Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Gesellschaft der Zukunft: 38 Ideen für Neues
Gesellschaft der Zukunft: 38 Ideen für Neues
Gesellschaft der Zukunft: 38 Ideen für Neues
eBook349 Seiten4 Stunden

Gesellschaft der Zukunft: 38 Ideen für Neues

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

38 Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens stellen sich zum 70. Geburtstag von Thomas de Maizière der Frage: Wenn ich eine Sache in Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft ändern könnte, was wäre das?
So entstehen offene und nachdenkliche Essays über zentrale Themen unserer Zeit.
Mit Beiträgen von Ralph Brinkhaus, Ulrike Demmer, Kirsten Fehrs, Sigmar Gabriel, Serap Güler, Emily Haber, Stephan Harbarth, Dunja Hayali, Christoph Heusgen, Timotheus Höttges, Wolfgang Holler, Wolfgang Huber, Michael Ilgner, Karl-Ludwig Kley, Ilko-Sascha Kowalczuk, Annegret Kramp-Karrenbauer, Michael Kretschmer, Norbert Lammert, Nathanael Liminski, Bettina Limperg, Klaus Mertes, Friedrich Merz, Hildegard Müller, Sönke Neitzel, Konstantin von Notz, Verena Pausder, Constanze Peres, Karin Prien, Frauke Roth, Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier, Ellen Ueberschär, Arnd Uhle, Kristina Vogel, Jan Vogler, Hans Vorländer, Volker Wieker, Ulrich Wilhelm.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum22. Jan. 2024
ISBN9783451833069
Gesellschaft der Zukunft: 38 Ideen für Neues
Autor

Ulrike Demmer

Ulrike Demmer (geb. 1973) ist seit September 2023 Intendantin des rbb. Nach Stationen beim ORB, dem ZDF und dem Spiegel leitete sie 2015 das Hauptstadtbüro des Redaktionsnetzwerks Deutschland. 2016–2021 war Demmer stellvertretende Sprecherin und stellvertretende Leiterin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Für ihre politischen Reportagen wurde sie mit dem Henri-Nannen-Preis und dem Deutschen Reporter-Preis ausgezeichnet.

Ähnlich wie Gesellschaft der Zukunft

Ähnliche E-Books

Politik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Gesellschaft der Zukunft

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Gesellschaft der Zukunft - Karl-Ludwig Kley

    Vorwort

    Demokratie braucht den öffentlichen Diskurs. Er ist Grundvoraussetzung, um uns verständigen zu können über das, was uns wichtig und gemeinsam ist, aber auch über das, was uns trennt. Demokratien leben von den Unterschieden an Werten, Interessen und Lebensweisen. Demokratien wissen aber auch damit umzugehen. Institutionen, Verfahren und ein Grundkonsens über den zivilen Austrag von Konflikten ermöglichen Willens- und Entscheidungsbildung, somit bürgerschaftliches und staatliches Handeln.

    Entwicklungen unserer unmittelbaren Gegenwart stellen Demokratien vor große Herausforderungen. Krisen und die Wiederkehr des Krieges in Europa haben für gesichert und selbstverständlich gehaltene Gewissheiten erschüttert. Mit einem gefühlten Epochenbruch gehen Verlustängste einher. Der Ton der Auseinandersetzung hat sich verschärft, ist rau und verbittert geworden. Wo politische Polarisierung ist, wird gesellschaftliche Spaltung vermutet. Die Sorge um die Demokratie wächst.

    Umso wichtiger ist die Reflexion über die gegenwärtige Verfasstheit von Politik und Gesellschaft. Wer die Probleme nicht versteht, kann an Lösungen nicht arbeiten. Dazu ist auch Distanz zu den Aufgeregtheiten und Empörungsritualen der politischen Auseinandersetzungen notwendig. Helfen kann ein Medium, das sich den Clickbaits der digitalen Netzwerke genauso entzieht wie dem Dreisatz-Stakkato von Talkshows. Warum also nicht ein Buch, das aus Versuchen besteht, die Gegenwartslage zu analysieren und Vorschläge über das Notwendige zu machen? Ein Essayband also.

    Zumeist brauchen Bücher ein Anliegen und einen Anlass. Der Anlass ist der 70. Geburtstag eines Politikers und Beobachters, der der Bundesrepublik Deutschland in vielen Funktionen gedient hat: Thomas de Maizière. Was im Deutschen etwas altertümlich klingen mag, im Angelsächsischen aber fester Bestandteil des Amtsverständnisses ist, trifft auf den Jubilar in ganz besonderem Maße zu: Thomas de Maizière wusste und weiß, dass ihm – als Abgeordneter, Berater, Chef von Staatskanzlei und Bundeskanzleramt sowie Minister in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und in Berlin – Mandate erteilt und Ämter übertragen wurden, deren Wahrnehmung jeweils ein Maß an Verantwortung erforderte, dem zu entsprechen nur ein ausgeprägtes Gefühl für Pflichtbewusstsein und Respekt vor der Aufgabe ermöglichte. Das Ethos eines demokratischen Politikers, er verkörpert es. Seine Besonnenheit, Offenheit, Ehrlichkeit und Zugewandtheit haben ihn Anerkennung und Sympathie in allen Lagern, auch in denen, die ihm in der Sache widersprochen haben, gewinnen lassen.

    Und Thomas de Maizière hatte und hat ein Anliegen, zuletzt in seinen Büchern dokumentiert, das gute Regieren und das Führen in der Demokratie. Politik hat immer mit Macht zu tun. Ohne diese gibt es keine Gestaltung, kein politisches Handeln mit der Absicht der Veränderung der Verhältnisse. Aber es gibt auch Institutionen und Regeln, mit denen pfleglich umzugehen ist, weil sonst die Demokratie Schaden nimmt und Entscheidungen ihre Legitimation, übrigens auch ihre Reversibilität, verlieren. Und es gibt Tugenden, die zu einer verantwortungsethischen Führung in der Demokratie gehören, die jedoch in Auseinandersetzungen oder unter Entscheidungszwängen häufig bis an die Grenze ausgetestet werden: Es ist keine Stilisierung seiner Person, wenn man formuliert, dass Thomas de Maizière in seinem politischen Wirken ganz wesentlich vom klaren Überzeugungsfundament eines genuin demokratischen und moralischen Ethos getragen wurde.

    Der vorliegende Essayband versteht sich nicht allein als Festgabe, wenngleich er es auch ist. Das war nicht zu vermeiden, zumal es ja auch darum ging, das Anliegen Thomas de Maizières aufzugreifen, Probleme nach vorne zu denken, aus ihrer Beschreibung Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Aber die versammelten Beiträge sollten auch allein stehen können, anregen, auch streitig sein. Insofern ist kein Almanach der allfälligen Aufgaben auf der politischen Agenda entstanden.

    Die Idee zum Buch entstand im Austausch zwischen Freunden und der Familie. Wegbegleiter von Thomas de Maizière aus den unterschiedlichsten Feldern seines politischen und gesellschaftlichen Wirkens wurden angeschrieben und ihnen die eine Frage gestellt: „Wenn Sie eine Sache ändern könnten, was wäre das?" Viele der Angeschriebenen sagten zu. Und sandten Beiträge, die so verschieden waren, wie es eben die Auswahl der Autoren versprach. Ein jeder, eine jede ist für den jeweiligen Text verantwortlich.

    Wir danken allen Autoren und Autorinnen. Wir hoffen, dass mit den Beiträgen inhaltliche Diskussionen angeregt oder intensiviert werden. Wir danken Martina de Maizière und ihrer Tochter Nora Hueck-de Maizière, die die nicht geringe Last der Organisation trugen und es über die ganze Zeit schafften, das Werk vor ihrem stets an allem interessierten Ehemann und Vater geheim zu halten. Wir danken Manuel Herder, dass er dieses Werk in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Dank gilt schließlich Patrick Oelze, dessen inhaltliche Beratung und Lektorat Struktur und Qualität der Beiträge bereichert haben.

    Die Danksagung wäre unvollständig, wenn nicht auch die Persönlichkeit bedacht würde, die den Anlass für dieses Buch gegeben hat: Thomas de Maizière. Sein Arbeitsethos, sein Verantwortungsgefühl und sein gesellschaftliches Engagement waren und sind vorbildlicher Dienst an der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.

    Emily Haber, Karl-Ludwig Kley, Hans Vorländer

    Den Dienst an der Gemeinschaft pflegen

    VON FRANK-WALTER STEINMEIER

    „Regieren" heißt in der für Thomas de Maizière typisch knappen Weise sein Buch über die Erfahrungen, die er in der Politik gemacht hat. Und das auch mit Recht, denn Regieren, das hat er gelernt, das hat er gekonnt – und das hat er manchmal auch, mehr, als ihm lieb war, gemusst. Regieren als Managen und Verhandeln, als Austarieren und Ausbalancieren, letzten Endes aber eben auch als Entscheiden, als Bestimmen, als Durchsetzen.

    Das Buch könnte mit gleichem Recht (aber das hat ihm wahrscheinlich seine preußische Bescheidenheit verboten) auch „Dienen" heißen. Denn das war sein politisches Wirken für ihn – und das soll nach seinem Verständnis wohl politisches Leben und Wirken überhaupt sein: zu dienen.

    Dienen ist heute ein scheinbar altmodisches Wort. Und der Begriff Staatsdiener mit dem man früher jeden Beamten doch auch mit Respekt und ehrenvoll bezeichnet hat, dieser Begriff wird fast nur noch ironisch gebraucht – wenn wieder einmal über die Unbeweglichkeit, die Veränderungsrenitenz oder die angebliche Verschlafenheit der öffentlichen Verwaltung geklagt wird, was ja zu den deutschen Lieblingsbeschäftigungen gehört.

    Für Thomas de Maizière jedenfalls war und ist Dienen kein Fremdwort. Und er hat immer gewusst, dass das Wort Minister vom lateinischen ministerium kommt, also vom Dienst und der öffentlichen Übernahme einer Pflicht. Solch einen Dienst leistet nicht nur der Minister, sondern auch jeder Bürgermeister, jeder Landrat und jeder Parlamentarier, ob in Bundes-, Land- oder Kreistagen, ob in Stadt- oder Gemeinderäten. Auch in den Ämtern, an den Schulen oder in der Bundeswehr: Überall wird Dienst am Gemeinwesen geleistet. Davon leben unser Staat und unsere Gesellschaft – und wie gut und wie engagiert dieser Dienst geleistet wird, ob er nicht nur dem Namen nach, sondern auch im Geist des Dienens geleistet wird, davon hängt vieles, ja fast alles ab: Gelingen oder Scheitern.

    Da ich darum gebeten wurde, in diesem Buch etwas anzusprechen, das mir besonders wichtig ist, möchte ich kurz skizzieren, warum ich vor einiger Zeit einen verpflichtenden Dienst an der Gesellschaft vorgeschlagen habe. Das hat eine lebendige Debatte ausgelöst, und darüber freue ich mich sehr. Denn das, worum es mir geht, geht uns alle an.

    Ein verpflichtender Dienst an der Gesellschaft würde jeder und jedem Einzelnen sehr praktisch vor Augen führen: „Du zählst, du trägst Verantwortung und du bist Teil dieses Gemeinwesens. Du wirst gebraucht, und auch von dir hängt es ab, dass diese Gesellschaft eine gerechte, eine menschliche und nachhaltige ist." Daher wäre eine Pflicht auch nicht einfach nur Zwang. Denn wenn alle angesprochen sind und sich alle beteiligen, dann erfahren sie sich auch als gleiche Bürgerinnen und Bürger. Als gleichberechtigt und gleich verpflichtet.

    Demokratie, so hat es Thomas de Maizière einmal gesagt, ist eben nicht nur ein Verfahren, dass sich alle paar Jahre wiederholt, sondern zuallererst eine Haltung, die man hat und die man zeigt. Eigenes Denken und eigenes Entscheiden, aber auch der Respekt vor der Meinung und Würde der anderen: Dieses demokratische Denken könne man „nur begrenzt erziehen, aber man könne „unbegrenzt dazu ermutigen. Und diese Ermutigung sei nicht nur eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft, sie müsse auch an allen Orten des gesellschaftlichen Lebens stattfinden – in den Familien und bei der Arbeit ebenso wie in den Vereinen, Verbänden und ehrenamtlichen Organisationen.

    Ich bin daher sehr froh darüber, wie viele Menschen in unserem Land sich bereits heute schon um andere kümmern, um ihre Umwelt, um die Natur, um ihre Stadt und ihr Viertel, um ihren Verein, um ihre Kirchengemeinde. Da ist viel Hilfsbereitschaft und viel Übernahme von Verantwortung. Und all diese Menschen engagieren sich freiwillig. Wie viel ärmer wäre unser Land ohne sie? Wie gefühlskalt wäre es? Jede und jeder, der an einen anderen denkt und nicht nur an sich selbst, macht unser Land, macht unsere Gesellschaft und macht das Leben aller ein kleines Stück besser.

    Gleichzeitig aber höre ich aus vielen Vereinen, Notdiensten oder Hilfsorganisationen, dass sich immer weniger Menschen engagieren, dass die Zahl der Mitglieder schwindet und zu wenig Interessierte dazukommen. Oftmals sind es immer dieselben, die das Ehrenamt tragen.

    Ich mache mir Sorgen, dass diese Abwendung der Menschen voneinander früher oder später die Grundlage unserer Demokratie aushöhlt. Weil eben nicht mehr an allen Orten des gesellschaftlichen Lebens zum demokratischen Denken und zur demokratischen Haltung ermutigt werden kann. Wer sich nur noch von seiner eigenen Gruppe bestätigen lässt, wer nur noch denkt und fühlt, was in der eigenen Umgebung gedacht und gefühlt wird, der verliert sein Mitgefühl mit anderen und oft auch den Respekt vor ihnen.

    Für mich ist die soziale Pflichtzeit daher auch eine Antwort auf die soziale Zersplitterung in unserem Land. Sie wäre eine gemeinsame Erfahrung in einer Gesellschaft, die heute sehr verschiedene Lebenswege kennt. Sie würde gegeneinander abgeschottete Lebenswelten öffnen. Und ich bin mir sicher: Indem wir wieder erleben, was uns verbindet, würden wir auch stärken, was uns verbindet.

    Ob es der Sinn des Lebens sei, seine Pflicht zu erfüllen, lautete vor einiger Zeit eine Journalistenfrage an Thomas de Maizière. Es war die letzte Frage eines längeren, sehr persönlichen Gesprächs, und man spürte als Leser förmlich, wie da ein großes Erstaunen mitschwang: Ob es denn wirklich der Sinn des Lebens sein könne, seine Pflicht zu erfüllen? „Ja, darum geht es", antwortete Thomas de Maizière klar und knapp.

    Ich bin mir bewusst, dass es kein kurzer und kein leichter Weg wird hin zu einer sozialen Pflichtzeit. Aber ich bin überzeugt: Sie wäre ein Gewinn für die innere Festigkeit unserer demokratischen Lebensweise in unsicheren Zeiten. Und sie würde alle – für eine bestimmte Zeit, in einem neuen und in einem sehr positiven Sinne – zu Bürgerinnen und Bürgern im Dienst der Gemeinschaft machen.

    Staat und Verfassung

    Deutschland eine neue Verfassung geben

    VON ILKO-SASCHA KOWALCZUK

    Weltweit sind Demokratie und Freiheit auch dort in Gefahr, wo sie bislang als unerschütterlich galten: in den Staaten der Europäischen Union und in Nordamerika. Der Angriff von Rechtsextremisten auf den demokratischen Verfassungsstaat und die repräsentative Demokratie folgt in allen Staaten mit ähnlichen Strategien und mit Parteien, die als parlamentarischer Arm des Rechtsextremismus auftreten. Schon lange geht es nicht mehr um „Protest oder vermeintliche „Wutbürger, die über einzelne Erscheinungen der Gegenwart empört sind. Die Herausforderungen durch Globalisierung und digitale Revolution stellen eine enorme Überforderung dar. Viele Menschen sehnen sich nach einer vorgeblichen Sicherheit zurück, die es nie gab, die aber im Rückblick oft als solche erscheint. Verunsicherung führt oft zu einfachen Weltsichten, zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen und Zusammenhänge. Im Kern geht es in diesem harten, globalen Kampf um Freiheit vs. Unfreiheit. Der Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine ist das Symbolbild für diesen Kampf, der mit anderen Mitteln nahezu in jeder westlichen Gesellschaft augenblicklich ausgefochten wird.

    Politiker und Politikerinnen können dabei eine simple Beobachtung um ihrer Existenz willen als gewählte Bürger nicht offensiv aussprechen: In jeder Gesellschaft sind 15, 20, 25 Prozent der Menschen nicht für die Grundüberzeugungen des politischen Systems ansprechbar. Und doch ist es ihre selbstgestellte Aufgabe, sich immer und immer wieder gerade um diese „Unerreichbaren zu kümmern. Warum eigentlich? Und vor allem: Warum wird jene Mehrheit, die sich täglich für den demokratischen Verfassungsstaat engagiert, so oft „stiefmütterlich behandelt?

    Angesichts der Bedrohungen benötigen wir eine Stärkung des demokratischen Selbstbewusstseins jener, die in Deutschland das Grundgesetz stärken und mit Leben erfüllen, die den demokratischen Verfassungsstaat vor den Extremisten schützen wollen. Deutschlands Demokratie ist eine Mehrheitsdemokratie von Demokraten und Demokratinnen – ganz anders als die Weimarer Republik.

    Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mittel zur Stärkung der Demokraten und Demokratinnen, von Demokratie und Freiheit ein Weg wäre, vor dem fast alle aktiven Politiker zurückschrecken: Artikel 146 des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen.

    Abstrakt betrachtet spiegelt eine Verfassung Erfahrungen, die geeignet waren, die Integrität des Einzelnen zu verletzen und die politisches Handeln willkürlich erscheinen lassen könnten. Positiv formuliert setzen Verfassungen Normen, die die Integrität des Individuums zu schützen suchen und einen Normenkanon festlegen, dem sich politisches Handeln zu unterwerfen hat. Es geht also darum, Recht und Ordnung zu normieren. Das zu diskutieren, erfolgt nie zur richtigen Zeit, es ist zu grundsätzlich, als dass es in den Alltag welcher Akteure auch immer passen könnte.

    Nach meiner Beobachtung glauben die meisten Verfassungsrechtler, dass bei rechtlichen Fragen, bei Verfassungsfragen zumal, sie zuvörderst oder gar allein gefragt seien. Das verstehe ich sogar. Vertreterinnen sämtlicher Professionen glauben, ein gewisses Vorrecht auf „ihre Betrachtungsgegenstände zu besitzen. Das ist nachvollziehbar. Die „anderen freilich sind im demokratischen Diskurs gefordert, diese Selbstsicht zu hinterfragen und durch Einwürfe von außen die Debatte zu schärfen. Als Historiker weiß ich, wovon ich rede. Es gibt wohl kaum eine andere Disziplin, die so selbstverständlich gesellschaftlich permanent in ihrer Deutungshoheit – freundlich ausgedrückt – hinterfragt, tatsächlich als geradezu störend und semiprofessionell hingestellt wird wie die Geschichtswissenschaften.

    Die Rechtwissenschaften haben es über Jahrzehnte und Jahrhunderte professionell fertiggebracht, eine eigene, von der Alltagswirklichkeit derart entfremdete Sprache zu entwickeln, dass es geradezu anmaßend erscheint, als Uneingeweihter mitreden zu wollen. Der besondere Kniff an dieser Kunstsprache besteht darin, dass sie für den Laien auf den ersten Blick auch noch so aussieht und sich so anhört, als wäre sie verständlich.

    Das aber trifft auf Verfassungstexte nicht zu – sollte nicht zutreffen, was aber längst nicht mehr so ist. Unser Grundgesetz, einst ein würdevoller Normenkatalog, ist mittlerweile zu einer Ansammlung höchst wichtiger und ungemein unpassender Artikel geworden. Wer immer eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag hinter sich vereinen kann, scheint Grundgesetzänderungen anzustreben. Ich vermute, dieser Flickenteppich hat viel damit zu tun, dass etwa im aktuellen Bundestag 15 Prozent aller Parlamentarier Juristen sind, ein Anteil, der im Vergleich zu den vorherigen Legislaturperioden sogar noch zurückgegangen ist.

    Was ist der gesellschaftspolitische Sinn einer Verfassung? Es geht um einen Rahmen, in dem sich politisches Handeln vollzieht und der das Individuum schützt, und es geht darum, politische Herrschaft und soziale Machtausübung voneinander abzugrenzen. Je weniger in einer Verfassung festgelegt worden ist, je schmaler also eine Verfassung daherkommt, um so besser – eigentlich. Sie ist immer ein Ausdruck der politischen Ordnung. Sie konstituiert nicht diese Ordnung, sondern umgekehrt: Diese Ordnung schreibt sich ihre Verfassung.

    In der DDR oder Sowjetunion gab es auch Verfassungen. Spätestens in der Diktatur lernt jedes Kind, dass eine Verfassung ohne die Möglichkeit, deren Gültigkeit und Anwendung unabhängig prüfen zu lassen, keine Verfassung ist. Wir erleben gerade in den USA oder in Ungarn und Polen oder anhand der Debatten in Israel, zu schweigen von Diktaturen wie in Russland, wie problematisch es werden kann, wenn die juristisch obersten Verfassungsschützer nicht mehr die nötige Unabhängigkeit besitzen und die entsprechenden Gremien nicht die gesellschaftliche Diversität wenigstens zu spiegeln versuchen. Als Historiker interessiert mich die Verfassungswirklichkeit weitaus mehr als die Verfassungstheorie.

    Ich komme zurück auf die Frage, ob es einen richtigen Zeitpunkt für Verfassungsdebatten gibt. Ich blicke dabei auf den berühmten Artikel 146 des Grundgesetzes, der die Geltungsdauer des Grundgesetzes bestimmt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." 1990 waren sich Politikerinnen und die meisten Juristen einig, dass die Herstellung der deutschen Einheit – egal ob nach Artikel 23 oder Artikel 146 – von einer Verfassungsdiskussion begleitet werden würde.

    Seit dem Herbst 1989 hatte sich in der DDR eine Verfassungsdebatte entwickelt, die viele Ostdeutsche als überflüssig ansahen. Zwar wünschten sie die schnelle Streichung von Artikel 1 der DDR-Verfassung, die die führende Rolle der SED seit 1968 juristisch festschrieb, was auch am 1. Dezember 1989 geschah. Aber insgesamt war die ostdeutsche Gesellschaft wenig mit juristischen und schon gar nicht mit Verfassungsfragen vertraut. Ihr Erfahrungsschatz hatte in dieser Hinsicht nicht viel aufzubieten. Am Zentralen Runden Tisch konstituierte sich eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung, in der Expertinnen und Experten aus Ost und West mitarbeiteten. Selbst Kanzler Kohl erklärte noch am 11. Februar 1990 nach seiner Rückkehr aus Moskau in einem Fernsehinterview, es müsse eine neue Verfassung erarbeitet werden. „Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.¹ Wenig später erklärte Kohl, die Vereinigung würde nach Artikel 23 zustande kommen. Damit waren Verfassungsfragen scheinbar erledigt. Artikel 146 lautete bis Ende September 1990: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Noch vor dem 3. Oktober 1990 änderte der Bundestag diesen Artikel allerdings, der seither wie bereits zitiert lautet.

    Die deutsche Einigung blieb in der Bonner Politik folgenlos. Genug Probleme hätte die Bundesrepublik zu bewältigen gehabt, Probleme, die sich seit Jahren angestaut hatten. Da sei eine Verfassungsdebatte nur hinderlich gewesen. Zumal die große Mehrheit der Ostdeutschen nach genau diesem Grundgesetz strebte und die große Mehrheit der Westdeutschen keine Gründe für eine Verfassungsänderung erkennen konnte. Hinzu käme, dass die Volkskammerwahlen im März 1990 als Plebiszit für Artikel 23 Grundgesetz (Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) galten und es angesichts des engen Zeitplans keine Möglichkeiten für eine neue Verfassung nach Artikel 146 gebe. So wurde damals, so wird heute vielfach argumentiert.

    Tatsächlich ist in der Volkskammer die DDR-Verfassung mehrfach geändert worden, um neue Gesetze nicht in Widerspruch zu ihr zu bringen. Zwar hatte die erwähnte Arbeitsgruppe vom Runden Tisch bis zum 4. April 1990 eine neue DDR-Verfassung erarbeitet, eine Rechtsverbindlichkeit war damit aber nicht gegeben. Im DDR-Parlament fanden sich dann jenseits von Bündnis 90 und der SED/PDS auch keine politischen Kräfte, die ernsthaft über eine neue DDR-Verfassung debattieren wollten. Das war angesichts des drängenden Zeitplans und der bereits laufenden Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion auch nachvollziehbar. Nach dem ersten Staatsvertrag, der zum 1. Juli 1990 in Kraft trat, war die rasche Übertragung des Grundgesetzes ohnehin alternativlos geworden. Das Problem einer gemeinsamen deutschen Verfassung blieb gleichwohl bestehen.

    Am 16. Juni 1990 gründete sich ein gesamtdeutsches Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder, das sich dem grün-linksliberalen politischen Spektrum zurechnete und viele Wissenschaftler, Politikerinnen und Intellektuelle aus dieser politischen Richtung vereinte. In der Evangelischen Akademie Bad Boll fand nur wenige Tage später eine mit hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern aus Ost und West, darunter Wolfgang Schäuble, besetzte Veranstaltung statt, die einen großen Konsens offenbarte, dass Deutschland eine gemeinsame Verfassung benötige. Der Beitritt nach Artikel 23 GG sei nunmehr unumgänglich; die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung nach Art 146 GG aber im vereinten Deutschland wünschenswert. So argumentierten 1990 nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern auch hochangesehene Verfassungsexperten. Im Einigungsvertrag ist in Artikel 5 festgehalten worden, dass die Vertragsparteien den künftigen gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfehlen, innerhalb von zwei Jahren die Wirksamkeit von Artikel 146 zu prüfen. Ende November 1991 setzten Bundestag und Bundesrat eine Gemeinsame Verfassungskommission ein. Knapp zwei Jahre später beendete die Kommission ihre Arbeit. Sie schlug einzelne Änderungen vor, das Grundgesetz als solches wurde nicht angetastet. Alles ein ganz normaler Vorgang? Im Prinzip ja.

    Das Grundgesetz gilt weltweit als Vorbild. Aus dem Provisorium ist ein Definitivum geworden. Es hat sich bewährt. Aus juristischer Sicht mochte eine neue Verfassung nicht vonnöten sein. Allerdings muss man hinzufügen: In der fast 75-jährigen Geschichte des Grundgesetzes erwiesen sich über 60 Verfassungsänderungen als notwendig, davon etwa die Hälfte seit dem 3. Oktober 1990. Da dabei nicht selten mehrere Artikel angepasst wurden, übersteigt die Zahl der tatsächlichen Artikeländerungen die genannte Zahl etwa um das Dreifache. Es heißt, weltweit sei keine bestehende Verfassung häufiger verändert worden als das Grundgesetz. Man muss wohl kein Experte sein, um zu erahnen, dass nach vielen Veränderungen eine Gesamtneukonstruktion dem Anliegen nicht schaden würde. Dabei würde man wohl wie in den Debatten 1990/91 davon ausgehen können, dass nicht nur das Grundgerüst, sondern auch ein Großteil des Werks übernommen würde. War es daher vielleicht wirklich nicht nötig, in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung eine neue, eine gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden? Rechtlich vielleicht nicht. Politisch und kulturell schon eher, da gehen die Meinungen auseinander. Es handelt sich dabei auch nur um Meinungen, weil es niemand wissen kann.

    Richard Schröder glaubt, das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen wäre dadurch nicht „erheblich gestärkt" worden.² Dieser verbreiteten Haltung, die vor allem Konservative und westdeutsche Sozialdemokraten teilen, wird vielfach entgegengehalten, eine durch eine verfassungsgebende Versammlung oder gar durch einen Volksentscheid verabschiedete neue gesamtdeutsche Verfassung hätte signalisiert, es beginne „auf Augenhöhe ein neuer Abschnitt deutscher Staats- und Verfassungsgeschichte. Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb 1990, die Westdeutschen „müssen ihren Verfassungspatriotismus weiterentwickeln zu einem Patriotismus der Solidarität. Dazu gehört, daß sie nicht alles und jedes so belassen, wie es ist, nur weil es nun einmal so ist. Das gilt für die gesamtdeutsche Verfassung, die sicherlich weitgehend mit dem Grundgesetz von 1949 übereinstimmen wird und doch, um der demokratischen Legitimation des neuen Gemeinwesens willen, zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden sollte.³

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1