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Egg bei Zürich früher und heute
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eBook536 Seiten3 Stunden

Egg bei Zürich früher und heute

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Über dieses E-Book

Die vorliegende Ortsgeschichte illustriert in zehn Kapiteln das Wachstum einer Gemeinde am schweizerischen Pfannenstiel zwischen Zürich- und Greifensee. Ihre Bevölkerungszahl hat sich in den letzten 90 Jahren beinahe vervierfacht:
Das idyllische Bauerndorf, von riesigen Hochstamm-Obstbaumgärten eingerahmt, droht zur Agglomeration und anonymen Schlafstadt zu werden. Die Behörden haben Mühe, trotz Umfahrungsstraße den stark zunehmenden Autoverkehr durch das Dorf zu lenken.
Immer mehr altes Brauchtum verschwindet, Glockengeläute wird als Lärmbelästigung empfunden und zum Schweigen gebracht, während Openairs und Discos, Motore- und Partybeschallung zum Alltag gehören.
Besonders rasant und trotzdem von vielen Menschen kaum realisiert, ist die Entwicklung seit den 50er Jahren vom Bauern- zum Benzindorf in der Landwirtschaft. Das Lied "Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt" ist längst verklungen. Der Landwirt hat sein Werkzeug aus der Hand gegeben, er glaubt, mit seinen schweren Maschinen die Natur zu beherrschen, entfernt sich immer mehr von ihr, ist zum Mechaniker und Chemiker geworden.
Bilder einer Ortsgeschichte mit Aussagekraft und Verflechtung über die Landesgrenzen hinaus, Texte, die zum Staunen, Lächeln und Nachdenken über die "Gute alte Zeit" und den fortschrittsgläubigen Menschen anregen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum20. Okt. 2014
ISBN9783735704245
Egg bei Zürich früher und heute
Autor

Heinrich Müller

Heinrich Müller, geb. 1943, in Rickenbach ZH aufgewachsen, erwarb nach der Maturität an der Kantonsschule Winterthur am Oberseminar Zürich 1963 das Primarlehrerpatent. 1965 heiratete er Esther Kellenberger (2 Kinder). In Egg am Pfannenstiel unterrichtete er während 19 Jahren die 4. - 6. Klasse. 1982 übernahm er als Leiter die private Tagesschule am Zeltweg für körperbehinderte Jugendliche (10. - 12. Schuljahr). Zur Weiterbildung besuchte Heinrich Müller den berufsbegleitenden Kurs am Heilpädagogischen Seminar Zürich und studierte in der Akad französische Literatur. 1994 erkrankte er an Morbus Parkinson und musste fünf Jahre später den Schuldienst aufgeben. Seither befasst er sich vor allem mit der Ortsgeschiche von Egg ZH, wo er 36 Jahre lang mit seiner Familie gelebt hatte. Daneben verfasst er Artikel für das "drü-egg" und den Heimatspiegel des Zürcher Oberländers. Erschienen: Ortsgeschichte von Egg ZH 1978 175 Jahre FEG Wetzikon 1994 Chilebuech Egg 2008 Egg bei Zürich früher und heute 2014 Im Januar 2014 erhielt er den "Egger Handdruck" für besondere kulturelle Verdienste.

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    Buchvorschau

    Egg bei Zürich früher und heute - Heinrich Müller

    Literaturverzeichnis

    I Alte Leute erzählen

    Die meisten alten und vor allem alleinstehenden Leute haben gerne Besuch und erzählen mit Leidenschaft aus ihrem bewegten Leben und vergangenen Zeiten. Es ist interessant, ihnen dabei Fragen zu stellen oder einfach zuzuhören.

    Darum habe ich mir mit Setty Meier aus der Lurwies zusammen die Aufgabe gestellt, während unserer Tätigkeit in der Natur- und Heimatschutz-Kommission des Gemeinderats von Egg betagte Menschen zu interviewen.¹

    Bei den ausgewählten Beispielen sind die Themen Politik, Kinderarbeit am Webstuhl, Schule, Landwirtschaft und altes Handwerk berücksichtigt.

    Esslingen 1930: Idyllischer Weiler umgeben von Hochstamm-Obstbäumen und Naturwiesen (oben Mitte das alte Schulhaus, Mitte links das Postgebäude) Bild 003

    Lassen wir uns also die Augen öffnen und über die Verhältnisse im frühen 20. Jh. staunen, aber auch mit der heutigen Zeit und unserem Wohlstand vergleichen, wenn wir die aufschlussreichen Berichte lesen:

    vom verdienstvollen Puure-Kantonsrat Heinrich Kunz,

    von Verdingkind und Seidenweberin Ida Isler,

    vom legendären Primarlehrer Fritz Bertschinger,

    vom bodenständigen Löwenwirt Ernst Vontobel,

    von Landwirt und Fuhrmann Johannes Hotz

    und dem geselligen Schmiedemeister Ernst Kellenberger.

    1 Heinrich Kunz 1902 Esslingen

    Es isch guet, dass es immer wieder Zyt git, meinte der Puure-Kantonsrat Heinrich Kunz weise lächelnd, me mues sich halt Zyt nää, alles anderi isch ugsund! Nur die schweren Hände verraten den Bauern, der einmal 17 Ämter auf einmal innehatte und dabei ein Bauerngut mit 17 Hektaren Land bewirtschaftete.

    An die Zivilgemeinde-Versammlungen erinnert sich Heinrich Kunz gerne als Ort der Begegnung, wo der Einzelne noch wagte, seine Meinung zu sagen.

    17 Ämter

    Nach dem Besuch der Sekundar- und Landwirtschaftlichen Schule wurde er als 26-jähriger 1928 in die Schulpflege gewählt. Zwei Jahre später übernahm er das Schulgut, das er während 20 Jahren betreute (Entschädigung 250 Fr. jährlich).

    1932 wurde er kantonaler Geschworener und 1937 Präsident der Bezirksschulpflege. 1939 wählte man Heinrich Kunz als Laienrichter ans Bezirksgericht Uster, dessen Vizepräsident er bis 1954 war.

    Während zwei Amtsperioden war Heinrich Kunz im Kantonsrat tätig (1943-51), und im Gemeinderat (1946) als Präsident von Armenpflege und Feuerwehr. Ausserdem verwaltete er das Mietamt (Schlichtungsstelle für Mieter), was schon damals eine sehr heikle Aufgabe war.

    Fünf Schulpräsidenten (vl): Urs Coradi, Hans Wieler, Heinrich Kunz, Albert Stettbacher, Walter Beck.

    Sie prägten die Geschichte der Schule des 20 Jh. Bild 004

    Im Spital

    Heinrich Kunz arbeitete auch als Präsident der Gemeinnützigen Gesellschaften des Bezirks Uster, der Schulpflege Egg und der Bezirkspartei. In der Aufsichtskommission der Spitäler Winterthur und Zürich und in der Jugendkommission setzte er sich vor allem für Gerechtigkeit ein:

    Was mached er au da, die Patiänte müend ja Comfitüüre wie Wageschmieri ässe! schimpfte Heinrich Kunz bei einem seiner Spitalbesuche. Es isch dänn a de nächschte Sitzig zur Spraach choo, und vo da a hät’s besseret!

    Und an die fürchterliche Unordnung im Sezierraum erinnert er sich mit Unbehagen:

    Lunge und Läbere sind da umegläge, und bim Iiträtte hät’s gheisse: Passed dänn uuf!

    Doch nicht etwa eine Schwelle oder ein Tritt waren gemeint, sondern eine am Boden liegende Leiche erschwerte den Zugang.

    Auch die rabiaten Kontroll-Untersuchungsmethoden an einem der Spitäler verletzten seinen Gerechtigkeitssinn. Nachdem er sich selber in die Reihe der Patienten gestellt und die grobe Behandlung über sich hatte ergehen lassen, sorgte er dafür, dass de säb beförderet worde isch, und zwar hindersi!

    Verkehrsverein

    Mit wenigen Worten hatte Heinrich Kunz seinen äusserst vielfältigen Tätigkeitsbereich geschildert, zu dem auch das Amt des Schätzungsobmanns in den Bezirken Uster, Hinwil und Pfäffikon, des Vizepräsidenten vom Feldschützen-Verein Esslingen und des Präsidenten vom Verkehrsverein gehörten. Ich wott kä grosses Wääse mache, meinte er bescheiden.

    Mit Freude erinnert er sich an die Herausgabe der Relief- und Panoramakarte vom Pfannenstiel durch den Verkehrsverein, der von Pfarrer Albert Baumann präsidiert wurde, und an die Eröffnung der Egger Badi am Greifensee, für die sich die Ärzte Spörri und Zollinger sowie Sekundarlehrer Hans Schaad tatkräftig eingesetzt hatten.

    In selbstloser Weise betreuten die Lehrer Fritz Bertschinger und Robert Dübendorfer den Höhenweg am Pfannenstiel, und Heinrich Kunz bedauerte es aufrichtig, dass der Verkehrsverein 1974 wegen Interesselosigkeit aufgelöst werden musste.

    Das Schulhaus Pfannenstiel

    Schulpfleger Kunz setzte sich für die Einführung des Schulzahnärztlichen Dienstes ein, wobei Ende der 40er Jahre ein Abkommen mit Ustermer Zahnärzten getroffen werden konnte, da es in Egg noch keinen Zahnarzt gab.

    Die häufig auftretenden Kröpfe bei Schulkindern stammten, so wurde jedenfalls behauptet, vom kalkhaltigen Pfannenstiel-Quellwasser. Man behandelte diese Missbildungen mit Jodsalz.

    Hauptaufgaben jedoch sah er im Erweiterungsbau für die Arbeitsschule in Hinteregg (1933) und vor allem im Egger Neubau mit Turnhalle (heute Schulhaus Pfannenstiel) von 1941, der trotz prekärer finanzieller und politischer Lage zustande kam.

    Schulhaus Pfannenstiel 1941/42: Hort edler Charakter- und Vertrauensbildung und Jungbrunnen für die Gesundheit unserer Jugend! Bild 005

    Wir wollen hoffen, das neue Schulhaus werde zu einem Hort edler Charakter-und Vertrauensbildung und die schöne Turnhalle zu einem Jungbrunnen für die Gesundheit unserer Jugend, unserer Kinder und Kindeskinder, zum Wohle unserer Gemeinde, unseres Volkes und unseres lieben Vaterlandes, schrieb Heinrich Kunz als Präsident der Baukommission im Vorwort zur Festschrift für die Schulhaus-Einweihung. Das alte Schulhaus wurde durch die politische Gemeinde angekauft und für 40’000 Fr. zum Gemeindehaus umgebaut.

    Ihre Rechnungen brachten die Handwerker früher jeweils am Jahresende ins Haus, wo sie bei Kaffee und Schnaps beglichen wurden. Otto Bernhauser verlangte beispielsweise für die Erstellung einer Waschtrog-Anlage im Schulhaus Egg 211 Franken, Schreiner Schaufelberger für die Lieferung von Schulbänken je 87 Franken und Malermeister Jakob Bänziger für den Neu-Anstrich eines Schulzimmers 464.40 Fr. (258 Quadratmeter à 1.80 Franken).

    Es paar Müschterli

    Als Heinrich Kunz vom Bäcker im Haus von Paul Bodmer erzählte, huschte ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht. Dieser Bäcker pflegte, wenn er schlechten Wähenteig zum Backen erhielt, einen Häizitraat einzubauen!

    (Draht zum Binden von Reisigbündeln: Buurdene, Wädele)

    Heinrich Kunz weiss noch andere Müschterli zu erzählen:

    Adolf Bodmer hätte etwas Mühe mit den Fremdwörtern gehabt und ihn einmal nach dem Chalberen gefragt: Müe mer ächt desinfiziere, dass es kei Konfäktion git? Und nach dem Beruf seiner Tochter gefragt, meinte er: Sie gaat uf Uschter und macht Konfässion!

    August Sieber rächte sich auf seine Art und Weise beim Polizisten Wehrli für eine Busse für verbotenes Fischen im Esslingerbach: Er telefonierte dem Polizisten nämlich eines Tages, er müsse sofort kommen, es fische wieder jemand im Tobel. Als der Polizist ausser Atem in Esslingen ankam, bemerkte er den Übeltäter: Es war einer der damals zahlreichen Störche, der sich im Bach seine Mahlzeit suchte!

    Von der Uster-Oetwil-Bahn

    Me mues de Schirm uftue, wänns rägnet, behauptete man von der Uster-Oetwil-Bahn, die 1949 ihren Betrieb einstellte. Damals sangen die Esslinger Schüler:

    "Zum letschte Maal faart euses Bäändli hüt,

    s’heisst Abschied näh, s’chunnt halt en andri Zyt,

    wo alls pressiert und jagt und rännt,

    und wo mer Gmüetlichkeit bald nüme kännt.

    Drum schlaat hüt eusem Bäändli d’Abschiedsstund,

    mir aber rüefed usem tüüfschte Herzesgrund:

    Liebs Bäändli, mir vergässed dich nöd gschwind,

    mir händ dich gern ghaa, grossi Lüüt und Chind!"*

    Die Wagen wurden zum Teil an andere Bahnen verkauft oder als Hühnerhäuschen aufgestellt. Ein Witzbold hatte vorgeschlagen, die Wagen der Firma Wander als Ovomaltine-Schüttelbecher zu verkaufen.

    Heinrich Kunz wirkte im Verwaltungsrat der Uster-Oetwil-Bahn als Nachfolger des Egger Gemeinde-Ammanns Abraham Strehler.

    Irrtümlicherweise war vom verstorbenen statt vom abtretenden Mitglied berichtet worden, worauf die Zürichsee-Zeitung eine Korrespondenzkarte mit freundlichem Gruss von Abraham Strehler aus dem Jenseits erhielt.

    Abschied von der Uster-Oetwil-Bahn beim Bahnhof Esslingen 1949: Ein Witzbold hatte vorgeschlagen, die Wagen der Firma Wander als Ovomaltine-Schüttelbecher zu verkaufen! Bild 006

    Dr. Schröder, der Direktor der Seidenweberei in Egg, war einer der ersten Automobilisten unserer Gemeinde. Offenbar hatte er immer wieder Mühe mit der Beherrschung seines Vehikels, überraschte er doch damit den Männerchor Esslingen beim Ständchensingen vor dem Freihof auf ziemlich unsanfte Art (Er hät es paar vonene debock gfaare!).

    En suure Chäib

    Auf die Qualität des Drittenberger Weines angesprochen, meinte Heinrich Kunz, ein Magenleidender (Magenerweiterung) hätte vom Arzt den Ratschlag erhalten: Trink emaal en Ruusch vo däm suure chäibe Wii, dänn ziet’s der de Mage scho zäme!

    65 Bewerbungen

    Und schmunzelnd erinnert sich Heinrich Kunz an seine Tätigkeit als Einzelrichter: Ein keifendes Küfer-Ehepaar aus dem Hotzenstock suchte ihn eines Tages auf, um sich scheiden zu lassen. Der Ehemann, zum dritten Mal verheiratet, hatte auf sein Inserat hin 65 Bewerbungen erhalten und ausgerechnet die Schlimmscht verwütscht. Die Frau warf ihrem Gatten Geiz vor, weil er ihr nicht einmal Geld für ein Gebiss geben wollte mit der Begründung:

    Im Chaschte ine isch das vo de zweite, chasch ja säb nää!

    Heinrich Kunz wüsste noch viel zu erzählen, etwa vom Ööler Chäpper, vom Seckelmäischter-Häiri, vom Jeger Ruedi oder vom Säbel seines Grossvaters mit der Inschrift: Für Gott und Vaterland, Sonderbundskrieg 1847, vom Stündler-Tirigänt Hofme i de Uferstehig, der als erster Hüttenpräsident die Milch mit Ross und Federwagen nach Esslingen brachte, jedoch oft ohne Milchkannen hier ankam oder von seinem Kantonsratskollegen und Musikgründer Ernst Ribary, der zu seinem mächtigen Kropf meinte:

    Das isch s’einzig, woni uf d’Siite praacht han!

    Doch es war Zeit zum Aufbruch, der Nachmittag war im Nu vergangen. Vilicht äs anders Maal, vertröstet mich der 77-jährige Puure-Kantonsrat Heinrich Kunz.

    Der geehrte Puure-Kantonsrat Heinrich Kunz:

    17 Ämter und ein Bauerngut mit 17 ha Land! Bild 007

    2 Ida Isler-Kunz 1882 Egg

    "Meine Jugendzeit war schön, obschon ich manches entbehren musste, was mir als Kind nicht zum Bewusstsein kam.

    Hungernde Mäuler

    Unser Vater starb mit 38 Jahren. Die Mutter verheiratete sich zum zweiten Mal, mit Kaminfeger Suremann aus Mönchaltorf. Als sich aus der zweiten Ehe Nachwuchs meldete, waren wir drei Geschwister als hungernde Mäuler nicht mehr erwünscht und wurden auseinander gerissen. Die Gemeinde bezahlte für uns das Kostgeld.

    Im Jahr 1889 kam ich nach Hinteregg zu Familie Schmied. Es waren arme, aber sehr gütige Leute. Von reichen Leuten wurden die Verdingkinder nicht aufgenommen, denn das Kostgeld betrug damals nur 2.50 Fr. pro Woche. Nach drei Jahren starben meine alten Pflege-Eltern.

    Im Lesirain

    Mein neues Heim war im Lesirain bei Familie Stiefel. Anfänglich ging noch alles gut. Frau Stiefel arbeitete am Webstuhl. Es war feine Seidenweberei. Nach und nach ging aber die Arbeit zurück: Frau Stiefel bekam keine Aufträge mehr, und der Ertrag von der Landwirtschaft war gering.

    Im Stall standen eine Ziege und eine Kuh. Es war schon ein richtiges Freudenfest, wenn es einmal zum Znacht Magerkäse und Ruchbrot mit Most gab. Den Käse holte ich in der Lurwies, wo eine Sennhütte stand.

    Ein Pfund Magerkäse kostete damals 35, das Pfund Butter 75, und ein Vier-Pfund-Ruchbrot 50 Rappen. Ein Paar Kinderschuhe erhielt man für acht Franken. Es war für mich eine Freude, wenn ich in die Lurwies gehen konnte. Die rundliche Frau Meier war sehr gütig, meistens schnitt sie für mich ein Stück Brot ab, immer schaute ich gespannt, wenn die Scheibe abgeschnitten wurde, wie dick sie würde.

    Fabrikarbeiterin Ida Isler vom Lesirain 1918: Arbeitete als 14-jährige von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr abends für 11 Rappen pro Stunde. Das Wasser trug ich bis 1947 vom Brunnen ins Haus. Bild 008

    11 Rappen pro Stunde

    Ich half schon mitverdienen, indem ich bei Familie Städeli im Lätten für Haushalt- und Feldarbeit einen Taglohn von 1 Franken erhielt. Frau Stiefel bekam alle vier Wochen den Lohn, welcher kaum reichte, um das Brot bei Bäckermeister Schneider von Mönchaltorf zu bezahlen.

    An meinem 14. Geburtstag betrat ich zum ersten Mal die Seidenfabrik Schröder. Mein Lohn betrug damals 11 Rappen pro Stunde. Arbeitsbeginn war um 6 Uhr und Feierabend um 19 Uhr. Es gab sehr strenge Winter, in denen mir der Schnee bis zu den Knien kam, wenn ich morgens zur Arbeit ging.

    Es güetigs Jümpferli

    Als dann eine junge Frau ins Haus der Familie Stiefel einzog, änderte sich vieles für mich. Darum riss ich aus und zog zu Barbara Äberli nach Hinteregg.

    Das war die Schwester von Frau Schmied, meiner ersten Pflegemutter. Das gütige Jümpferli wurde überall Bääbe genannt. Bei ihr verbrachte ich zwei schöne Jahre. Um die Haushalt-Arbeiten zu erlernen, kam ich zu Landschreiber Epprecht nach Schlieren. Über meine Jugend will ich mich nicht beklagen.

    Hinteregg 1910: Links das Restaurant Frieden, die alte Schmiede und das „Grütli", rechts das Gasthaus Sternen und die Bäckerei Zollinger. Bild 009

    Beim Brennholz sammeln

    Als ich mich verheiratet hatte, zogen wir nach Egg in das Haus von Familie Bleibler. Weiterhin ging ich in die Fabrik, auch als sich die beiden Söhne eingefunden hatten. Arbeit gab es immer genug. Für die warme Stube holte ich mit meinem Leiterwägeli das Holz im Berg. Damals musste das Holz noch gesucht werden, heute liegt es überall herum.

    Ohne Holzerkarte hatte früher niemand das Recht, Holz zu suchen; ausserdem war es nur an bestimmten Tagen erlaubt. Wagte jemand zu Unzeiten Holz zu sammeln und wurde dabei erwischt, so leerte der Förster den Karren aus und nahm das gesammelte Holz nach Hause.

    Der einzige Schmuck

    Wasser und Licht gab es noch nicht. Mein Mann war wie ich sehr arm. Wir buken aber trotzdem an Weihnachten, Ostern oder an der Fasnacht Chüechli, Nussweggen und Zöpfe. In unserem neuen Heim trug ich das Wasser von 1921 bis 1947 vom Brunnen ins Haus.

    Der Sonntag war für mich ein Arbeitstag wie jeder andere. Neben den vier Aren Garten strickte ich viel, die Arbeit ging mir nie aus. Abwechslungen habe ich kaum gekannt.

    Einmal reiste ich mit der Fabrik auf die Rigi. Sonst habe ich für mich keinen Franken ausgegeben. Mein einziger Schmuck war mein Ehering, der durch das viele Arbeiten so dünn wurde, dass er brach. Eine Uhr habe ich nie besessen. Nach meinem 63. Geburtstag beharrte mein Mann darauf, dass ich die Fabrikarbeit aufgebe.

    Die Krisenjahre brachten uns zusätzliche Einschränkungen, und mein Mann verlor seinen Arbeitsplatz. Als Bauhandlanger bei der Firma Dätwieler in Uetikon half er dann mit beim Bau des Krankenhauses Neumünster.

    Anfänglich war die Umstellung vom Weber zum Bauhandlanger hart. Es war darum für uns eine grosse Freude, als Frau Mathilde Büttner meinen Mann in ihrem Betrieb einstellte. Abgesehen vom besseren Lohn brauchte er nicht mehr nach Uetikon zu fahren.

    Trotz meinem harten, entbehrungsreichen Leben bin ich alt geworden. Mein Mann starb nach dreijähriger Leidenszeit im 77. Altersjahr.

    Wenn ich hier im Bett liege, brauche ich mir wegen des Geldes keine Sorgen zu machen. Zum Glück gibt es die AHV. Zur Abwechslung stricke ich Socken; ich arbeite wieder an einem Paar: Vielleicht gelingt es mir noch, dasselbe fertig zu stricken."²

    Seidenfabrik Schroeder & Co.

    Ida Isler hat die ganze Entwicklung der Seidenfabrik Schroeder & Co. an der Forchstrasse unterhalb Egg (heute Mehrfamilienhaus-Quartier Pelicano) als Weberin miterlebt.

    Seidenfabrik Schroeder & Co: In der dreistöckigen, 1875 für rund 70’000 Fr. erstellten Fabrik wurden 120 Handwebstühle und 132 mechanische Seidenwebstühle durch eine 15 PS-Dampfmaschine angetrieben. Bild 010

    Schon am Ende des 16. Jh. stand unter den Gewerben der Schweiz die Textilindustrie an erster Stelle. Um ihres Glaubens willen vertriebene Flüchtlinge aus dem Tessin und Norditalien sowie ein Flüchtlingsstrom verfolgter Hugenotten aus Frankreich fanden in den zahlreichen Webereien und Spinnereien willkommene Arbeit und Verdienst. Handelsherren und Firmenbesitzer aus der Stadt, z. B. die Muralt und Orelli kamen auf die Idee, die zunehmende Arbeit auch auswärts zu vergeben, sodass die Baumwoll- und Seidenindustrie bald zu einer wichtigen Einkommensquelle der Landbevölkerung wurde, und das Zürcher Oberland zu den am stärksten heimindustrialisierten Gebieten Europas zählte.

    Weberin bei der Heimarbeit Bild 011

    Weber und Spinner

    Allein im winzigen Esslingen verzeichnete man im Jahr 1787 gemäss Angaben der Obervogtei Stäfa 93 Mousselinweber, 119 Spinner und 73 Indienne-Stühle (Wälli S. 208).

    Die folgende Tabelle zeigt den prozentualen Anteil der Heimarbeiter in den Gemeinden unserer Region 1790:

    Reichlicher Verdienst

    Und im beginnenden 19. Jh. hielt auch die Seidenweberei ihren Einzug im Zürcher Oberland: Kaum ein Dutzend der Bauernhäuser war, in denen kein Webstuhl stand. Man mochte in jenen Jahren zum See oder nach Zürich wandern, stets traf man Gemeindsgenossen, die mit dem Seidenwupp zum Ferggen" (fertig gestellte Heimarbeit zum Abliefern) dahinzogen, oder mit neuer Arbeit von dort zurückkehrten.

    Das waren Tage reichlichen Verdienstes, Tage der Fülle und des Überflusses, und manch Einer gedenkt heute mit Sehnsucht jener Zeit und wünscht ihre Wiederkehr, wie Israel in der Wüste die der Fleischtöpfe Ägyptens", berichtet Pfarrer Johann Jakob Wälli.

    Kontinentalsperre, Missernten, Hunger und Armut

    Umso grösser war der Schock, als der französische Kaiser Napoleon I. 1806 durch die Kontinentalsperre und 1810 deren Verschärfung das Wachstum der einheimischen Textilindustrie stark behinderte (Wirtschaftsblockade des europäischen Kontinents gegen Grossbritannien und Einfuhrverbot für Baumwolle). Durch Napoleons Massnahmen gerieten manche Unternehmen in Konkurs, und viele der rund 200'000 arbeitslosen Weber wanderten aus der Schweiz aus.

    Ausserdem waren seit 1812 die Winter sehr hart, und Asche und Staubwolken eines indonesischen Vulkanausbruchs sorgten 1815 während 18 Monaten für kaltes Wetter. Der Winter 1815/16 hatte sehr viel Schnee gebracht, und auch der Sommer blieb so kühl und nass, dass 1816 als das Jahr ohne Sommer in die Geschichte einging. Zahlreiche katastrophale Missernten führten zu Hunger, Elend und Massenarmut, die um 1840 ihren Höhepunkt erreichten. Gedörrte Kartoffelschalen mit Wasser abgekocht dienten als Suppe, zermahlene Knochen, Blut oder Tierhäute hielt man für gute Nahrungsmittel, Hunde und Katzen galten als Leckerbissen, und der Genuss von Knorpel vermochte die schlimmsten Magenschmerzen zu lindern. Diese Mangelernährung führte zu gelblichem Aussehen, Hautkrankheiten, Geschwüren, geschwollenen Füssen und frühem Tod.

    Kinderarbeit in Egg

    1815 führten Zürich und Thurgau das erste Fabrikgesetz ein, das eine Beschränkung der Arbeitszeit für Kinder enthielt: Verbot der Kinderarbeit unter 10 Jahren, Begrenzung auf 12 Stunden und Arbeitsbeginn im Sommer nicht vor 5 Uhr, im Winter nicht vor 6 Uhr.

    Das erste eidgenössische Gesetz wurde erst 1877 erlassen: 11-Stunden-Tag, starke Einschränkungen bei Nacht- und Sonntagsarbeit und das generelle Verbot von Kinderarbeit unter 14 Jahren.

    Die Maschinenweberei Corrodi & Pfister hatte 1831

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