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Die Kunst des Verstehens: Aus dem Leben einer Nichthörenden
Die Kunst des Verstehens: Aus dem Leben einer Nichthörenden
Die Kunst des Verstehens: Aus dem Leben einer Nichthörenden
eBook218 Seiten2 Stunden

Die Kunst des Verstehens: Aus dem Leben einer Nichthörenden

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Über dieses E-Book

Eine Geschichte über ein 1964 taub geborenes Mädchen, wie es von frühester Kindheit an um Integration in die Welt der Hörenden kämpft. Lippenlesen und Sprechen lernt es von der Mutter. Trotz massiver Hindernisse und Widrigkeiten – neun Jahre in einer katholischen Schule mit Internat mit der dort herrschenden Willkür - wächst das Kind zu einer kritischen und selbständigen, selbstbewussten Person heran. Die Schilderung des Umgangs mit den Hilfsmitteln zum Hören und Sprechen kann anderen Betroffenen Mut machen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Feb. 2015
ISBN9783738688337
Die Kunst des Verstehens: Aus dem Leben einer Nichthörenden
Autor

Aline Karon

Aline Karon ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Sie lebt heute in Michelbach bei Schwäbisch Hall.

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    Buchvorschau

    Die Kunst des Verstehens - Aline Karon

    geändert

    Teil 1

    Die ersten Lebensmonate

    Im Oktober 1964 erblickte ich das Licht der Welt.

    Den späteren Erzählungen meiner Mutter nach wurde bei mir gleich nach der Geburt eine Blutgruppenunverträglichkeit festgestellt, die sich in starker Gelbsucht äußerte. Da die Ärzte meinen Zustand wohl als relativ heikel einschätzten, wurde ich in die über 100km entfernte Kinderklinik nach Tübingen gebracht, zur vorsorglichen Beobachtung. Nach 10 Tagen konnte mein Vater mich nach Hause holen. Nun war die kleine Familie komplett – meine Eltern konnten erst ab jetzt ihren Neuankömmling endlich richtig kennen lernen. Ich sah wohl ganz normal und gesund aus und es schien alles gut gegangen zu sein. Dennoch war meine Mutter ein wenig misstrauisch, ob mit mir wirklich alles in Ordnung sei.

    Deshalb kam bereits nach zwei Wochen der erste Verdacht auf, dass etwas mit meinem Gehör nicht stimmen könnte. Es war ein warmer Oktobertag. Ich schlief in meinem Körbchen tief und fest. Ein Fenster war offen, es gab einen starken Luftzug und die Zimmertüre knallte extrem laut zu. Meine Mutter sah es mit Schrecken kommen und konnte das Zufallen der Tür nicht mehr aufhalten. Mit einem besorgten Blick auf mich erwartete sie, dass das Kind bestimmt durch den Knall aufwachen und schreien würde. Aber nichts von alledem geschah. Ich verzog nicht einmal eine Miene und schlief selig und entspannt weiter. Im Lauf der nächsten Wochen erhärtete sich der Verdacht meiner Eltern, dass ich nichts hören kann. Dass sie so extrem früh diese Vermutung hatten, finde ich aus heutiger Sicht erstaunlich. Denn in den Familien meiner Eltern gab es keinerlei Hörbehinderungen. Daher fehlten im Grunde genommen die Erfahrung und das Vorwissen dazu. Andererseits denke ich, dass es bei einem Baby oder Kleinstkind, das wirklich taub ist, nicht allzu schwer ist, das frühzeitig festzustellen, weil es nie auf Geräusche reagiert, egal wie laut diese sind.

    Als ich sechs Monate alt war, meinte der Kinderarzt, dass ich gewiss gut hören könne. Wenn er seitlich von mir Geräusche zum Testen des Gehörs machte, drehte ich meinen Kopf natürlich in diese Richtung, um zu sehen, was er da macht. Oder ich schaute nach hinten. Mit sehr aufmerksamem Blick folgte ich jeder Bewegung um mich herum. Der Arzt tat die Sorgen meiner Mutter als Hysterie beziehungsweise übertriebene Ängstlichkeit ab, die oft beim ersten Kind auftreten können. Meine Mutter war jedoch nach wie vor überzeugt, dass ich nichts hören kann. Irgendwann später stand die Diagnose Taubheit nach weiteren eingehenden Untersuchungen endgültig fest.

    Deshalb machte meine Mutter sich bereits sehr früh Gedanken, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt, mir die Sprache beizubringen. Sie erfuhr, dass es in G. eine Schule für Gehörlose gibt. Ich war ein Jahr alt, als sie mich dort bei der Beratungsstelle vorstellte. Die Beraterin gab ein paar einfache Tipps, wie man mit mir Übungen machen könne. Die Frage meiner Mutter ob ich jemals die normale Sprache lernen würde und später auch Bücher lesen könnte, verneinte sie bedauernd. Nein, denn von Geburt an Gehörlose würden niemals in vollem Umfang in die Sprache hineinkommen können, geschweige denn Bücher lesen und die gelesene Sprache verstehen können. Das sei einfach viel zu schwierig für sie. Da brauche sie sich keine Hoffnungen zu machen.

    Meine Mutter wollte dieser entmutigenden Aussage einfach nicht glauben, bevor sie nicht selber etwas mit mir unternommen hatte.

    Damals schrieb man das Jahr 1965. Diese Zeit kann man mit der heutigen in der man unendlich viele Möglichkeiten hat, sich Informationen zu erschließen und Hilfe von außen zu holen, überhaupt nicht vergleichen - von den technischen Möglichkeiten ganz zu schweigen.

    Meine Eltern und ich

    Die Sprache

    Meine Mutter wusste genau, wie wichtig es ist, dass ein Kind möglichst früh, ungefähr ab einem Jahr, mit der Sprache konfrontiert wird. Ein normal hörendes Kleinkind nimmt ganz automatisch gesprochene Wörter und Sätze sowie alle möglichen Geräusche ganz nebenbei, und vor allem von alleine über das Gehör auf. Diese Möglichkeit ist bei einem völlig tauben Kind nicht gegeben. Es besteht die Gefahr, dass in der so wichtigen frühen Zeitspanne versäumt wird, dem Kleinkind die Sprache zu vermitteln. Man spricht in dem Fall von so genannten „Lernfenstern. Wird ein „Lernfenster nicht rechtzeitig genutzt, wird das Kind den altersgerechten Wortschatz niemals erwerben können. Versäumtes kann nicht mehr in vollem Umfang aufgeholt werden.

    Im Alltag fing meine Mutter jeden zufälligen Blickkontakt mit mir auf und nutzte diese Momente sehr konsequent für das Sprechen von Wörtern oder kurzen Sätzen aus. Sie tat also alles, was mich irgendwie in Bezug auf Sprache weiterbringen würde.

    Mit gerade einem Jahr fing ich an, das Wort „Mama" nachzusprechen, andere Wörter folgten bald. Allerdings sprach ich ohne Stimme, denn ich orientierte mich einzig und alleine an ihrem deutlichen Mundbild und ahmte dieses nach. Dass man dabei auch Laute erzeugt, konnte ich natürlich nicht wissen. Das war der Punkt, an dem meine Mutter ratlos war. Irgendwann bekam sie den guten Tipp, beim Sprechen meine Hand an ihren Hals zu legen. Dadurch konnte ich spüren, dass es beim Sprechen vibriert und dass dabei mehr passiert, als nur den Mund zu bewegen. Das war die einzige Möglichkeit, mir das Sprechen mit Stimme nahe zu bringen.

    Ob und wie viel verwertbares Restgehör bei mir überhaupt vorhanden war, musste erst einmal herausgefunden werden. Es gab damals noch lange nicht die kleinen HdO (Hinter dem Ohr) Geräte, wie sie heutzutage gang und gäbe sind. Stattdessen waren die Hörgeräte wesentlich größer. Man nannte diese Geräte „Hörapparat", die vorne um die Brust geschnallt getragen wurden. Ein solcher Hörapparat hatte in etwa die Abmessung 8 x 5 x 2cm. Vom Gerät aus verliefen zwei beigefarbene Kabel zu jedem Ohr mit recht großem Klick-Adapter und Ohrpassstück. Er wurde von zwei normalen, zylindrischen, circa 5cm langen Batterien betrieben.

    Einen solchen Hörapparat bekam ich also umgehängt, und sollte damit etwas hören. Es war nicht einfach, mich dazu zu bringen, das Gerät zu akzeptieren. Schon nach kurzer Zeit riss ich mir die Ohrpassstücke wieder aus den Ohren. Anscheinend war es mir nur lästig und es schien ein Zeichen zu sein, dass bei mir vom Hören her nur wenig ankam. Nach und nach wurde die Tragezeit wohl ausgedehnt. Wie oft und wie regelmäßig ich diesen Hörapparat trug, weiß ich nicht mehr. Aus eigenem Antrieb werde ich ihn sicherlich nicht getragen haben. Im Laufe der Zeit merkte man, dass ich von der Sprache her nur den Vokal „a" hören konnte sowie tiefe und laute Geräusche, wenn sie nahe genug waren.

    Meine Mutter war fest davon überzeugt, dass ich alle sprachlichen Informationen unbedingt visuell aufnehmen musste. Dazu gehörten das Malen von Bildern und das Schreiben von Wörtern in Druckbuchstaben. Sie zeichnete Bildkärtchen, die beispielsweise einen Ball, ein Haus, einen Baum, eine Blume, eine Katze und vieles mehr darstellten. Ebenso schrieb sie Wortkärtchen mit den jeweiligen Begriffen in Druckbuchstaben. Das Bildkärtchen wurde mit dem jeweils dazugehörenden Begriff auf dem Wortkärtchen gezeigt, es wurde das Wort auch deutlich dazu gesprochen. Sie verstand es meisterhaft, alles bereits Geübte spielerisch in den Alltag einzubauen. Es machte ihr auch viel Spaß, da ich immer sehr interessiert war, mich freute, dass sie so oft mit mir „spielte" und ich sog alles auf wie ein Schwamm.

    „Immer zum Dialog bereit"

    Mit drei Jahren konnte ich bereits lesen. Es gibt eine Anekdote dazu:

    Ein Schulfreund meiner Mutter ist Grundschullehrer geworden. Er rauchte für sein Leben gerne Pfeife. Einmal war er zu Besuch bei uns. Viele verschiedene Bildkärtchen und Wortkärtchen lagen kreuz und quer vor uns auf dem Tisch. Da suchte meine Mutter mir das Bild von einer Pfeife heraus und sagte mir, dass ich das Wort „Pfeife holen sollte. Schon nach kurzer Zeit hatte ich das Wort „Pfeife gefunden und legte es dazu. Der Freund war vollkommen verblüfft.

    Die spielerischen Übungen wurden im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut und mein Wortschatz wuchs stetig. Meine Mutter führte auch eine Art Tagebuch mit mir zusammen. Das war ein gebundenes DIN-A4-Buch mit leeren weißen Seiten. Jeden Tag zeichnete sie ein Bild hinein von einem Tagesgeschehen. Beispielsweise zeichnete sie ein Bild von uns beim Einkaufen in einem Laden. Darunter schrieb sie den jeweiligen Wochentag und einen kurzen Text dazu. Wir betrachteten das Bild und lasen den Text gemeinsam. Ab und zu zeichnete ich das gleiche Bild auf meine Art auf die benachbarte freie Seite und schrieb beziehungsweise malte den Text so gut ab, wie ich es gerade konnte.

    Diese Tagebücher betrachtete ich in den späteren Jahren immer wieder gerne. So sind viele Alltagserlebnisse sehr gut in meiner Erinnerung geblieben, obwohl ich noch recht klein war.

    Das Sprechen übte meine Mutter mit mir immer wieder auf stets spielerische Weise. Ich erspürte mit der Hand die Vibrationen an ihrem und an meinem Hals, wenn wir sprachen, und konnte auf diese Weise meine Stimme der ihren - so gut es ging - nachahmen. Aber es gibt auch Buchstaben, die man nicht durch Vibrationen am Hals spüren kann. Das sind beispielsweise die Buchstaben f, sch, h, s. Dazu hielt sie eine Pfauenfeder vor ihren Mund. So konnte ich sehen, wie diese sich bei den bestimmten Lauten unterschiedlich bewegte. Auch bei den Buchstaben b, p, k, d, t machte die Pfauenfeder kurze Bewegungen.

    Es war auf diese Weise möglich, mir visuell zu zeigen, wie diese stimmlosen Laute produziert werden müssen, damit die Pfauenfeder diese oder jene sachte länger anhaltende oder kurze, ruckartige Bewegung macht. Auch das Halten meiner Hand vor ihre und meine Lippen war gut, um den Atemfluss nach außen zu spüren.

    Im Wohnzimmer stand ein Klavier. Meine Mutter dachte sich ein neues Spiel für mich aus:

    Sie legte drei Blätter Papier auf den Wohnzimmertisch. Auf dem einen Blatt stand in großen Druckbuchstaben: „hoch, auf dem mittleren stand: „mittel und auf dem letzten stand: „tief. Auf jedes der drei Blätter legte sie eine kleine Handvoll Rosinen. Sie setzte sich ans Klavier, ich musste ihr den Rücken zukehren und schaute auf die drei Blätter mit den Rosinen. Dann musste ich mit meinem „Hörapparat lauschen. Je nachdem meine Mutter einen sehr hohen Ton, einen mittleren Ton oder einen ganz tiefen Ton anschlug, sollte ich immer einen der drei Töne benennen. Die tiefen Töne zu erkennen, war kein Problem für mich. Bei „mittel" hatte ich schon Schwierigkeiten und die hohen Töne hörte ich gar nicht. Wenn ich mit der Antwort richtig lag, durfte ich eine Rosine vom jeweiligen Blatt nehmen und essen. Wir übten so lange, bis die letzte Rosine weg war, und hatten unsere Freude an diesem Spiel. Auf diese Art und Weise konnte meine Mutter auch sehr gut abschätzen, was ich mit dem Hörapparat überhaupt hören konnte.

    Meine Mutter und ich bei den Sprechübungen

    Zu viert

    In der Zwischenzeit, als ich 2 ½ Jahre alt war, wurde mein Bruder Leo geboren.

    Zu der Zeit waren wir in München zu Besuch bei den Verwandten väterlicherseits. Meine Eltern waren damals sehr oft und gerne zu Besuch dort.

    Dort war ich bestens versorgt und untergebracht, wenn meine Mutter in die Klinik musste. Denn mein Vater war als Maschinenbauingenieur in einer verantwortungsvollen Position beruflich sehr eingespannt und oft auf Geschäftsreisen unterwegs. Sicherlich erhoffte meine Mutter sich von der Münchner Klinik eine bessere Versorgung, falls es bei der Geburt des zweiten Kindes auch zu Komplikationen kommen sollte. Denn im Nachhinein gesehen, hätte man bei mir gleich nach der Geburt einen Blutaustausch machen müssen. Allerdings hatte die kleinere Klinik in Heidenheim damals diese Möglichkeiten nicht.

    Leider war die Geburt von Leo auch nicht ohne Probleme. Er musste wegen Sauerstoffmangel schnell per Kaiserschnitt geholt werden. Außerdem hatte er die gleiche Blutgruppen-unverträglichkeit wie ich damals, nur nicht ganz so stark ausgeprägt. Da die Geburt für das Kind jedoch eine Strapaze war, verzichtete man lieber auf den Blutaustausch.

    Es schien in der ersten Zeit so, dass Leo alles gut überstanden hatte ohne irgendwelche Einschränkungen. Er gedieh gut und war ein ruhiges Kind. Bei ihm nahmen meine Eltern auch an, dass er normal hört. Er reagierte im Gegensatz zu mir auf Geräusche. Da brauchte man sich wohl keine Gedanken zu machen.

    Als Leo ca. 12 Monate alt war, wurde bei ihm doch eine mittelgradige Schwerhörigkeit diagnostiziert. Den „Hörapparat" akzeptierte er im Gegensatz zu mir auf Anhieb sehr gut. Es kamen bei ihm viel mehr Töne an.

    Meine Eltern hatten sich durch mich bereits viel Wissen über die Hörschädigung angeeignet und wollten die guten Erfahrungen bei der Sprachanbahnung auch bei Leo anwenden. Bei ihm konnte man zu Recht hoffen, dass er wegen seinem besseren Hörvermögen noch leichter in die Sprache hineinkommen könnte als ich. Aber alle Versuche, genauso spielerisch zu arbeiten, schlugen bei Leo vollkommen fehl. Er schaute meine Mutter nicht an, wenn sie mit ihm sprach. Wenn sie ihn in den Arm nahm, drückte er sich mit aller Kraft von ihr weg. Er war nicht zugänglich und beschäftigte sich am liebsten alleine.

    Das stellte meine Eltern vor ganz neue Herausforderungen.

    Vorschule

    Nun war ich über drei Jahre alt. Meine Eltern machten sich Gedanken darüber, welche Art von Schule für mich später geeignet sein könnte. Denn ein Regelkindergarten oder gar eine Schule für Normalhörende wäre für mich als rein Gehörlose trotz der beinahe altersgemäßen Sprachkompetenz wahrscheinlich eine Überforderung gewesen. Es wäre einerseits eine ganze Menge Unterstützung und Überzeugungsarbeit durch meine Mutter notwendig gewesen, andererseits wäre es sehr fraglich gewesen, ob ich dort überhaupt genommen worden wäre. Das Wort Integration existierte damals praktisch nicht. Darüber hinaus war meine Mutter durch meinen Bruder Leo zusätzlich sehr beschäftigt.

    Die 35km entfernte Gehörlosenschule St. Bonifaz in G. war demnach die erste Anlaufstelle. Es war eine katholische Schule,

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