. Wir durften nur zugewiesene Plätze benutzen und mussten sehr auf Ordnung und Symmetrie achten. Das waren wir nicht gewohnt und offensichtlich fiel es auch Walter schwer, uns solches beizubringen, sodass uns bei ihm immer ein merkwürdiger Hauch von Beklemmung und Zurückhaltung bedrängte. So gern wir uns auch mit Walter trafen und so interessant und aufregend uns dieses riesige Haus schien, es blieb in gewissem Sinne für uns so etwas wie ein fremdgesteuertes, von Geistern besetztes Haus mit uns unbekannter und nie zuvor begegneter Fremdartigkeit. Walters Familie sah ich anfangs so gut wie nie. Auch in meiner späten Erinnerung finden sich nur wenige Momente, in denen ich bei Walter einkehrte und selbst die schienen von eben diesen dumpfen Momenten belegt, so dass wir uns, wenn es ging, lieber außerhäusig trafen. Nur im Winter beim Eishockeyspielen gab es keine Alternative zu dem geräumten und mit Schnee festgetretenen Vorgarten, in dem im Sommer reife Erdbeeren in unsere sehnsüchtig blickenden Augen schier hineinwuchsen und der zum Hause in der Bismarckstraße Nummer sieben gehörte. Überhaupt lud die Bismarckstraße Nummer sieben bei jedem Besuch aufs Neue ein, Rätsel auszumachen und zu lösen. Auf Streifzügen ins Ghau oder übers Bachtel hinauf zur Ordensburg fanden wir bald richtige Pistolen, bald nur die zurückgelassenen, ganzstückig aus Aluminium bestehenden StoßMesser der amerikanischen Soldaten mit ihrem breiten, ausgehöhltem Knauf, die die Amerikaner beim Abzug im vierundfünfziger Jahr kiloweise in einer der vielen Kellerkammern der Burg einfach liegen gelassen hatten. Später, so etwa ab neunzehnhundertachtundfünfzig und noch mehr mit dem nach dem im Jahr neunzehnhundertsechzig folgenden Beginn der Oberstufe, verdichteten sich die frühen Schatten der Kindheit zu ersten schwarzen Wolken. Walter berichtete uns von sehr aufregenden Diskussionen am Mittagstisch bei seiner Familie, um die wir ihn zuerst ziemlich beneideten, da wir uns nur als eine kleine Familie und dazu ohne Vater ziemlich ärmlich vorkamen. In der Folge erzählte er sodann häufiger von den Zerwürfnissen mit seinem Vater über dessen NS Zeit als Kreisleiter, die ihn arg bedrückten, wie wir merkten. Er fügte an, dass er seine Geschwister Gundula und Udo nicht verstehe, denen dies alles egal sei. Walter sagte uns hingegen nicht, was wir aber längst wussten, dass er seinen Vater gerne lieben würde, was ihm aber nicht gelang. Fortan schienen dennoch zwei Seelen in seiner Brust zu wohnen, eine, von der er selber nichts wusste, die den Vater liebte und eine, welche ihm, dem Geraden, dem Aufrechten riet, künftig zu den Seinen und allem Nahen auf Distanz zu gehen. Man könne schließlich nicht wissen, was da alles so in einer Seele eines anderen wohne. Während der Abiturszeit und in der Zeit danach wandte sich Walter Menschen zu, die für ihn Vorbild schienen. Da gab es den Architekten Gradle, dem er mit dem Studium nacheiferte und der dem einen Bruder ein Haus gebaut hatte und dem anderen Bruder gerade dabei war, eines zu bauen. Als der Bruder das Verhältnis mit Gradle beendete, beendete Walter sein Verhältnis zum Bruder. Als dann Gredle ihm überdrüssig war und ihn fallen ließ, schmiss Walter das Studium, mit Architektur wollte er nichts mehr zu tun haben. Ein letztes Mal zuckte noch der Wunsch nach Anerkennung auf, als ihn der andere, der ältere Bruder ebenfalls bat, für sein Haus Vorgaben zu liefern und zu planen. Als sich dieser nach einem mit viel Arbeit Walters angefüllten Jahr jedoch eines anderen besann, seine Entwürfe und Modelle ohne Erklärung und Walter ohne Dank und Anerkennung stehen ließ, war er der Verzweiflung nahe und entschloss sich, von nun an, nur mehr an sich und für sich zu arbeiten. Und er schliff sich täglich, wurde von Tag zu Tag kreativer. Es verging keine Nacht, in der er nicht irgendein Hörspiel, oder einen Vortrag oder eine andere Literatursendung, sei es nun über Mittel, Lang oder UltraKurzwelle gierig und mit großem Eifer in sich aufsog. Es schien, als halfen ihm diese Hörspiele, seine verschlossene Seele zu ergründen. Auf diese Art gelangte er eines Tages zu mehreren Aufzeichnungen und Hörspielfassungen von unserem gemeinsamen Freund W.G. Sebald, den der SPIEGEL eines Tages sogar für nobelpreisverdächtig hielt. Waren wir nicht auch ähnlich begabt, fragten wir uns. Was hatten andere mehr als wir? Was machte deren Erfolg aus? Nein, wir waren uns einig! Den Erfolg mussten wir erst im Innern für uns definieren und besitzen, bevor uns eine Zuwendung nach außen, wie wir glaubten, eben den Kampf ums Publikum, erfolgreich zu sein schien. Dann fing er an, kleine, filigrane Figuren aus echtem, silbernem Draht zu basteln, von denen ich heute froh wäre, eine zu besitzen. Was gäbe ich jetzt darum, zählte auch nur eine zu meinen Andenken. Eines Tages besorgte ich ihm ein Galvanisiergerät, das ich in meiner damaligen Firma einfach, weil nur noch rumstehend, mitnahm und ihm brachte, damit er seine Figuren versilbern könne. Dass dies meine letzte persönliche Begegnung mit ihm vor etwa zwanzig Jahren sein sollte, konnte ich damals nicht ahnen. Zu gerne hätte ich den Kerl mit der immerjungen Stimme noch einmal gesehen und gesprochen. Zu gerne wüsste ich, wie jener leichte und stets lachende Junge von damals als älterer Mann aussah. Bald feilte er an seiner Schreibe und wenn ich sie mir heute ansehe, stelle ich fest, hier hat ein großer Künstler, ein begabter Bildhauer, ein begnadeter Maler, ein Mensch mit einem alle Nuancen erfassenden Auge geschrieben. Unbewusst begann danach für ihn die stetige Suche nach dem Werkzeug, um seine eigene Nuss, wie er es nannte, zu knacken, um den Schlüssel zu seiner Seele zu finden. All seine Handlungen unterlagen dieser Prägung. Er spürte die Missachtung seiner Umgebung allzu deutler. Wer ihn fragte, was er so mache und wieso er nicht das Studium abschließe, den bestrafte er mit Verachtung und Vernertung. Seine Wunde war immer tiefer geworden. Was er wollte, hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Keiner verstand ihn mehr, er sich selber auch bald nicht mehr. Die Ablehnung, die er fortan erfuhr, konnte er geistig leicht parieren. „Was denn das für ein Leben in so einer Karriere sei?, fragte er geringschätzig zurück. Emotional verkraftete er jedoch die Missbilligung und Zurückweisung niemals mehr. Das Loch in seinem Herzen hatte sich gewaltig vergrößert und immens vertieft. Seitdem pflegte er sich von zu Hause aus zu vergnügen, indem er jeden Tag in seine eigene Universität ging, und dort, wie er mir mit breitem Lachen und ausgeschmitztem Grinsen mitteilte, jeden Tag Aufregendes über Aufregendes erlebe. Dann fing er an, wohl magisch angezogen, in der Psychiatrie zu arbeiten. Obwohl es ihm bei weitem an Robustheit fehlte und ich mir dort keinen Falscheren als ihn vorstellen konnte, glaubte er offenbar an jene Erfüllung, die in der Hilfe für andere liege, die dann doch auch für ihn irgendwann möglich sein müsste. Wenngleich er spürte, dass die Psychiatrie seine Nerven zersetzte, wusste er intuitiv, dass in diesen abgeriegelten Gebäuden die Lösung für ihn lag. Dabei überschätzte er sich völlig und begann auch in der Folge, die Realität nicht mehr korrekt zu erfassen. Vielleicht vor fünf oder sechs Jahren, als wir anfingen unsere Lebensgeschichten aufzudröseln, kamen wir drauf, dass er im Juli vierundvierzig, in der Abstiegszeit des Nationalsozialismus, kurz vor dessen Ende gar geboren wurde und dass seine Eltern folglich schon zu seiner Geburt von Sorgen um die Zukunft gequält sein mussten und dass wir alle, die dem vierundvierziger Jahr entstammen, so quasi von Geburt an, mit einer Art Kainsmal aufgewachsen sind. Wir waren sozusagen die ersten, die den Schaden der Eltern austragen mussten. Wie konnten wir, die kaum Geschlüpften auch nur ahnen, welches Verderben und welche Vernichtung um uns herum sich aufgetan hatte? Selbst in unserer Jugend ahnten wir kaum etwas von den Ungeheuerlichkeiten, die sich Jahre zuvor auf deutschem Boden abspielten. Die hartnäckige Weigerung des Vaters, Schuld zu übernehmen, vom Nationalsozialismus abzuschwören und sich so zu befreien, hatte Walter sehr getroffen. Er verstand zu jener Zeit nicht so recht, warum ein Mensch, und zumal sein Vater, so etwas tue. Indes glaubte er, wie alle anderen um uns herum, davon selber, wenn überhaupt, so doch nur wenig betroffen zu sein. Zwar hatten wir die Filme über den Holocaust gesehen, aber mehr als ein Schrecken über andere, ein Erschrocken sein wie eben über alle Brutalitäten war es nicht und schon gar nicht kamen wir auf die Idee, uns selber in das Geschehen einzubeziehen. Walters Lebensbild vom Menschen muss nach diesen, für alle wohl harten Auseinandersetzungen schon früh und zu allen Zeiten zerronnen sein. Wie konnte man solches leugnen? Wie solches für gut heißen? Leugnen hieß für ihn, stur zu sein, den eigenen Irrtum nicht wahrhaben wollen, die eigene Lernfähigkeit nicht annehmen wollen, die Enge der menschlichen Existenz nicht zu begreifen. Nur eine Art Religion oder Ideologie, besser als andere zu sein, konnte die Ursache für jene tödlichen Irrtümer sein. Auf der anderen Seite bewunderte er die Tugenden des Vaters, sei es nun dessen künstlerische Natur, sei es dessen gewählte Sprache und geschliffene Bildung. Einmal imponierte ihm die Aufrichtigkeit und die Ehrlichkeit des Vaters und die wollte er gerne übernehmen, zum andern aber wollte er mit dem Makel des NS nichts zu tun haben. Walter verstand seinen Vater nicht, gleichwohl spürte er aber, dass ihm der Vater in großer Liebe begegnete. Indes das Dilemma blieb, er wollte seinen Vater lieben, es ging aber nicht. Er wusste um die Liebe des Vaters, spürte sie aber nicht wirklich. Er verzieh ihm, wollte ihm aber eigentlich nicht verzeihen. Wie der Vater über ihn dachte, erzählte er uns nicht. Vor etwa drei Jahren bekam er eine Lebensgeschichte eines jungen Mädchens zu hören. Er glaubte, sie stammte aus Sonthofen und wurde in ein Lager oder eine KZ Außenstelle des Lagers Dachau irgendwo bei Isny, wie es eine solche auch bei Fischen gab, gebracht, gequält und verstarb dort, wie mir Walter berichtete, kümmerlich. Walter fragte mich, ob ich auch von diesen Außenstellen des KZ Dachau gehört habe und ob ich wüsste oder nur von irgendwoher gehört habe, inwieweit sein Vater darin verwickelt gewesen sein könnte. Ich wusste zwar von der Außenstelle in Fischen ebenso wie es eine solche auch in Blaichach gab, hatte aber von der Geschichte des Mädchens nichts gehört, glaubte auch nicht, ohne freilich den Vater allzu gut zu kennen, dass dem so sei. Wir sprachen dann auch darüber, dass mein Onkel mit der Tochter des stellvertretenden Kreisleiters Gemmle verheiratet gewesen sei und dass dies der Anlass für uns gewesen war, schon während des Krieges nach Sonthofen zu kommen. Meine Mutter, die über die Sonthofen stets recht gut informiert war, hatte nie etwas Nachteiliges über seinen Vater gehört. Hingegen wusste sie, dass dieser Gemmle, der ja Besitzer des Konsums gewesen sei, so etwa neunzehnhundertundachtundvierzig Selbstmord beging und dass der Gemmle ein ganz schrecklicher Mensch gewesen sei und man glaubte, dass er aus Angst vor einer Anklage aus dem Leben schied, so dass ich persönlich auch eher diesem Gemmle solches zuschreiben würde. Ich erzählte Walter sodann, dass der Gemmle mir als achtmonatigem Kleinkind beim Krabbeln in äußerst, langsamer und zynischer Bewegung eine Tür über die Hände schob, bis das Blut spritzte und meine Mutter mich nur zufällig aus dieser Zwangslage befreien konnte, was freilich den ertappten Gemmle wenig störte. So sei zumindest die Erzählung meiner Mutter aus dieser Zeit gewesen Meine Tante, die Schwester meines Vaters, die mit uns in den ersten Tagen nach der Flucht aus der Slowakei bei Gemmle wohnte und beim Gemmle im Konsum arbeitete, hatte mir darüber hinaus eines Tages mitgeteilt, dass sie und ihre Kolleginnen in der Weihnachtszeit beim Abfüllen der Nüsse in kleinere Tüten unablässig pfeifen mussten, um auf diese Art Kontrolle abzugeben, ob einer Nüsse beiße oder nicht. Ich berichtete dies alles Walter in der Hoffnung, dass er beginnen möge, sich von Schuld zu befreien. Mit den Jahren wurden die Fahrten nach der Sonthofen weniger. Wir sprachen mal darüber und waren uns einig, es traf ja für mich ebenso wie für ihn zu, dass es ja schier ein Wunder sei, dort eine so erfüllte Kindheit und Jugend gehabt zu haben. Waren nicht auch ganz große Nazis, wie die Hess, die Oberländer und Leys dort in den Bergen? Und waren nicht die ersten Klassen der Oberschule überfüllt mit deren Söhnen und Töchtern? Den Kindern derer und unseren Spielkameraden konnte die Vergangenheit indes nichts anhaben. Wir fühlten uns damals vermeintlich frei von Geschichte und spielten sorglos miteinander. Unsere Verstrickungen blieben zunächst unsichtbar. Und thronte nicht immer noch die schreckliche Ordensburg hoch über der Stadt, wo die irren Visionen der neuen Zucht erdacht und umgesetzt wurden? Ich erzählte Walter von den Berichten über Begegnungen, die die Mutter meiner Frau während einer Zugfahrt in den Kriegsjahren erlebt hatte. Eine fein gekleidete Dame antwortete ihr, auf den Zweck ihrer Reise angesprochen, „Sie fahre nach Sonthofen zur Begattung. Dort sollte also die neue Rasse entstehen. Wir waren also in einer Stadt aufgewachsen, die als Zeugnisplatz eines abartigen Natterngeschlechts vorgesehen war. Allmählich wuchs unser Wissen und jeder Besuch in der Sonthofen wurde zur Belastung. Und es war ja tatsächlich so, wie es Winfried Sebald mal formulierte, dass uns im Alter, wenn wir Zeit haben und zur Besinnung kommen, all die ungelösten Dinge wieder einholen. Wir wussten zwar lange von diesen Problemen, sie blieben aber sehr lange ungelöst in den unzähligen Abstellkammern unserer Seelen. Der Austausch solcher Geschichten und die Erzählungen darüber beruhigten Walter zunächst. Ob es tief und wirklich beruhigend wirkte, konnte ich nicht wahrnehmen. Ungelöst blieben Walter auch die Gedanken über seine Schwester und seine drei Brüder. Über die Jahre wechselten die Neigungen und Beziehungen. Wurde er warm mit dem einen oder der andern, so änderte sich das bald wieder, ohne dass er ahnte, warum. Konflikte und gegenteilige Meinungen erlebte er in besonders furchtbarer Weise als Ablehnung. Für den zweitältesten Bruder hatte er fast ein Jahr lang sein Studium unterbrochen, Häuser über Häuser erdacht und schließlich in Miniaturform mit aller Leidenschaft, Intelligenz und Können gebastelt und geformt, in der Hoffnung, ein wenig Dank und Anerkennung zu erhalten. Als dies auch nach längerem Hinwagten ausblieb, verkümmerte er und war fast am Boden zerstört. Leer und fassungslos nahm er seine weinende Seele wahr. Auf der nicht enden wollenden Suche nach Wärme fand er bald seine Neffen und Nichten. Bärbel, Axel, Tim und Bastian waren so die letzten, von denen er sich Erlösung erhoffte. Als auch diese verstummten und er immer noch keine Antworten für sich gefunden hatte, begann er erneut wieder, sich der Beschäftigung mit Frauen zuzuwenden. Es musste doch auch eine für ihn geben. Eines Tages erzählte er mir, dass er rettungslos verloren sei und bestand auch bei weiterem Nachbohren darauf, dass er keine Chance habe und dass alles hoffnungslos sei. Was es genau war, wollte er mir nicht sagen, versprach mir aber sich zu melden, wenn sozusagen das letzte Stündlein geschlagen hatte. Als ich nach einiger Zeit erneut fragte, meinte er nur kurzsilbig, „Ah, wo....., ja, das war alles gar nicht so schlimm gewesen. Ich hatte wohl bemerkt, dass sich die schweren Wolken in ein drohendes, furchterregendes Gewitter über ihm gewandelt hatten. Auf die Idee, dass dies eine Auswirkung von Psychosen und Medikamenten gewesen sein könnte, kam ich nicht. Ich schob alles seiner bisweilen spürbaren Verstocktheit zu. Wie konnte ich ahnen, dass er, der eigentlich schon immer alles hatte, was ein Mensch so gemeinhin braucht, urplötzlich in Not geraten war? Im Nachhinein hat sich freilich so manches erhellt. Wer aber war Walter? Für mich war er stets nur Vergnügen und reine Freude. Solange ich auch nachdenke, ich kenne bis heute keinen Menschen, der je so brilliert hätte, wie Walter es konnte. Ich kannte, solange er lebte, keinen intelligenteren, keinen lustigeren, keinen künstlerisch begabteren jungen Menschen als ihn. Ein jedes Gespräch mit ihm brachte Bereicherung und konnte Stunden dauern. Schon am Telefon, wenn er sich mit der frischen jungen Stimme als „Hundhammer meldete, begann für mich ein Tremolo. Dabei sang er das „Hund tief und ging in einer Art Stakkato mit dem „hammer immer höher, das Ganze dabei sehr kurz und wie aus einer Pistole geschossen auf einen loslassend. Ausgelassene Fröhlichkeit also von Beginn an! Während sein Witz, sein Grinsen, seine Erhabenheit vielleicht für viele arrogant gewesen sein mögen, so waren sie für mich der Ausdruck eines unendlich großen Geistes und eines erhabenen Genies mit unzähligen Facetten und bunten, palettenreichen Farbenspielen. Nichts, aber auch nichts war mit ihm langweilig, gleichwohl es viele gegeben haben mag, die ihn zu intellektuell und anstrengend erlebten. Neben allem, was ich gar nicht, ohne mich zu wiederholen, aufzählen könnte, erscheint es mir am wichtigsten, seine Friedfertigkeit zu erwähnen, die in der Metapher jener Jesusworte aus der Bergpredigt für mich am besten Ausdruck findet: „Selig sind die Sanftmütigen, denn ihrer ist das Himmelreer. Ich glaube, er hat nie einer Seele ein Haar gekrümmt, seine Spielwiese blieb die des Intellekts. Viel falsch hat er wirklich nicht gemacht, für manches konnte er nichts. Mögen die neuen Generationen eine bessere Zukunft vorfinden. Soweit meine Aufzeichnungen im Gedenken an meinen Freund Walter. Am nächsten Tag rief ich, vom Bedürfnis getragen über Walter ein paar Worte aus meiner Sicht am Grabe zu sagen, Frau Gundula an. Da Frau Gundula aber solches nicht in den Sinn gekommen war, erkundigte ich mich nach dem Tage der Beerdigung. Makabrer weise hatte sich die Familie den 20.Juli, den Tag des Gedenkens an das fehlgeschlagene Attentat auf Hitler, als Beerdigungsdatum ausgesucht, was natürlich für Walter ein ganz passendes Datum war, da Juri sich kaum einen entschiedeneren Gegner des Nationalsozialismus vorstellen konnte. Inwieweit seine Familie sich darüber bewusst war, konnte ich nicht erdenken.

    Beginnendes Erwachen

    Als ich mich am 20. Juli zweitausendundneun nach der Sonthofen aufmachte, ahnte ich nicht, welchen Zufall das Schicksal für mich an diesem Tag bereit hielt. Ich setzte mich in ein leeres Abteil, verstaute meine Tasche mit samt meiner Utensilien wie auch Kleidung auf der kupferfarbenen Ablage über mir, stand wieder auf, kramte nach der Süddeutschen und begann schließlich zu lesen. Dann dachte ich wieder an meinen Freund Walter, überlegte, wie es wohl sein würde, meinem Freund dort am städtischen Friedhof, unweit unserer früheren Hause, im Nachhinein das ins Ohr zu flüstern, was ich zu Lebezeiten nicht mehr geschafft hatte. Nach der Beerdigung erfuhr ich von einem jener alten Südstädter, die es gerade noch gab, und von dessen gute Kenntnis der damaligen Zeit ich wusste, dass Walters Vater ein ganz gefürchteter Gauleiter gewesen sei, der nahezu jeden, der Ablehnung oder Missgunst für den Nationalsozialismus in irgendeiner Form äußerte, ins KZ gebracht hatte. Die Südstädter hatten sich zu jener Zeit erzählt, dass dieser in der Sonthofen wohnende Gauleiter jenes besagte Mädchen aus Isny eigenhändig erschossen habe, man dies ihm aber später nicht mehr nachweisen habe können, so dass er nur zu einigen, wenigen Jahre Gefängnis verurteilt worden war. Inwieweit seine Beteiligung ebenso wie die erwiesene Beteiligung des städtischen Gefängisdirektors an der Tötung von KZ Häftlingen des Außenlagers Fischen im Zusammenhang mit der Verwischung von Spuren vor den heranrückenden Alliierten und der Überstellung der KZInsassen nach Südtirol juristisch belegt war, entzog sich mangels vorhandener und daher nicht einsehbarer Gerichtsprotokolle später jeder erforschenden Kenntnissuche. „Die Amis haben alle Akten mitgenommen.", sagte dieser Südtstädter zu mir mit jenem sekundenlangen Stehenlassen des Blickes, abwartend, nach Reaktionen suchende Durchdringung des Gegenübers, dabei schräg zur Schulter geneigter Kopfhaltung, die unzweideutig eine immense innere Anspannung verriet. Wie gut, dass ich diese Geschehnisse erst so viel später erfahren hatte, so dass ich seinerzeit Walters Frage nach der Schuld des Vaters mit

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