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Die Grundlagen der Moral: und das Gorgonenantlitz der Globalisierung
Die Grundlagen der Moral: und das Gorgonenantlitz der Globalisierung
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eBook426 Seiten5 Stunden

Die Grundlagen der Moral: und das Gorgonenantlitz der Globalisierung

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Über dieses E-Book

Fukushima, der Klimawandel, die Finanzkrise, die Armut eines Großteils der Weltbevölkerung – die Globalisierung fordert von uns nicht nur politische Lösungen, sondern auch ein globales Verantwortungsbewusstsein, verbindliche Werte und Moralvorstellungen eines »Weltbürgers«.

Während die überkommenen Moralvorstellungen an Eindeutigkeit, Orientierungsgewähr und mithin Verlässlichkeit verlieren, suchen die politisch Verantwortlichen mit einer wachsenden, kaum mehr überschaubaren Flut immer differenzierterer behördlicher Vorschriften und Gesetze und der Institutionalisierung von »Ethikkommissionen« zu begegnen. Und auch die Wissenschaft sieht sich veranlasst, in transdisziplinären Forschungsgruppen die Ursachen der Entwicklung aufzuklären und Empfehlungen zur Lösung der Probleme zu erarbeiten.

Klaus E. Müllers Anliegen ist es, die allzeit gültigen Konstanten des moralischen Wertekanons samt den daraus folgenden sozialen Verantwortlichkeiten zu bestimmen und zu erklären, welche Möglichkeiten bestehen (könnten), der Entwicklung eines Verfalls der Moral entgegenzuwirken. Hierfür nimmt der Ethnologe den Leser auf eine Reise von den frühagrarischen Kulturen bis in unsere Gegenwart und appelliert, u.a. Moral in Schulen und Universitäten konfessionsübergreifend zu lehren und Institutionen wie die UNO oder den Internationalen Gerichtshof exekutiv zu stärken.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Dez. 2014
ISBN9783864960208
Die Grundlagen der Moral: und das Gorgonenantlitz der Globalisierung
Autor

Klaus E. Müller

Klaus E. Müller ist Professor em. für Ethnologie an der Universität Frankfurt a. M. Er arbeitete zuletzt an mehreren Institutes for Advanced Study in verschiedenen transdisziplinären Projektgruppen, die sich auch mit Fragen der Entstehung und Entwicklung von Moral und Recht befassten.

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    Buchvorschau

    Die Grundlagen der Moral - Klaus E. Müller

    Müller

    [10]

    1. Zur Einführung

    Es ist kaum möglich, eine Aussage zu machen, die nicht zumindest eine beiläufige moralische Bedeutung besitzt. Das gilt besonders dann, wenn sich die Feststellung auf andere Personen, auf Erfahrungen und Erlebnisse bezieht, wenn man ein Verhalten erläutern, sich rechtfertigen oder entschuldigen will. ¹ «Er sagte mir neulich, es habe ihn doch sehr gewundert, daß …»; «gestern wäre ich beinahe auf einer Bananenschale ausgeglitten, die jemand achtlos fortgeworfen hatte»; «wir sollten uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät» usw. Selbst Bemerkungen wie «es ist schon fast Mittag» oder «die Pflanze da läßt ihre Blätter hängen» enthalten implizit den Appell, daß man sich sputen muß, um einer eingegangenen Verpflichtung noch rechtzeitig nachzukommen, beziehungsweise die besagte Pflanze dringend gegossen werden muß. Will man der gebotenen Intention deutlicher Ausdruck verleihen, wählt man optative, adhortative oder imperative Aussageformen, verwendet statt deskriptiver präskriptive Formulierungen. ² Auch die Gesprächsführung selbst unterliegt moralischen Präskriptionen. Man sollte anderen nicht «ins Wort fallen», sie aussprechen lassen und ihren Worten die gebührende Aufmerksamkeit schenken, der Neigung widerstehen, nur von sich selber zu sprechen, und keine anstößigen Ausdrücke benutzen. Ja allgemein kann man sagen, daß alles Verhalten, das heißt der Umgang – sei es gedanklich oder unmittelbar – mit Gütern, Nahrungsmitteln, Haustieren, Aufgaben, Konventionen, Institutionen und Mitmenschen, moralischen Maximen folgt: Man tritt einander nicht zu nahe, im buchstäblichen wie übertragenen Sinn, bemüht sich, «die Form zu wahren», niemandem «auf den Schlips zu treten», läßt älteren Leuten den Vortritt, hilft ihnen beim Überqueren der Straße, achtet auf sein Äußeres, läßt nichts verkommen usw. mehr. Für spezifische Situationen stehen Sprichwörter wie «was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen», «ohne Fleiß kein Preis», «Morgenstund hat Gold im Mund», «was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» oder Redewendungen wie «Höflichkeit hat noch niemandem geschadet» bereit. Moralische Wertvorstellungen durchziehen und bestimmen, ja beherrschen mitunter alles Verhalten und Handeln, Empfinden, Denken und Urteilen. In manchen Fällen scheint es nur

    [11]

    nicht so zu sein. Schulische und sportliche Leistungen werden nach (vermeintlich) rein «objektiven» Kriterien bewertet, herausragende wissenschaftliche und künstlerische mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Letzten Endes jedoch liegen den Beurteilungen auch hier moralische Qualifikationen wie Fleiß, Ausdauer, Zielstrebigkeit und Perfektion zugrunde. ³ Eine Gesellschaft, die keine Begriffe für Richtig und Falsch, für Gut und Böse, das heißt keine verhaltensleitenden moralischen Maximen besäße, wäre weder vorstellbar noch überlebensfähig. ⁴ Mithin kommt der Moral für das Verständnis des menschlich-gemeinschaftlichen Sozialverhaltens eine Schlüsselrolle zu.

    Der Begriff «Moral» wurde in dem Sinne, in dem wir ihn auch heute noch verstehen, in Europa etwa ab dem 16. Jahrhundert gebräuchlich. Etymologisch geht er auf das lateinische Adjektiv moralis, «sittengemäß», «sittlich», zurück, das seinerseits von dem Substantiv mos (Gen. moris), «Gewohnheit», «Brauchtum», «Sitte», abgeleitet ist ⁵ und sonach das traditionskonforme Verhalten einer, beziehungsweise der je eigenen Gruppe (Gemeinschaft, Gesellschaft, Ethnie) bezeichnet. Wer gerade wandelt auf dem von der Überlieferung vorgewiesenen Weg, nicht abkommt und auf Abwege gerät und «krumme Touren» einschlägt, der führt ein gutes Leben «nach Väterart» und darf sich zu den Gerechten zählen. Entsprechend besitzen in vielen, ja vermutlich in den meisten Sprachen die Begriffe für «gerade» gleichzeitig auch die Bedeutung «aufrichtig», «gut» und «schön» und bezeichnen die für «ungerade», «krumm», «verbogen» usw. zugleich auch die moralischen Negationen «verlogen», «schlecht» und «häßlich» (vgl. sich «häßlich» benehmen). ⁶ In der Sprache der Kayapó (im Nordosten Brasiliens) werden entsprechend mit meit ebenso «gut» wie «schön» und mit punure ebenso «häßlich» wie «böse» ausgedrückt. ⁷

    Moralische und ästhetische Kategorien bilden offensichtlich analoge, ja gleichsinnige Begriffe, das heißt stellen eine Beziehungseinheit dar. Gute Manieren sollten auch «schön» – gepflegt, formvollendet, stillvoll, elegant – sein. Martin Heidegger (1889–1976) verstand den «Humanismus» als

    [12]

    «moralisch-ästhetische Anthropologie» ⁸; es gehe dabei um das «Sinnen und Sorgen, daß der Mensch menschlich sei und nicht un-menschlich». Da die Menschlichkeit sich im sozialen Zusammenleben entfalte, könne, wenn von Humanismus die Rede sei, immer nur der «gesellschaftliche Mensch» gemeint sein. ⁹

    Doch damit beginnen auch schon die Probleme: Welcher Gesellschaft Mensch ist gemeint? Moral wird, wie gesagt, konkret stets als die Sittlichkeit einer bestimmten – der je eigenen Gesellschaft begriffen. Insofern kann sich die Ethnologie als vergleichende Human- und Grundlagenwissenschaft der socialitas humana zwar mit Heideggers Definition, nicht aber seiner Zusatzbestimmung einverstanden erklären; denn für sie gibt es, zumindest vordergründig, den «gesellschaftlichen Menschen» nicht.

    Heidegger gründete erklärtermaßen sein Denken auf die klassisch-griechische Philosophie. Den Humanismus sah er grundgelegt im platonischen Verständnis des Begriffs paideia, der an sich «Erziehung» bedeutet, im erweiterten Sinne bei Platon jedoch die lebenslange sittliche, künstlerische und philosophische Bildung der Seele meint, die, wenn sie erfolgreich ist, zuletzt den Blick auf die Idee des Guten freigibt. ¹⁰ Insofern unterschied sich der philosophisch Gebildete, und zumal in Athen, deutlich von allen Ungebildeten, wie Gewerbetreibenden, Metöken («Gastarbeitern»), Sklaven und erst recht den nichthellenischen «Barbaren», wurde paideia zum Synonym für Zivilisation beziehungsweise Kultur. ¹¹ Im Lateinischen entsprach dem die humanitas, stand der im Sinne der griechischen paideia philosophisch gebildete Römer, der homo humanus, diametral dem homo barbarus, dem zivilisationslosen «Wilden» jenseits des Orbis Romanus, gegenüber. ¹²

    Die Antithese zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte, von der Antike bis in die Neuzeit. Die homines barbari erschienen um so «wilder», je mehr sie sich in Aussehen und Lebensweise von den Völkern im Zentrum der antiken Welt unterschieden. Xenophon von Athen (ca. 430– 355 v. Chr.) brachte diese Art nostrozentrischer Optik, derzufolge nur die eigene Moral diese Bezeichnung verdient und absolute Geltung beanspruchen kann, in der Anabasis (V 4) bei seiner Charakterisierung der Mossynoiken an der südöstlichen Schwarzmeerküste auf den Punkt: «Die Griechen meinten, dies seien die rohesten und wildesten (barbarotatous) Leute, deren Gebiet sie berührt hätten: ihre Sitten wichen am meisten von denen der

    [13]

    Griechen ab.» Und da Barbaren per definitionem nur rudimentär zivilisiert waren und man insofern bei ihnen moralische Grundsätze bestenfalls ansatzweise voraussetzen durfte, mußten sie auch undiszipliniert, das heißt höchst gefährlich erscheinen. Man betrachtete sie als potentielle Feinde ¹³, die man sich besser vom Leib hielt oder, nötigenfalls, unterwarf und versklavte – wenn nicht vernichtete.

    Doch gab es zumindest – bedingt, zeitweilig – Minderzivilisierte auch innerhalb der eigenen, selbst kleiner dörflicher Gesellschaften; denn eine jede besaß immer ein gewisses Maß an sozialer Differenzierung nach Verwandtschaftszugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Tätigkeitsspezialisierung und Status sowie eine darauf gegründete hierarchische Struktur. Kinder und Jugendliche befanden sich noch im Entwicklungsstadium und mußten erst lernen, wie man sich den Normen der Gesellschaft gemäß zu verhalten hatte. Frauen entstammten aufgrund des weithin geltenden Exogamiegebots anderen, wenn auch benachbarten, so doch «fremden», quasibarbarischen Gruppen und bedurften insofern ebenfalls der Sozialisation. Erst erwachsene Männer waren mit den Werten ihrer Kultur voll vertraut, allerdings abgestuft nach Alter und Art ihrer Aufgaben (Gatte, Vater, Familienoberhaupt, Würdenträger), das heißt ihrem Status und dem Maß ihrer sozialen Verantwortung und dem damit verbundenen Zugang zum Überlieferungsbesitz, insbesondere dem sakralen Wissensgut der Gruppe. Randständige – Ledige, Witwen, Verarmte, notorisch Asoziale, Zuzügler, fahrende Musikanten und Gewerbetreibende – hatten nur einen eingeschränkten Anteil an der Kultur; man erwartete nicht, daß sie sich streng normengerecht verhielten; ihr Ansehen war entsprechend gering, man traute ihnen nicht über den Weg. Sie bildeten den Gegenpol zu den Obrigkeiten im Zentrum der Gesellschaft, in dörflichen Gemeinschaften den «Ältesten» mit dem Gearchen («Erdherrn»), dem Ältesten der genealogisch ältesten Sippe, oder Ethnarchen (Stammesoberhaupt) an der Spitze. Sie besaßen den höchsten Stand und Status, gaben den Ton an, definierten vermöge ihrer nostrozentrischen Optik die Geltungskriterien der Moral, übten die Normenkontrolle aus und verhängten gegebenenfalls die fälligen Sanktionen.

    Infolgedessen gab es zwar Unterschiede in den moralischen Anforderungen unter den Alters-, Geschlechts- und Statusgruppen auch dörflicher Gesellschaften, doch führten sie hier kaum zu ernsten Konflikten, da man über ebenso bewährte wie wirksame Ausgleichsmechanismn verfügte und der Rahmen, den die Ältesten setzten, ebenso ehern wie eng war. Das änderte sich dann dramatisch mit der wachsenden Differenzierung in den

    [14]

    urbanen Gesellschaften der Archaischen Hochkulturen. Berufsständische Gruppen – Lastenträger, Gerber, Färber, Weber, Schmiede usw., Händler, Beamte, Schreiber, Priester – bildeten und verselbständigten sich. Sie wohnten in geschlossenen Straßenzügen oder Vierteln (bzw. im Tempelbezirk) zusammen, organisierten sich in Genossenschaften, Zünften, Gilden und Priesterschaften und entwickelten so nicht zuletzt auch ein eigenes, gruppenspezifisches Brauchtum und Ethos.

    Die Verhältnisse wurden komplexer und unübersichtlicher. Es bedurfte einer übergeordneten, staatlichen Obrigkeit, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Judikative. Nicht wenige Herrscher, deren Name später den Zusatz «der Große» erhielt, erließen eine eigene, neue (oder reformierte) Gesetzesordnung. Im antiken Griechenland, genauer im athenischen Machtbereich, entsprachen dem die Gesetzgebung Solons (ca. 640–561 v. Chr.) und die Reformen des Kleisthenes (5. Jh. v. Chr.) und Perikles (ca. 500–429 v. Chr.), die schließlich zur demokratischen Polis-Verfassung in Athen, seinen Tochterkolonien und einigen anderen Stadtstaaten führten: Das moralische Universum der alten dörflichen Gemeinschaften hatte sich unter dem Druck der wachsenden gesellschaftlichen Differenzierung gleichsam aufgebläht. Der staatliche Gesetzeskanon umspannte und sicherte den Zusammenhalt einer Vielzahl teils säkularer, teils religiöser Wertesysteme der verschiedenen Partialgruppen, ethnischen Minderheiten und Glaubensgemeinschaften. Hinzu kam mit der imperialistischen Expansion und den dadurch sich mehrenden interethnischen Kontakten, daß man mit anderen, fremden hochkulturlichen Gesetzesordnungen und den sie tragenden moralischen Grundsätzen bekannt wurde. Die Überzeugung, daß die eigene Moral Anspruch auf den absoluten Geltungsprimat besitze, geriet zumindest ins Wanken; sie lief Gefahr, fragwürdig, das heißt zum Problem zu werden.

    Abgesehen von den wiederholten Gesetzesreformen, auch den zunehmenden religiös-revolutionären Erneuerungsbewegungen in den altmediterranen und antiken Hochkulturen, liefern ein beredtes Zeugnis dafür die platonischen Dialoge, in denen es Sokrates und seinen Gesprächspartnern – allen voran dem großen Sophisten und Aufklärer Protagoras von Abdera (ca. 490–420 v. Chr.) – immer wieder darum geht, das Wesen der Tugend (arete) zu bestimmen, zu fragen, ob es mehrere unterschiedliche Arten der Tugend oder nur eine gebe, auf die alle als ihre umstands- und situationsbedingten Besonderungen sich zurückführen lassen, ob und wie sie lehrbar sei, was es heiße, ein vorbildlich tugendhaftes Leben zu führen, worin das Wesen des absolut Guten bestehe usw. mehr. Einiges trug auch der Widerstreit zwischen den alten feudalen und den neuen demokratischen Gesellschaftsstrukturen und Rechtsordnungen dazu bei – mit einem Wort: Aus

    [15]

    der allgemeinen Verunsicherung im Zuge der sozialen, ethnischen und religiösen Umbruchsprozesse entstand die «Moralphilosophie» oder Ethik, das heißt eine an sich moralfreie Wertelehre («Axiologie»), die das Denken über Moral zum Gegenstand hat und in der es vornehmlich um die Bedingungen der Moralität, die Begründungskriterien moralischen Handelns und die Frage geht, wie man Glück gewinnen und mehren («Felizitologie»), beziehungsweise Leiden mindern oder vollends vermeiden und sich der Mensch «sittlich» vervollkommnen kann.

    Der Prozeß verschärfte sich in der Folgezeit mit den immer weiter ausgreifenden Eroberungs- und später den Religionskriegen, dem Kolonialismus und zuletzt den Massengreueln des 20. Jahrhunderts. Entsprechend wuchs die Zahl der moralphilosophischen (und moraltheologischen) Lehren. Die großen «Entdeckungen» ab Ende des 15. Jahrhunderts, die Sezessions- und Unabhängigkeits- und schließlich die beiden verheerenden Weltkriege lösten zunehmend Debatten über Fragen der bürgerlichen «Grund»- und internationalen «Menschenrechte» aus, die ihren Niederschlag in nationalen Verfassungen, päpstlichen Bullen und den verschiedenen Konventionen und Deklarationen des Völkerbunds (1920–1946) und der Vereinten Nationen (gegründet 1945) fanden.

    Ein spezielles Problem bildeten immer die ethnischen und religiösen Minderheiten, beziehungsweise die Frage, ob und inwieweit es vertretbar sei, ihnen Sonderrechte einzuräumen. Im Grunde ging es dabei um die Alternative «Zivilisierung» (bzw. Mission), das heißt Integration, oder «Toleranz», in welchen Grenzen auch immer.

    Heute, im Zeitalter der «Globalisierung», sehen wir uns auf der einen Seite zunehmend regionalen, ethnischen und religiösen Konflikten, lokalen Autonomie- oder Unabhängigkeitsbestrebungen, entsprechenden Vermittlungsbemühungen auf allen Ebenen, Appellen und Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, auf der anderen, im Innern, einer wachsenden Zahl von «Ethik-Kommissionen» in den verschiedensten Tätigkeitsbereichen gegenüber, die nur Ausdruck der Verunsicherung, ja Ratlosigkeit infolge der Zersetzung der überkommenen Wertesysteme in einer komplexer werdenden Welt sind.

    Woran sich also noch halten? Zwar gibt es Grundrechts- und Menschenrechtsdeklarationen, die in Verfassungen und internationalen Abkommen verbindlich festgelegt sind, doch bleibt ihre Begründung – moralphilosophisch, theologisch, oft selbst juristisch und nicht zuletzt kulturwissenschaftlich – anfechtbar. Gleichzeitig könnte, wie gesagt, keine Gesellschaft ohne ein funktionierendes, das heißt konsensfähiges System moralischer Grund- und Leitsätze längerhin überleben. Alles, ob Gegenstände, Verhaltenskonventionen,

    [16]

    Institutionen, Vorstellungen, religiöse Anschauungen oder selbst Naturerscheinungen, besitzt für den Menschen einen Wert, und die Verständigung darüber bestimmt das soziale Empfinden, Denken und Handeln, die Urteilsbildung und die Entscheidungen, nicht zuletzt in prekären, kritischen Situationen – aber verläßlich eben nur dann, wenn zumindest für die grundlegenden Werte wohldefinierte, plausible und möglichst allseits akzeptierte Begründungen vorliegen. Und wie im Innern unter den einzelnen, interessenspezifisch differenzierten Partialgruppen, gilt dasselbe auch für interethnische und internationale Beziehungen. Ein – wenigstens annähernd – konfliktfreies Miteinander setzt mithin den Rekurs auf mögliche gemeinmenschliche, das heißt generell begründbare moralische Grundwerte sowie die Verständigung darüber unter allen Beteiligten voraus. Die kognitiven Grundlagen dafür zu ermitteln und die daraus abzuleitenden praktischen Konsequenzen zu bestimmen, kann allein Aufgabe der vergleichenden Kulturwissenschaften, in letzter Instanz der Ethnologie sein.

    [17]

    2. Die Matrix der Moral

    Wer heute in einer Stadt lebt, macht sich nur kaum bewußt, daß diese Art Dasein lediglich die jüngste Phase in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit darstellt und gerademal seit rund 5000 Jahren besteht. Und in dieser vergleichsweise kurzen Zeit durchlief sie zudem noch eine Vielfalt von Formen – von Marktflecken über Residenz- und Hauptstädte ganzer Reiche, provinziale Verwaltungs-, Hafen- und Handelsstädte bis hin zu Industriemetropolen. Vor Entstehung der ersten städtischen Gemeinwesen lebten die Menschen jedoch, etwa ab 10 000 v. Chr., in Dörfern. Der um diese Zeit entwickelte Bodenbau, der erst eine längerfristig seßhafte Lebensweise ermöglichte und fortan die Existenzgrundlage der dörflichen Gemeinschaften bildete, breitete sich in der Folge von den Ursprungszentren in Anatolien und Vorderasien, Mesoamerika und den Anden zügig über den gesamten Mittelmeerraum, Europa, Asien, Ozeanien und weite Teile Nord-, Mittel- und Südamerikas aus, verdrängte dabei die ursprünglicheren prädatorischen (wild- und feldbeuterischen) Bevölkerungen in abgelegene insuläre Lagen oder an den Rand der Ökumene und prägte für Jahrtausende das Dasein der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen. Und da die Bedingungen der agrarischen Lebensweise bis auf geringfügige Anpassungsabweichungen je nach den Gegebenheiten der lokalen Umwelt im ganzen unverändert blieben, stimmte auch das Leben der dörflichen Gemeinschaften in den Grundzügen – der Sozialorganisation, Topographie, dem Güterbesitz, der Verhaltensetikette, der Vorstellungswelt, Religion usw. – weltweit überein, das heißt blieb universal von denselben Strukturkonstanten bestimmt. ¹⁴

    Gemeint sind dabei die «frühagrarischen», nicht «bäuerliche» Gesellschaften. Letztere existieren per definitionem in unmittelbarer Abhängigkeit von städtischen Zentren, das heißt waren seit Anbeginn integraler Bestandteil der Hochkulturen. Kennzeichnend für sie sind intensive Anbaumethoden auf Zerealienbaubasis (Gerste, Weizen, Hirse, Reis, Mais), kombiniert mit Klein- und Großviehhaltung (Geflügel, Ziege, Schaf, Schwein, Rind,

    [18]

    Büffel, Esel, Pferd). Ihr Leitgerät bildet – ursprünglich allein in den altweltlichen Bauernkulturen – der Pflug (Entstehung um 4500 v. Chr.), ergänzt durch Egge, Feldwalze und Dreschgeräte, die breitflächig allesamt nur mit Hilfe von Zugtieren einsetzbar waren, das heißt die Großviehhaltung (mit Heu- und Stallwirtschaft) zur Voraussetzung hatten. Zur Erhöhung der Ernteerträge dienten die Mist- und Gründüngung, artenreichere, komplexere Fruchtwechselwirtschaften und in ariden Gebieten teils hochentwickelte künstliche Bewässerungssysteme.

    In frühagrarischen Kulturen dagegen wurde (bzw. wird zum Teil noch) der Boden entweder mit Hacken (ursprünglich überwiegend für Afrika, Ostasien und Teile Indonesiens typisch) oder Grab- und Pflanzstöcken bearbeitet (ursprünglich überwiegend für Amerika und Ozeanien typisch), die sowohl zum Umbrechen der Felder als auch zum Stoßen von Löchern für die Aufnahme von Wurzelknollen, Stecklingen und Saatgut dienten. Der Anbau wurde extensiv, ohne besondere Ameliorationsverfahren, betrieben. Typologisch läßt er sich in den tropischen Dauerfeldbau in den Regenwäldern und den Saison- oder Regenzeitfeldbau in den Monsunwaldgebieten, Savannen und Steppen scheiden. Ersterer basierte zur Hauptsache auf dem Wurzelgemüse-, Knollenfrucht-, Staudenpflanzen- und Fruchtbaumanbau (Yams, Taro, Maniok, Batate; Palmen; Brotfrucht-, Mango- und andere fruchttragende Baumarten), letzterer in den feuchteren Gebieten ebenfalls noch, in den trockeneren dann zunehmend auf dem Zerealien- und (hausnahen) Gemüse- und Kräuteranbau (Hirsen, Reis, Mais; Hülsenfrüchte, Kürbis, Melone usw.). Der Betriebsform nach handelte es sich gewöhnlich um Landwechsel- beziehungsweise Brandrodungsfeldbau, in ariden Gebieten in Kombination mit (einfacher) Fruchtwechselwirtschaft (bzw. «Umlagefeldbau»). An Haustieren wurden kleinere Bestände von Schweinen, Ziegen, Schafen und Geflügel, seltener von Großvieh (Esel, Rinder, Büffel) gehalten.

    Konstituierend für frühagrarische Gesellschaften waren die folgenden Merkmale:

    Sie besaßen eine überschaubare Größe von durchschnittlich 80 bis 120 Mitgliedern, so daß sich das Verhalten aller unschwer koordinieren und durch die Öffentlichkeit und die obrigkeitlichen Instanzen kontrollieren ließ.

    Sie lebten bereits seit Generationen in ihrem Siedlungsbereich, so daß hinreichend Zeit bestand, sich an die gegebenen Verhältnisse anzupassen und entsprechende Erklärungskonzepte («Naturtheorien») dafür zu entwickeln.

    [19]

    Sie bezogen sich auf einen gemeinsamen Ursprung, beziehungsweise leiteten sich bei späterem Zuzug von einem gemeinsamen Ursprungsort her, das heißt erhoben den Anspruch auf Autochthonie.

    Entsprechend betrachteten sie sich als die legitimen Eigentümer des von ihnen besiedelten und in Kultur genommenen Landes, die insofern das alleinige Anrecht auf die Nutzung seiner Ressourcen besaßen.

    Sie gründeten ihre Zusammengehörigkeit und Koresidenz mehrheitlich auf unilineare, überwiegend patrilineare Abstammungsverwandtschaft, das heißt führten sich väterlicherseits auf einen gemeinsamen Urvorfahren oder Gründerheros zurück.

    Die elementaren Bindemechanismen bildeten das Reziprozitäts- und das Redistributionsgebot. Ersteres verpflichtete zum in der Regel kurzfristigen und möglichst äquivalenten Austausch von Gebrauchsgütern, Nahrungsmitteln, Arbeits- und Hilfeleistungen, Informationen und Zuwendung unter (annähernd) Gleichgestellten, letzteres regelte die längerfristigen Wechselverpflichtungen unter Ungleichgestellten: Eltern zogen ihre Kinder groß und wurden dafür im Alter von ihnen betreut; weniger Begüterte, unverschuldet Verarmte und Witwen halfen bei der Feldarbeit und im Haushalt der Bessergestellten und Oberhäupter aus, die sie dafür mitversorgten und in Notfällen unterstützten. Ahnen und Götter empfingen kultische Verehrung und Opfer und spendeten zum Dank dafür Segen, speziell Gesundheit, Kinderreichtum und ergiebige Ernten und erhielten zum Dank dafür Opfer und wurden zu allen – familiären wie öffentlichen – Feierlichkeiten eingeladen, geehrt, reichlich gespeist und beschenkt.

    Alle Mitglieder der Gesellschaft waren zu Solidarität und Friedfertigkeit verpflichtet. Entsprechend wurden Selbstsucht, mangelnde Hilfsbereitschaft, Mißgunst und Streitereien aufs strengste mißbilligt und durch Gerede, Ächtung, Isolation und im Extremfall Exkommunikation geahndet, beziehungsweise durch die Obrigkeiten und Ahnen (mittels Krankheit, Ernteeinbußen, Unfälle) bestraft.

    Frühagrarische Dorfgemeinschaften waren ökonomisch weitgehend autark und politisch autonom, das heißt nicht, wie Bauerngesellschaften, Teil eines Reiches oder Staats.

    Sie hegten in aller Regel die Überzeugung, die Nachkommen des ersterschaffenen Menschen zu sein, der sein Leben noch unmittelbar aus der Hand des Schöpfers empfangen hatte, und als erste von urzeitlichen, quasigöttlichen Kulturstifterheroen in der Zivilisation unterwiesen worden zu sein. Mithin besaßen sie nicht nur die älteste, sondern auch bestentwickelte, allen anderen überlegene Lebensweise und betrachteten sich

    [20]

    als das bevorzugte Volk Gottes (Elektionspostulat), als Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes. ¹⁵ Ihre Weltanschauung und Optik folgte daher strikt ethno-, beziehungsweise genauer: nostrozentrischen Kriterien.

    Die Folge von alledem war ein ebenso ausgeprägtes wie stabiles Identitätsbewußtsein. Als soziales Konstrukt läßt sich Identität indes nur empfinden und denken in der Gegenüberstellung und Abgrenzung von anderen Gruppen, in den Kategorien von Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit, von Vertrautheit und Alterität, von endosphärischer Binnen- und exosphärischer Außenwelt. Und daraus ergaben sich vor allem zwei Konsequenzen:

    1.  Das Identitätsbewußtsein muß, um als Orientierungsgröße, die es ja auch ist, verläßlich und von Bestand zu sein, durch wirksame Sekurierungsmechanismen im Innern konstant gehalten und nach außenhin vor exogenen, das heißt inkompatiblen und insofern potentiell zerstörerischen Einflußnahmen gefeit werden.

    2.  Das Identitätsbewußtsein muß, um der steten, bedrohlichen Herausforderung durch die Alterität der Außenwelt standhalten zu können, unanfechtbar auf die Überzeugung von der absoluten Suprematie der eigenen Gruppe und ihrer Kultur gegründet sein, woraus eben folgt, daß die Lebens- und Weltanschauung von den Prinzipien der nostrozentrischen Optik bestimmt wird.

    Aufgrund ihrer ebenso konstitutiven wie generellen Übereinstimmungen über Jahrzehntausende hin lassen sich frühagrarische Dorfgesellschaften als paradigmatische Standard- oder Modellgruppen der Ethnologie begreifen. Präzise bestimmt, geben sie eine tragfähige Grundlage ab, von der aus sich ebenso die «vorgängigen», ihnen gegenüber gewissermaßen noch unvollständig ausgebildeten prädatorischen, wie «nebengängige», durch radikale Anpassungsprozesse hochspezialisierte Formtypen, etwa pastorale (hirtennomadische) oder fahrende Handwerker- und Musikantengruppen, und nicht zuletzt auch die «nachgängigen», differenzierteren und komplexen, gleichsam hybriden Gesellschaftstypen der Stadt-, Hoch- und Überschichtungskulturen plausibel als «Sonderformen» bestimmen, begründen und erklären lassen.

    [21]

    Identitätsideologie, Suprematie- beziehungsweise Elektionspostulat (Nostrozentrismus) und Abgrenzung konstituieren zwangsläufig ein dualistisches Weltbild. Die eigene und die Fremdwelt erscheinen von unvereinbaren, antithetischen Qualitäten bestimmt. Beide sind miteinander unverträglich, stellen nichtintegrable Systeme dar. Während die eigene kleine, quasi insulare Endosphäre hell im Licht liegt, scheint der jenseits ihrer Peripherie unüberschaubar sich ausdehnende exosphärische Umraum in Dämmer, mit wachsender Entfernung vollends in Dunkel gehüllt. Frühagrarische Dorfgemeinschaften sahen sich so wie aufgehoben im Kern einer Kugelwelt. Die heimische Endosphäre, in der allein das Dasein optimal verwirklicht erschien, war rings, gleichsam hohlschalenförmig, von der exosphärischen Außenwelt umschlossen, die mit fortschreitender Ausdehnung zunehmend Züge ihres negativen Kontrastbildes annahm. Dem entsprach die nostrozentrische Optik: Was im Innern scheinbar rein symmetrische Strukturen besaß und als klar konturiert, wohlgeformt, schön und vollkommen geartet wahrgemommen wurde, konnte nach draußen zu nur krumm, verbogen, gebrochen, häßlich und mißgeartet oder «wild» erscheinen. Der Boden dort war etwa sumpfig oder karstig und unfruchtbar; er trug unverdauliche, giftige Pflanzen und beheimatete bösartige Dämonen, gefährliche Raubtiere und kannibalische Monsterkreaturen. Die «Menschen», die in der Außenwelt lebten, hielt man, je nach der einen oder anderen Überlieferungsversion, entweder für Nachfahren verunglückter Schöpfungsversuche oder mißratene Abkömmlinge des gemeinsamen Urpaares, die nach dem Sündenfall auf Abwege geraten waren und nicht mehr teil am Zivilisierungsprozeß der eigenen, geradlinig wandelnden Vorfahren im Zentrum der Welt gehabt hatten und daher mehr oder weniger «ungehobelt», fast noch wie wilde Tiere gleichsam vor sich hin vegetierten. Da auch die Weißen, dem nostrozentrischen Weltbild der «farbigen» Völker entsprechend, in den peripheren Bereichen des Erdenrunds beheimatet waren, nahm man sie ebenfalls als ungeratene Wilde wahr. Den Trobriand-Insulanern in Melanesien mißfielen an ihnen die blasse, fleckige Haut, die dünnen Lippen, die Augen, die sie mit Wasserpfützen, und vor allem die scharfen Nasen, die sie mit Axtklingen verglichen. ¹⁶ Ein Oberhaupt der Pueblo-Indianer von Taos im Südwesten der USA beschrieb sie dem bekannten Psychologen Carl Gustav Jung gegenüber auf ähnlich unschmeichelhafte Weise: «Ihre Gesichter sind von Falten durchfurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blick, sie suchen immer etwas […] sind immer unruhig und rastlos. Sie wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, daß sie verrückt

    [22]

    sind.» ¹⁷ Chamula in der mexikanischen Provinz Chiapas fragten den amerikanischen Ethnologen Gary Gossen, ob die Menschen in seiner Heimat, die auch ihrer Vorstellung nach am Ende der Welt lag, so daß dort noch recht urtümliche Verhältnisse herrschen mußten, einander beißen und auffressen würden. ¹⁸ Ob farbig oder weiß – wer in der Außenwelt lebte, wurde nicht mehr als Mensch im eigentlichen Sinne begriffen. Man konnte in ihm und seinesgleichen nur physisch und psychisch zurückgebliebene, abartige, gleichsam verkrüppelte «Menschlinge» sehen.

    Entsprechend vollkommen dünkten sich die Angehörigen des je eigenen Ethnos. Die Begründung dafür lieferte der Mythos. Eine der meist gängigen Versionen besagte, daß man entweder vom erst- oder zuletzt, nach mehreren mißlungenen Versuchen des Schöpfers, vollendet erschaffenen Menschen abstamme, die andere, daß die frühen Nachfahren des Urpaares, nachdem sie, vom «Trickster» (einer Art uranfänglichem Gegengott) verleitet, wichtige Gebote Gottes verletzt hatten, zur Strafe aus dem noch himmelsnahen Paradies auf die Erde verstoßen worden waren, dort aber immerhin den zentralen Bereich zugewiesen erhielten, in dem die besten Lebensbedingungen herrschten, da sich hier der Schöpfer die größte Mühe gemacht und sein Werk zu seiner vollen Zufriedenheit abgeschlossen hatte. Um seinen Geschöpfen in diesem Fall, hilflos und unbehaust, wie sie waren, noch eine letzte Chance zu geben, hatte er ihnen dann – und nur ihnen – die Kulturstifterheroen gesandt, die sie in den Regeln eines geordneten und verträglichen Zusammenlebens, den Techniken der Gebrauchsgüterfertigung, im Bodenbau und allem anderen zu einem zivilisierten Dasein Erforderlichen unterwiesen. Infolgedessen durften sie mit Recht den Anspruch erheben, als einzige unter allen Menschen vollkommen beschaffen zu sein, in einer vollkommen beschaffenen, das heißt immerhin noch quasiparadiesischen Umwelt zu leben und eine vollkommen beschaffene Kultur zu besitzen – kurz: Sie konnten sich als das auserwählte Volk Gottes begreifen; an ihnen und ihrer «Art» mußten sich alle anderen Völker messen lassen.

    Daraus folgte, daß auch ihre moralischen Normen, durch die Setzungen der Kulturstifterheroen unanfechtbar legitimiert, den höchsten Idealen genügten, das heißt absolute Gültigkeit besaßen. Allerdings nur, solange man man sich strikt an die Vorgaben der Überlieferung hielt und exakt traditionskonform lebte. «Die Moral», resümiert der australische Ethnologe Ian Hogbin die Auffassung der Wogeo-Insulaner (Neuguinea) dazu, «wird nicht als richtig akzeptiert aufgrund rationaler oder logischer Kriterien,

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    sondern weil sie dem entspricht, was die Kulturstifterheroen als korrektes Verhalten festsetzten, bevor die Geschichte begann.» ¹⁹ Die eigene Gesellschaft wurde als Rechtsraum schlechthin begriffen; sie bildete eine geschlossene «moral community». ²⁰ Entsprechend verhielt man sich «moralisch integer, wenn man den normativen Erwartungen der eigenen Gruppe gerecht wurde». ²¹ Folgten alle getreulich den grundlegenden Wechselverpflichtungen der Reziprozität und Redistribution, konnte man einander blindlings vertrauen, genügten gewissermaßen ein Blick oder Händedruck zur Bestätigung eines Versprechens ²² und durfte man sich, zumindest dem Ideal nach, in dem Empfinden wiegen, sicher geborgen in einer quasiparadiesischen Friedenswelt zu leben.

    Doch betraf dies in vollem Maß nur den Kern der Gesellschaft. Zur Peripherie hin lockerten sich die Bande der Verbindlichkeiten, lösten sich die Kohäsionskräfte zunehmend auf «gleich den Spritzern eines Kleckses, je weiter die Kreise werden». ²³ Die Verkehrung der Werte konnte bereits in den nächsten Nachbardörfern beginnen, deren Bewohner noch dem eigenen Ethnos angehörten. Ihre Manieren begegneten ernsten Bedenken, da sie grundsätzlich für weniger entwickelt und zivilisiert, für unwissend, verlogen, grob und ungepflegt galten. Oft verdächtigte man sie einer laxen Sexualmoral, ja selbst der schlimmsten Verirrungen, wie des Inzests und der Sodomie ²⁴, die eben typische Zeichen sozialer Bindungslosigkeit waren. Da es sich um eine universale Einstellung handelt, ließen sich beliebig viele Beispiele aus aller Welt dafür anführen. Die Lele am mittleren Kasai (Kongo) behaupteten so etwa von den ihnen benachbarten Nkutu, sie würden sich weder waschen noch ihre Schwiegermütter meiden; ihre Frauen seien unziemlich und geschmacklos gekleidet und ihre Speisen zum Erbrechen. ²⁵

    Fremden gegenüber war generell Mißtrauen geboten ²⁶; besser, man blieb auf Distanz. Abmachungen mit ihnen brauchte man nicht unbedingt für verbindlich zu halten, zumal wenn die andere Seite die Vereinbarung durch einen Eid auf ihre Ahnen oder Götter beschworen hatte. ²⁷ Pflichtverletzungen, Vergehen und erst recht Gewaltdelikte, innerhalb der eigenen

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    Gesellschaft aufs strengste verpönt ²⁸, fanden Fremden gegenüber keinerlei Mißbilligung, ja eher Lob und

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