Vom Scheitern der repräsentativen Demokratie: Eine demokratische Tragödie
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Über dieses E-Book
Alle Staatsgewalt geht nicht vom Volke oder dem vom Volk gewählten Bundestag aus, sondern von den etablierten Parteien und deren Führungsriege. Die Parteien haben sich die Entscheidungsbefugnis über die zentralen Bereiche des Staates – Parlament, Regierung, Justiz, Verwaltung – ohne Widerspruchsmöglichkeit durch das Volk angeeignet.
„Das Entscheidende ist, das dieser ganze Menschenapparat [...] oder vielmehr diejenigen, die ihn leiten, den Parlamentariern Schach bieten und ihnen ihren Willen ziemlich weitgehend aufzuzwingen in der Lage sind. [...] Das Versagen des Parlamentariers wird zum Schicksal von Staat und Volk.“
(Max Weber, Politik als Beruf)
„Die Frage ist erstens, welche Wirkung überhaupt vom Volke ausgeht. Sie ist ungemein gering. Selbst die Wahlen sind keine eigentlichen Wahlen, sondern Akklamation zur Parteienoligarchie.“
(Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?)
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Buchvorschau
Vom Scheitern der repräsentativen Demokratie - Friedemann Willemer
Danksagung
Einleitung
Demokratie wagen
„Ich vermute, die Angst davor, uns an die guten Nachrichten zu erinnern oder lauthals Ideale zu verkünden, entstammt etwas Primitivem: der Befürchtung, als Naivlinge ausgelacht zu werden. Diese Angst vor Peinlichkeit sollte uns eigentlich peinlich sein, doch wir verhalten uns zu oft wie diejenigen, die sich nicht trauen, auf die Nacktheit des Kaisers hinzuweisen."[1]
Nach Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom deutschen Volke aus, das heißt, das Volk ist Träger der gesamten staatlichen Herrschaftsmacht. Nur wo dies verwirklicht ist, besteht eine Demokratie; denn Demokratie heißt Herrschaft des Volkes.
Das Grundgesetz hat dem deutschen Volk eine Demokratie zugestanden, die in der politischen Wirklichkeit nahezu vollständig abhandengekommen ist.
Die Parteien, nur mit einem belanglosen Satz im Grundgesetz erwähnt, haben sich der Staatsgewalt bemächtigt. Diese Parteienherrschaft besteht nicht nur über Parlament und Regierung, sondern reicht hinein in Verwaltung, Rechtsprechung und öffentlich-rechtliche Medien, wobei die Entscheidungen nicht von den Mitgliedern der Parteien getroffen werden, sondern von den Führungseliten. An die Stelle des Alleinherrschers sind die Führungseliten der Parteien getreten bzw. in der Regel deren Anführer.
Die Wirkung, die vom Volke ausgeht, ist demgegenüber äußerst gering. Das Volk wählt alle vier Jahre eine ihm von den Parteien vorgelegte Liste. Ansonsten hat es sich zu fügen, zunächst den Vorschlägen der Parteien und dann der Obrigkeit, das heißt den Anführern der Parteien, die ihre alternativlosen Entscheidungen treffen. Dies hat mit einer Demokratie nichts mehr gemein.
Wer behauptet, das deutsche Volk sei Träger der gesamten staatlichen Herrschaftsmacht, wird als Einfaltspinsel verlacht oder als idealistischer Träumer verspottet. Vielmehr hat der Untertanengeist gesiegt, als Vertrauen, die Parteien würden es schon richten. Es wird behauptet, nur die Parteien hätten die erforderliche Kompetenz und Weitsicht, die dem Volke fehle. Dessen unstete egoistische Meinung könne hingegen nicht dem Staatswohl dienen.
Deshalb seien wir mit einer Parteienoligarchie bestens bedient. Eine Herrschaft des Volkes könne nur zum Ruin führen. Kurzum, die Staatsgewalt, die das Grundgesetz dem deutschen Volk verliehen hat, sei in den Händen der Parteien hervorragend aufgehoben. Letztlich hätten die Väter des Grundgesetzes eine Herrschaft des Volkes nicht ernsthaft gewollt.
Wer jedoch meint, Demokratie – Herrschaft des Volkes – solle nicht nur eine Farce sein, sondern mit Leben erfüllt werden, durch unmittelbare Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung, der muss den Weg zur direkten Demokratie gehen. Diesen Weg will das „Demokratische Manifest" aufzeigen.
„Vieles spricht dafür, Kants Werk als Quelle fortschrittlicher Politik zu betrachten […] Doch keine dieser Ideen ist so bedeutend wie seine Idee von den Idealen, denn ohne diese lässt sich jede Forderung nach Veränderung als utopische Fantasie absprechen."[2]
[1] Susan Neimann, Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten, ecowin, Salzburg 2017, S. 77.
[2] Ebd., S. 67.
Erster Akt
Das Interview
Teil I
Der Weg zum Demokratischen Manifest
I.1 Was führte den Autor zum Demokratischen Manifest?
Silke Schoepe: Sie sind ein politisch interessierter Mensch, mit dem man sehr gute Gespräche und tiefergehende Diskussionen führen kann. Was hat Sie bewegt, gerade jetzt dieses Manifest zu schreiben, also Ziele und Absichten öffentlich darzustellen?
Friedemann Willemer: Zunächst vielen Dank für die Einschätzung. Ja, wie kommt man dazu, eine politische Streitschrift zu schreiben? Dazu kommt man, wenn man politisch interessiert ist, schon oft über dieses oder jenes Thema gesprochen hat und das einen so anpackt und beschäftigt, dass man es aufschreiben will. Wir beide haben ja schon oft über Dinge aus der Politik diskutiert, die uns aufregten. Selten konnten wir sagen: „Toll, das haben die Politiker gut gemacht. Sondern meist mussten wir Kritik üben. Diese kritische Sicht auf die Politik liegt mir scheinbar im Blut. Schon als Schüler führte ich politische Tagebücher. Darin habe ich schon früh kommentiert, womit ich nicht einverstanden war: Ereignisse, die auf unserer Welt geschahen, oder die Berichterstattung darüber. Ich habe für mich festgehalten, was ich nicht in Ordnung fand. Später habe ich dann gemeint, mich in einer Partei betätigen zu müssen, und bin in die Junge Union eingetreten. Das hing sowohl mit meinem konservativen Elternhaus als auch mit einem Schulfreund zusammen, der den Kontakt dahin vermittelte. Später bin ich auch in die CDU eingetreten. In der Jungen Union habe ich kleinere Funktionen ausgeübt, war also mittendrin und konnte miterleben, dass es selbst in so einem kleinen Politikbetrieb wie der Jungen Union in Hamburg nur um Macht ging. Es gab unterschiedliche Fraktionen innerhalb des Vereins, die zwar vorgaben, über Sachthemen zu diskutieren, aber die waren gegenüber Mitgliedern oder dem Volk nur vorgeschoben. Das eigentliche Thema war, wer die Macht hatte. Ich bin dann ausgetreten. Damals war ich Student und ließ mich von den 1968ern anstecken, war ein Mitläufer bei den Demonstrationen. Natürlich war ich streng links damals, lehnte die Obrigkeit absolut ab, aber ich war das, was mein Vater und häufig dann auch andere als „Salonkommunisten
bezeichneten. Das ergab sich aus vielen Diskussionen, die ich damals mit meinen Eltern führte. Darin ging es nicht nur um eine Veränderung an den Universitäten, das Thema der 1968er. Man hatte ja das Gefühl, der Muff von tausend Jahren hänge noch in den Talaren der Professoren und verpeste dort das Klima. Es ging auch um politische Veränderungen. Das System hatte nach 1945 keinen Neuaufbruch geschafft. Die Bundesrepublik trottete auf alten Pfaden weiter, ohne sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, Kritik auszutauschen und diesen Diskurs zu führen. Weil dieser Diskurs außerhalb der 1968er-Generation wenig geführt wurde, gab es auch in meinem Elternhaus heftige Diskussionen. Vor allem mein Vater war sehr konservativ. Beide waren sehr lieb und ich bin unheimlich froh, dass wir später trotz dieser Streitgespräche in großer Zuneigung voneinander Abschied nehmen konnten. Aber in der politischen Meinung waren wir kreuz und quer.
I.2 Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg
Silke Schoepe: Wie haben Sie diesen Konflikt mit Ihrem Vater gelöst?
Friedemann Willemer: Ein wichtiges Thema war damals, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Aufarbeitung des Nationalsozialismus fehlte. Meine Eltern waren nicht in der NSDAP, aber sie waren Mitläufer. Mein Vater hat als Soldat den gesamten Krieg hindurch, von 1939 bis 1945 ununterbrochen für – wie er meinte – sein Vaterland gekämpft, zuerst in Frankreich, dann in Russland. Mein Bruder und ich fragten meine Eltern: „Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Warum habt ihr euch nicht artikuliert? Es gab ja auch in der Nazizeit viele Intellektuelle, die auf die Fehlentwicklungen hingewiesen hatten. Aber da kam immer nur so etwas wie: „Das haben wir nicht gewusst, das war damals nicht so einfach.
Klar, es war ja eine Diktatur, die Repressionen ausübte. Nicht so wie heute, wo wir offen über politische Themen plaudern können, ohne dass wir deshalb in Gefahr sind.
Silke Schoepe: Es ging sicher auch um den Stolz Ihres Vaters?
Friedemann Willemer: Ja, aber das habe ich erst später erkannt. Diese Diskussionen gingen bis zu seinem Tod, wurden aber immer friedlicher. Mein Vater ging auf in seinem Kampf, den er für sein Vaterland geführt hatte. Er hatte sein Leben riskiert, war mehrfach schwer verwundet worden, und was er vom Krieg in Russland erzählte, war sehr grauenvoll. Ich habe erst zum Schluss erkannt, dass ich meinem Vater, der im guten Glauben daran, richtig gehandelt zu haben, im Alter von 25 Jahren sein Leben riskiert hatte, nicht solche Vorwürfe machen kann. Wie konnte ich von ihm verlangen, dass er zu diesen fünf grauenvollen Jahren an der Front eine selbstanklagende Position bezieht. Wir sahen es ja als Überfall, aber er erlebte einen Krieg, wie er damals noch fast üblich war. Man zog in den Krieg, mal in diesen Kampf, mal in jenen. Die Obrigkeit hatte das so vorgegeben und dann zog man für sein Vaterland ins Feld. So hatte er es verstanden. Meine Vorwürfe und Erkenntnisse, wie verbrecherisch alles war, haben in ihm über Jahre gearbeitet. Ich ließ ihn dann damit in Ruhe, weil ich merkte, dass ich ihm diese Vorwürfe nicht machen kann. Eine Szene ist mir immer noch sehr präsent. Mein Vater war am Ende schwerkrank. Er lag im Bett, ich besuchte ihn oft und wir führten sehr gute Gespräche, wie man das in solchen Situationen eben macht. Irgendwann lag er da, sah mich an und hatte dabei so einen besonderen Ausdruck im Gesicht. Er sagte, als wäre es eine Frage an mich: „Und ich habe für einen Verbrecher gekämpft." Das waren fast die letzten Worte, die er je gesprochen hat. Da merkte ich, wie ihn meine Vorwürfe beschäftigt hatten. Immer wieder hatte er von seinem eigenen Sohn gehört, dass er alles hätte anders machen sollen. Ich habe dazu nichts gesagt, sondern wir ließen es im Raum stehen. Wir haben uns nur auf so eine spezielle Art angesehen.
I.3 Nicht nur im „stillen Kämmerlein" protestieren
Silke Schoepe: Hatte es auch mit dieser Beziehung zu Ihrem Vater zu tun, dass Sie das Demokratischen Manifest schrieben?
Friedemann Willemer: Wieso setze ich mich hin, schreibe eine politische Streitschrift und nenne es das Demokratische Manifest? Ja, es hat etwas damit zu tun. Normalerweise beschränken wir uns darauf zu schimpfen, bis zur Erbitterung. Wir erleben es heute bei strittigen Themen in der Gesellschaft, dass man gar nicht mehr zur Sache diskutiert, sondern so wie mein Vater oder meine Mutter mich „Salonkommunist nannten und damit keine Diskussion mehr zuließen. Sie haben sich nicht mit meinen Sachargumenten auseinandergesetzt, sondern mich „Salonkommunist
genannt oder – damals war Deutschland ja noch geteilt – gesagt: „Geh doch rüber."
Silke Schoepe: Was ja später sogar passiert ist.
Friedemann Willemer: Ja, das ist die Ironie an der Geschichte, nun sitze ich hier in Zittau in der Oberlausitz und fühle mich sehr wohl. Ich bin also rübergegangen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich 1989, als die Mauer fiel, meine geschäftliche Tätigkeit sofort hierher verlegt habe. Was hier ablief, das hat mich so interessiert, das fand ich so spannend und so beeindruckend. Das waren Jahre, die mich sehr geprägt haben. Was ich in den einzelnen Betrieben erlebt habe, das ging unter die Haut. Ich bin ja Rechtsanwalt, und in dem Zusammenhang eröffneten sich damals viele Problemfelder, die zu lösen waren und wo meine Kanzlei um Hilfe gebeten wurde.
Warum ich das Manifest geschrieben habe, hängt mit diesen harten Diskussionen mit meinen Eltern zusammen. Zu Hause am Tisch mit Gesinnungsgenossen zu diskutieren ist das Eine, da kann man richtig schön schimpfen. Aber irgendwann sagte ich mir: „Das ist zu wenig, ich muss mehr tun. Ich kann nicht so wie meine Eltern und deren ganze Generation über Dinge schweigen, die ich nicht gut finde – ob berechtigt oder unberechtigt. Sich zu äußern geht ja heute sehr gut, ich habe einen Internetauftritt mit einem Blog, das kann jeder ganz leicht finden. Falls meine Bedenken zu dem, was in dieser Republik abläuft, zutreffen sollten, will ich mir nicht den Vorwurf machen lassen, sie nicht öffentlich geäußert zu haben. Ich möchte nicht, dass meine Enkel oder auch meine Kinder irgendwann sagen: „Auch geschwiegen, nicht nein gesagt.
Es ist ein grundsätzlicher Fehler dieser Republik, vermutlich aller Demokratien: Die Menschen werden nicht zum Diskutieren, zum kritischen Diskurs erzogen, sondern sie nehmen immer mehr hin und wagen es nicht, nach außen zu tragen, was ihnen nicht gefällt. 1989 ist ein Teil des deutschen Volkes aufgestanden und hat damit Entscheidungen beeinflusst. Im großpolitischen Raum waren diese Entscheidungen schon getroffen, es lief bereits in diese Richtung, aber als Volk sind die Menschen in der DDR jeden Montag auf die Straße gegangen und haben gerufen: „Wir sind das Volk. Sie haben am Urgedanken der Demokratie angeknüpft, der Herrschaft des Volkes. Demokratie ist ohne Wenn und Aber die Herrschaft des Volkes. Ich habe in vielen Expertisen und Studien, die ich bisher gelesen habe, festgestellt, dass die repräsentative Demokratie, die uns hier geboten wird, ein Scheingebilde ist. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Es wird dem Volk vorgetäuscht, dass wir in einer Demokratie leben. Aber letztlich ist repräsentative Demokratie das perfekte System, um Demokratie auszuschließen. Ich habe manchmal das Gefühl, die Menschen wissen gar nicht, dass Demokratie Herrschaft des Volkes heißt. Im Grundgesetz, Artikel 20, steht ausdrücklich: „Alle Staatsgewalt geht vom deutschen Volke aus.
Haben wir das ansatzweise irgendwo in der deutschen Demokratie?
I.4 Was soll das Demokratische Manifest bewirken?
Silke Schoepe: Sie haben sich die Mühe gemacht, Ihre Streitschrift aufzuschreiben und im Internet zu veröffentlichen. Wen wollen Sie konkret damit ansprechen?
Friedemann Willemer: Wenn man ins Netz geht, möchte man alle ansprechen. Es ist ein Appell an die Bürger dieses Staates, sich bewusst zu werden: „Wir sind der Souverän." Das will ich mit dieser Streitschrift erreichen. Den Bürgern soll klarwerden, dass sie der Souverän sind, dass sie entscheiden. Das Problem ist, wenn jemand der Souverän ist, dann hat er nicht nur Rechte, sondern dann ist er der Herr im Haus. Das deutsche Volk ist der Herr im Haus dieser Republik. Der Herr im Haus muss dafür sorgen, dass es so läuft, wie es ihm entspricht. Dass nicht irgendwelche Dinge im Haus völlig schiefgehen, weil jemand anders entschieden hat, was er will, und etwas durchzieht, das nicht den Interessen des Hausherrn entspricht. Das Volk muss sich die Möglichkeit verschaffen, nein zu sagen. Es muss zu seinen Vertretern sagen: Ihr könnt uns alles Mögliche vorschlagen, das ist auch unser Wunsch. Aber es darf nicht sein, dass ein Einzelner oder eine Partei entscheidet: Das hat das Volk durchzuführen oder hinzunehmen. Am Gravierendsten haben wir das, wenn Deutschland in den Krieg zieht.
Silke Schoepe: Mit anderen Worten: Parteiendemokratie ist nur eine Scheindemokratie, weil der Einzelne seine Meinung nur alle paar Jahre mit einer Wahl kundtun und nicht zu einzelnen Sachverhalten entscheiden kann?
Friedemann Willemer: Ja, ich nenne später noch einige Beispiele dafür, wo etwas total schiefgelaufen ist. Ich will mich nicht vom Grundgesetz entfernen, sondern das