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Tödliches Heckenschneiden am Mondsee
Tödliches Heckenschneiden am Mondsee
Tödliches Heckenschneiden am Mondsee
eBook486 Seiten6 Stunden

Tödliches Heckenschneiden am Mondsee

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Über dieses E-Book

Inspektor K. verbringt seinen Urlaub in den Bergen, als er vom Tod seines Freundes Wolfgang Waagner hört. Waagner ist beim Heckenschneiden in eine Heugabel gestürzt. War es ein Unfall oder Mord? Inspektor K. stöbert in Waagners Vergangenheit und stößt auf Catherine Grioche, eine französische Wissenschaftlerin. Er besucht sie in Paris, muss jedoch unverrichteter Dinge wieder die Heimreise antreten. Catherine hat seit über dreißig Jahren keinen Kontakt zu Waagner gehabt. Monate später taucht sie plötzlich in Linz auf und Inspektor K. sieht sich mit seltsamen Gefühlen konfrontiert. Er reist mit Catherine nach Monte Carlo und kommt ihr im Palais der Garibaldis näher, als sich das für einen ermittelnden Polizisten und eine verheiratete Zeugin schickt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Apr. 2023
ISBN9783988658715
Tödliches Heckenschneiden am Mondsee
Autor

Wilhelm Huch

Wilhelm Huch, geboren 1967, arbeitete nach seinem Jus- und BWL-Studium mehrere Jahre in einer österreichischen Rechtsanwaltskanzlei. Anschließend leitete er von 1999 bis 2020 die Rechtsabteilung eines international tätigen Hightech-Unternehmens. 2016 erschien sein erster Kriminalroman "Tödliches Nickerchen am Mondsee", dem nun "Tödliches Heckenschneiden am Mondsee" folgt. Seit Mitte 2020 ist Huch freischaffender Schriftsteller und arbeitet derzeit am dritten Teil seiner Mondseetrilogie ("Tödlicher Sturm am Mondsee"). In seiner Freizeit spielt er in einer Rockband Rhythmusgitarre.

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    Buchvorschau

    Tödliches Heckenschneiden am Mondsee - Wilhelm Huch

    Prolog

    Palm Beach – 1928

    Am Horizont tauchten die beiden im italienischen Renaissance-Stil gebauten Zwillingstürme des Breakers Hotels auf. Auf der Spitze des einen Turms flatterte die amerikanische Flagge, den anderen Turm zierte die Fahne Floridas. Das von Schultze und Weaver erbaute Hotel nahm Joe beim ersten Anblick gefangen. Er hatte die Villa Medici in Rom nicht gesehen, doch wenn sie den Architekten des Hotels als Vorbild gedient hatte, wäre Rom wohl eine Reise wert gewesen. Joe fuhr den mit weißem Kiesel bedeckten und von prächtigen Palmen, Sträuchern und Blumenbeeten gesäumten Weg bis vor das Luxushotel entlang. Sein eigens für ihn gelb gestrichener Ford T Tudor gab ein letztes seufzendes Motorgeräusch von sich, als Joe den Wagen zwischen durchaus mondäneren Automobilen abstellte. Er half Betty aus dem Fahrzeug und geleitete sie über die Treppen zu dem von einem gewaltigen Portikus umfassten Eingang des Hotels. Sie hatten in ihrem billigen Hotelzimmer, das sie in Palm Beach bewohnten, täglich geübt, wie sie über die Eingangsschwelle des Breakers schweben, das Flair europäischen Hotelerieadels verbreiten und sich als Percy Adlon und Feodora von Remenhagen ausgeben würden. Joe hatte den echten Percy ein einziges Mal bei einem Ball in New York getroffen und sich dessen wesentlichste Züge eingeprägt. Dank seines außergewöhnlichen musikalischen Gedächtnisses hatte er sich auch Percys Akzent schnell zu eigen gemacht. Dennoch beschlichen Joe Zweifel, als er mit Betty zwischen den Säulen der Eingangshalle ging. Würde er sich fernab von Berlin und New York erfolgreich als Percy Adlon ausgeben können?

    Einen Moment blieben Joe und Betty unschlüssig in der Lobby stehen. Sie verstanden es, ihr Zögern sofort in großes Erstaunen über den Prunk der sie umgebenden Architektur zu wandeln. Riesige Kandelaber hingen von einem mit Fresken verzierten Deckengewölbe herab. An den unzählbaren Säulen standen dem Palazzo Carrega-Cataldi in Genua gleichsam virtuell entliehene Thronsessel. Riesige rote Samtteppiche dämpften den Schall der Hotelgäste. Waren die Teppiche auf den Marmorböden wirklich aus Samt? Joe wusste es nicht zu beantworten. Er musste sich auf seine Rolle als selbstbewusster Hotelerbe aus Berlin konzentrieren und analysierte das Inventar der Hotellobby nicht näher. Es irritierte ihn, dass er und Betty die einzigen Gäste in der Eingangshalle waren. Dadurch konnte er nicht beurteilen, ob die farblich ehrfurchtgebietenden Teppiche wirklich den Schall der Tritte und Gespräche allfälliger Gäste reduziert hätten. Joe rief sich in Erinnerung, dass er absichtlich den Hochsommer für diesen Besuch ausgewählt hatte. Zu dieser Jahreszeit nahmen nur die preisbewussten Reisenden die mörderische Hitze in Palm Beach auf sich, um zu Hause mit einer Nacht im Breakers prahlen zu können. Ob es noch Heimatgemeinden gab, in denen eine Übernachtung im Breakers für Erstaunen gesorgt hätte? Florida hatte seit dem Hurrikan im Herbst 1926 den Höhepunkt seines Booms bereits hinter sich. Im Breakers zeigte sich das deutlich, da viele der an die Lobby anschließenden Luxusgeschäfte geschlossen waren. Oder hing das mit dem eingeschränkten Hotelbetrieb im Hochsommer zusammen?

    „Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?"

    Wie aus dem Nichts tauchte ein livrierter Hotelpage vor Joe und Betty auf. Joe übergab seine gefälschte Visitenkarte und erklärte dem Pagen, dass er mit William R. Kenan, Jr., verabredet war. Kenan war Präsident der „Florida East Coast Hotel Company", die das Breakers drei Jahre zuvor erbauen hatte lassen.

    „Mr. Kenan ist derzeit leider nicht in Palm Beach. Wir rechnen mit seiner Ankunft nicht vor Samstagabend, Sir."

    Joe erklärte dem Pagen, dass ihm dies bekannt war. Bis zu Kenans Ankunft wollte er das wunderschöne Hotel kennenlernen und sich von einer anstrengenden Geschäftsreise ausruhen. Der Page begleitete Joe und Betty an die Rezeption, an der die beiden als Percy Adlon und dessen Verlobte eine Suite im zweiten Stock zugewiesen bekamen. Während Hotelbedienstete das Gepäck auf die Zimmer brachten und Betty sich den Genüssen eines Bades hingab, saß Joe auf der Ocean View Terrasse und kostete einen Fagler Express Cocktail. Nicht zum ersten Mal waren er und Betty mit weniger als hundert Dollar in der Tasche in einem Luxushotel abgestiegen, um es sich ein paar Tage oder Wochen auf Kosten des Hauses gutgehen zu lassen. Zum geeigneten Zeitpunkt traten sie die Flucht an und ließen hinter sich einen manchmal verärgerten, manchmal amüsierten Hoteldirektor zurück. Das Leben mit verschiedenen Identitäten war Joes Lebensinhalt geworden, seit er vor zwei Jahren in die Vereinigten Staaten gekommen war. Dass er in Betty eine kongeniale Partnerin gefunden hatte, sah er als Fügung des Schicksals an. Als sie ihm beim ersten Rendezvous seine Taschenuhr gestohlen hatte, kühlte dies sein für sie entbranntes Feuer nicht ab. Er erkannte vielmehr, dass sie nicht nur ein gefälliges Äußeres, sondern auch besondere Fertigkeiten besaß, die für ein Leben, wie er es zu führen beabsichtigte, geradezu perfekt waren. Bisher hatten sie sich in den verschiedenen Hotels stets unter Allerweltsnamen eingemietet und blieben nur so lange, dass niemand Verdacht schöpfte, wenn sich Einschleichdiebstähle häuften. Mit den erbeuteten Schmuckstücken und kleineren Geldbeträgen, die Betty bei ihren nächtlichen Streifzügen einkassierte, konnten sie in durchschnittlichen Hotels für einige Zeit ganz gut leben. Wenn sich ihre Geldbörse zu leeren begann, quartierten sie sich im Luxushotel der nächsten Großstadt ein. Neben dem Komfort, den die ersten Häuser am Platz boten, gab es einen weiteren Vorteil: Es wurde selten eine Vorauszahlung verlangt, da sich dies bei der Klientel von Luxushotels nicht schickte.

    In Palm Beach wollte Joe eine Stufe höher steigen. Hier würde ein „Mr. Smith oder „Mr. Gildenbrand nicht reichen. Diesmal musste es ein Adlon, ein echter Adlon sein. Percy Adlon, der Sohn des berühmten Louis Adlon aus Berlin, der von seiner Stiefmutter nach Amerika verbannt worden war und in New York sein Leben fristete, sollte Joes Deckname für ein nicht unbedeutendes Unterfangen werden. Die Vorbereitungen waren nicht allzu zeitintensiv gewesen. Denn konsequentes, diszipliniertes und ausdauerndes Verfolgen einer Idee war Joes Sache nicht. Dieser Charakterzug hatte ihn daran gehindert, einen herkömmlichen Beruf zu ergreifen. Bei Joe musste alles schnell gehen. Von der Idee bis zur Ausführung durften maximal einige Tage vergehen, sonst verlor er das Interesse daran. Außerdem durfte jede Beschäftigung, die zu Geld führen sollte, nicht mit großer Mühe oder Anstrengung, weder in physischer noch psychischer Hinsicht, verbunden sein. Dafür grämte sich Joe nicht, wenn ein Coup wegen mangelnder detailversessener Vorbereitung einmal danebenging. Wichtig war, dass sein angeborenes schauspielerisches Talent für die nächste Geldbeschaffung ausreichte. Und letztlich tat er nichts lieber, als den Gatten seiner liebenswerten Betty, auch als Mrs. Smith und Mrs. Gildenbrand bekannt, zu spielen. Betty war zunächst nicht begeistert, dass ihr nächstes Abenteuer im hochsommerlichen Florida stattfinden sollte. Aber sie liebte Joe nun einmal und außerdem konnten sie es sich nicht aussuchen, wann Jennifer Bleems im Breakers residierte.

    Die Bleems oder, wie man sie in New York nannte, die „Goddess of Roses" war ein viel bejubelter Broadway-Star, der sich der Zuneigung einer riesigen Fangemeinde und des Millionärs Henry Goldman erfreute. Goldman war nicht nur ihr väterlicher Förderer und Türöffner für die großen Broadway-Shows, sondern auch ihr heimlicher Geliebter. Während er seine Frau Babette jeden Sommer für einige Wochen an die Côte d’Azur schickte, durfte die Bleems im Breakers bei sengenden Temperaturen auf das jährliche Stelldichein mit ihrem Gönner warten. Dies war naturgemäß nicht in den amerikanischen Tageszeitungen zu lesen. Über Bettys Kontakte hatte Joe von dieser äußerst lukrativen Liaison gehört. Der Vorteil des Breakers im Juli und August war für die Bleems, dass der amerikanische Geldadel nicht in Florida, sondern in gemäßigteren Gefilden seinen Urlaub verbrachte. So konnte die Diva ihren an den Schläfen ergrauten, darüber glänzend blanken, sonst durchaus attraktiven, weil unvorstellbar reichen Mr. Goldman unter Palmen umarmen, ohne Angst vor schneller Entdeckung ihrer Liebschaft haben zu müssen.

    °°°°°°°°

    Joe sah Betty zu, wie sie ihr blütenweißes Kostüm anzog, dessen Kragen mit einem Hermelin geschmückt war.

    „Wird dir in diesem Aufzug nicht zu heiß werden?", fragte Joe und zündete sich eine Zigarette an.

    „Ehrlichere Leute als wir vergießen bei ihrer Arbeit auch so manchen Schweißtropfen. So schlimm wird es schon nicht werden. Außerdem möchte ich mein geschmeidiges Seidenkleid für die Nacht der Nächte verwenden. Du weißt, was ich meine?"

    Bettys blaue Augen leuchteten, als sie Joe ein bezauberndes Lächeln schenkte. Joe wusste, was sie meinte. Sie waren drei Nächte vor dem Termin mit Kenan im Breakers angekommen, um vor Kenans Ankunft den Ort ihres hoffentlich größten Coups wieder verlassen zu haben. Joe nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette, schlug die Beine übereinander und streckte sich auf der Tagesdecke seines Bettes aus. Er hatte sein Sakko abgelegt und wollte so auf Betty warten. Sie trat zu ihm ans Bett, beugte sich über ihn und gab ihm einen flüchtigen Kuss.

    „Dann werde ich einmal losziehen und die Umgebung erkunden. Vielleicht lässt sich im Vorbeigehen etwas einstecken."

    Betty schlenderte den Flur entlang und stieg die Feuertreppe in den fünften Stock hinauf. Es war drei Uhr morgens und alle im Hotel schienen zu schlafen. Auch der Liftboy war auf seinem Stuhl neben dem Aufzug eingenickt. Betty hielt ihre Schuhe in der einen Hand und öffnete mit der anderen die Tür zu einer vom Hauptflur nicht einsehbaren Suite. Die Tür war nicht verschlossen. Mit den Bewegungen einer Raubkatze drückte sich Betty ins Innere der Suite, durchschritt zielstrebig den Salon und horchte eine Weile an der Tür des angrenzenden Schlafraumes. Nur die regelmäßigen Atemzüge einer schlafenden Person waren zu vernehmen. Betty steckte ihre Schuhe in die Außentaschen ihrer Jacke und drückte die Klinke der Schlafzimmertür hinunter. Ein leichtes Knarren ließ sie kurz erstarren. Alle Türen im Breakers waren bisher gut geölt und ließen sich ohne das geringste Geräusch öffnen und schließen. Auch diesmal funktionierte die Tür einwandfrei. Das Knarren kam vom Bett. Der schlafende Mann hatte sich bewegt und seinen Kopf Betty zugewandt.

    Im Schlaf schauen selbst die größten Schurken wie Engel aus", dachte sich Betty und betrachtete das runde, von verschwitzten Haarlocken gesäumte Gesicht des Unbekannten. Er atmete weiter regelmäßig und sah nicht danach aus, im nächsten Moment aufzuwachen. Betty wartete einen Augenblick, bevor sie sich vorsichtig dem Nachtkästchen näherte. Mit flinken, durch langjährige Praxis geübten Bewegungen nahm sie die Uhr, die Geldtasche und einen großen Siegelring an sich, entnahm dem Portemonnaie die Geldscheine und legte es an seinen Platz zurück. Wenige Sekunden später stand Betty wieder auf dem Flur und probierte die nächste Tür.

    °°°°°°°

    „Entschuldigen’s, hätten’s was dageg’n, wenn ich mich an Ihren Tisch setz’? Ich hab’ g’hört, Sie komm’n aus Deutschland?"

    Der junge Mann musste Anfang dreißig sein, hatte große, leuchtend blaue Augen, eine für sein zartes Gesicht überdimensionierte Nase, einen hellen Schnurrbart und einen vorbildlich gekämmten Kurzhaarschnitt. Er stand in seinem dunkelblauen Anzug, seiner darunter sichtbaren, aus dem gleichen Stoff gewebten Weste und einer hellblau gestreiften Fliege vor Joe, als wollte er um die Hand von Joes Tochter anhalten. Abgesehen davon, dass Joe keine Tochter hatte, war ihm sofort aufgefallen, dass der Störenfried seiner nachmittäglichen Kaffeestunde kein Landsmann sein konnte.

    „G’statt’n, Joseph Roth, derzeit arbeitsloser Reisereporter und Muse suchender Schriftsteller."

    „Freut mich!"

    Joes Antwort klang nicht überzeugend. Man sah ihm an, dass er die Konversation mit einem Europäer nicht erwartet hatte und sie gerne vermieden hätte.

    „Wenn es Ihnen ung’leg’n kommt, will ich Ihre Ruhe natürlich nicht stör’n. Ich dacht’ bloß, man trifft nicht jed’n Tag ein Mitglied der Familie Adlon", fuhr Roth fort.

    Joe sprang auf, bot dem Ankömmling einen Platz an und holte das Verabsäumte nach:

    „Percy Adlon, aber das scheinen Sie schon zu wissen. Selbstverständlich können Sie sich hier niederlassen. Ich freue mich, fern der Heimat eine deutsche Stimme zu hören. Ein bisschen deutsches Parlieren schadet in dieser subtropischen Hitze auch nicht. Sie sind Schriftsteller? Muss ich mich genieren, von Ihnen nichts gelesen zu haben?"

    Roth machte es sich im Lehnstuhl neben Joe gemütlich, steckte sich eine Zigarette an und betrachtete Joe für kurze Zeit schweigend. Dann antwortete er:

    „Ich glaub’ nicht, dass Sie Abonnent der Wiener Arbeiterzeitung g’wes’n sind, als Sie in Berlin lebt’n. Soweit ich weiß, liest man in Ihren Kreis’n auch nicht die Frankfurter Zeitung."

    „Naja, ich habe Berlin vor einigen Jahren verlassen. In meiner Jugend habe ich zugegebenermaßen keines der von Ihnen genannten Blätter gelesen. Darin haben Sie also veröffentlicht?"

    „Ja, meine beid’n erst’n Romane wurd’n dort ab’druckt. Es hat sie später auch als Bücher zu kauf’n geb’n. Aber zu dies’m Zeitpunkt dürft’n’s bereits in den Staat’n g’wes’n sein. Wann sind’s eigentlich hierher komm’n?"

    Joe bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der fremde Schriftsteller, der seinem Dialekt nach kein Deutscher, sondern Österreicher oder Schweizer sein musste, war ihm unheimlich. Was wollte er von ihm? Wollte er ihn enttarnen? Joe musste vorsichtig sein und gab ausweichend zur Antwort:

    „Das ist einige Zeit her, kann mich gar nicht mehr so genau erinnern."

    In diesem Moment trat Betty zu den beiden an den Tisch. Joe nahm dies zum willkommenen Anlass, das Thema zu wechseln.

    „Darf ich vorstellen: Miss Betty von Rückenstein, meine Verlobte. Herr Joseph Roth, viel gelesener Romancier aus Deutschland."

    Betty reichte Roth ihre Hand, die in cremefarbenen Lederhandschuhen steckte. Roth sprang von seinem Platz auf und hauchte einen Kuss auf ihre Hand.

    „Hoch erfreut, meine Teure, und ich dacht’, Sie wär’n Frau Adlon! Aber lass’n’s mich richtigstellen, ich bin kein Landsmann im engeren Sinn. Ich komm’ aus Österreich, einem heut’ leider nicht mehr existierend’n Österreich. Denn das hat die Welt nicht zuletzt mit Hilfe Ihres Kaisers aus den Geschichtsbüchern g’fegt. Was die Leserzahl meiner Romane betrifft, so hält sie sich zu mei’m Leidwesen noch in eng’n Grenz’n. Das ist der Grund, weshalb ich als Reisereporter mein Dasein frist’n muss. Dummerweise bin ich in dieser Profession derzeit ohne Anstellung."

    „Sie Ärmster! Aber so schlecht kann es Ihnen nicht gehen, wenn Sie im Breakers logieren", antwortete Betty. Sie lächelte Roth kurz an, um danach einen verstohlenen, fragenden Blick an Joe zu richten.

    „Wissen’s, meine Gnädige, manchmal gibt’s im Leb’n Schicksalsfügung’n, die’s auch ei’m arm’n Schriftsteller hie und da ermöglich’n, an so schönen Ort’n wie hier abzusteig’n. Übrigens, Ihr Verlobter und ich hatt’n g’rad über seine Ankunft in Amerika vor drei Jahr’n, glaub’ ich, g’sproch’n."

    Joe lief es kalt über den Rücken. Er hatte, was ihm noch nie passiert war, Betty nicht mit dem aktuell benutzten Namen vorgestellt. Dieser angebliche Schreiberling verwirrte ihn. Wusste er, dass Joe nicht Percy Adlon war? Ja, Joseph Roth wusste von seines Namensvetters Versteckspiel. Aber er wollte es nicht zu Joes und Bettys Nachteil an die große Glocke hängen. Die von ihm angedeuteten Schicksalsfügungen hatten sich in Berlin zugetragen. Zunächst hatte Roth im Zuge seiner Tätigkeit für den Berliner Börsen-Courier mehrfach die Gelegenheit gehabt, das Hotel Adlon zu besuchen, wo er zum einen viele seiner Interviewpartner, später auch Freunde und Bekannte zu treffen sich angewöhnte. Zum anderen war er dort, was Joe nicht mehr überraschte, als Roth ihm dies mit knappen Worten auseinandersetzte, mit dem Chef des Hauses und Joes vermeintlichem Vater, Louis Adlon, bekannt geworden.

    „Seh’n’s, mein lieber Percy oder wie auch immer Sie mit richtig’m Nam’n heiß’n mög’n, einmal hatt’ ich die Freud’, Ihr’n Ruf-Vater in sei’m Arbeitszimmer für ein’ Artik’l im Börs’n-Courier zu sprech’n. Natürlich war das größte Photo auf sei’m Schreibtisch das seiner Frau Hedda. Aber mein darauf spezialisiertes Reporteraug‘ erspähte auch ein kleines Photo seiner erst’n Frau und seiner Kinder. Da hab’ ich den Percy g’seh’n, den’s vergeblich vorzugeb’n versuch’n."

    Die zweite Schicksalsfügung war für Joe von größerer Bedeutung. Denn niemand Geringerer als Babette Goldman hatte Joseph Roth diese Reise in die Vereinigten Staaten bezahlt. Der reisende Schriftsteller hatte von ihr den Auftrag bekommen, in Florida den Gerüchten nachzugehen, wonach ihr Gatte ein Verhältnis mit der Bleems hatte. So kreuzten sich im Breakers zufällig die Lebenslinien eines auf detektivischen Nebengleisen verweilenden Schriftstellers und eines erfolgreichen Hochstaplers und Betrügers. Joe war alles andere als erfreut. So knapp vor einem der größten Vermögenstransfers seiner Karriere schien er nun wohl unverrichteter Dinge das Breakers-Hotel wieder verlassen zu müssen.

    „Lieber Herr Roth, ich sehe, es war ein großer Fehler, Ihre Werke nicht gelesen zu haben. Da hätte ich nicht nur Ihre schriftstellerischen Fähigkeiten rechtzeitig zu bewundern gewusst, sondern erraten, dass Sie im Grunde viel lieber ein Kriminalinspektor geworden wären. Werden Sie mich und meine Verlobte der Polizei übergeben?"

    Joe nahm einen kräftigen Zug an seiner Zigarette, nippte an seinem Kaffee und legte die Hände auf den Tisch vor sich, als ob er darauf wartete, dass ihm Roth die Handschellen anlegen würde. Doch Joes Enttäuschung über die Enttarnung war zu früh ins Stadium der Verzweiflung übergegangen. Roth erwiderte mit einem Augenzwinkern:

    „Aber, Herr Adlon, wer wird denn gleich so überhastet hand’ln? Sich den Namen eines europäisch’n Hotelierssohn anzumaß’n, is’ doch kein Verbrech’n. Außerdem lieb’ ich kleine Verwandlungstricks. Vielleicht könn’n’s mir bei mei’m Auftrag ein wenig unter die Arme greif’n. Denn off’n und ehrlich: Den Spionageauftrag der reizend’n Frau Goldman hab’ ich bloß weg’n meiner prekär’n finanziell’n Lage ang’nomm’n. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt das Talent zum Detektiv hab’. Aber Sie als Verwandlungskünstler sind doch sicher in der Lage, mir die nötig‘n Beweise zu beschaff’n."

    „Was meinen Sie mit ‚Beweisen’?" Joe ließ seinen Blick von Roth zu Betty und wieder zurück schweifen. Roth spielte den Enttäuschten.

    „Aber, Herr Adlon. Tun’s doch nicht so stumpfsinnig! Ich brauch’ ein’ Beweis für Herrn Goldmans Verhältnis mit Frau Bleems. Je schneller ich den hab’, desto schneller kann ich nach Europa z’rück, meine Erfolgsprämie bei Frau Goldman abhol’n und an mei’n Büchern weiterschreib’n, ohne ständig an die Finanzierung meines nächst’n Frühstücks denk’n zu müss’n."

    „Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, Sie ließen sich ein bisschen Zeit mit der Überführung von Goldman, machten sich im Breakers eine schöne Zeit und schrieben hier an Ihren Romanen?" Joe warf Betty einen überraschten Blick zu, die sich erstmals in das Gespräch der beiden Männer eingemischt hatte.

    „Ja, gnädige Frau, daran hatt’ ich auch ‘dacht. Aber die Idee ist mir bei meiner Ankunft in Florida sofort entfleucht. Wer will denn hier zu dieser Jahreszeit und bei dies’n Temperatur’n bloß ein’ Tag länger als nötig verweil’n?"

    In Gedanken hatte Joe bereits einen Plan gefasst, wie er seiner Zufallsbekanntschaft zu den gewünschten Beweisen verhelfen und sich selbst einen eleganten Ausweg aus seiner so plötzlich misslichen und kurz darauf wieder rosiger scheinenden Situation bahnen konnte.

    °°°°°°°

    Es entsprach nicht seinen Vorstellungen von Arbeitsteilung, doch die äußeren Umstände hatten es diesmal erzwungen, dass Joe neben Betty über die leeren Gänge des Breakers schlich. Betty hatte ihr dunkelgrünes Seidenkleid angezogen, unter dessen changierenden Farbtönen ihre ausgeprägten Körperumrisse gut zur Geltung kamen. Joe musste sich auf die kleine Box in seinen Händen konzentrieren, um beim Anblick von Bettys Rücken nicht auf Gedanken zu kommen, die mit ihrem Vorhaben nicht vereinbar waren. Betty hatte keine Schuhe an. Sie schwebte mit ihren von hellgrünen Seidenstrümpfen umnetzten Füßen lautlos über die mit persischen Teppichen ausgelegten Gänge im 5. Stock. Als sie beim Liftboy im 2. Stock vorbeigeschlichen waren, unterbrach dieser sein Nickerchen und bot ihnen seine Dienste an. Geistesgegenwärtig warf sich Betty um Joes Hals und steckte dem Liftboy hinter Joes Rücken einen Dollar zu. Der Liftboy erkannte, dass seine Dienste nicht mehr benötigt wurden, und schlief wieder ein. Der Liftboy im 5. Stock, in dem die Suite der Bleems lag, hatte einen tieferen Schlaf. Ohne Probleme gelangten Joe und Betty an ihm vorbei zur Tür der Bleems. Joe zog sich einen schwarzen Strumpf über das Gesicht, Betty platzierte eine venezianische Karnevalsmaske vor ihren Augen. Mit großer Sorgfalt drückte Betty die Türklinke nach unten. Die Tür war verschlossen. Betty nahm von ihrer Halskette einen kleinen versilberten Dittrich, steckte ihn ins Schloss und nach wenigen Sekunden war der Weg in die Zimmerflucht der Bleems frei.

    „Wenn sie abgeschlossen hat, ist sicher ihr lieber Henry bei ihr", raunte Betty Joe zu, der ihr eilig ins Innere der Suite folgte.

    Vorsichtig, dennoch mit raschen Schritten durchquerten die nächtlichen Besucher das Vorzimmer, den Salon und das Ankleidezimmer, um an der Tür des Schlafzimmers kurz Halt zu machen. Betty lauschte einen Moment, bevor sie die Türe leise öffnete und einen Blick in das Zimmer warf. In der Mitte stand ein riesiges Himmelbett aus massivem Mahagoniholz. An allen vier Seiten hingen weiße Seidenvorhänge herab, die die Schläfer nicht sofort erkennen ließen. Betty und Joe näherten sich, erst im Gänsemarsch, dann sich trennend von zwei verschiedenen Seiten der Schlafstätte. Behutsam zog Joe einen Vorhang zur Seite. Zu seiner Genugtuung sah er zwei Körper zwischen den Kissen und Decken liegen. Während sich Betty am Nachtkästchen der selig träumenden Broadway-Diva zu schaffen machte, schlich Joe um das Bett herum, um von dessen Fußende einen Blick auf das geheime Liebespaar zu werfen.

    „Hier liegt das Herz nicht, flüsterte Betty, „glaubst du, dass sie es um den Hals hat?

    Joe sah sich im Dunkel des Zimmers um, nahm eine Taschenlampe aus seiner Hosentasche und leuchtete für ein paar Augenblicke die Wände des Schlafzimmers aus. Betty war dem kleinen Lichtstrahl gefolgt. Kurz vor dem Verlöschen der Taschenlampe sah sie etwas Blaues aufblitzen. Wie ein Panther, der sich auf seine Beute stürzen wollte, glitt Betty zur Kommode am Fußende des Himmelbettes. Dort hatte sie eine Schmuckschatulle mit geöffnetem Deckel wahrgenommen, in der das Ziel ihres heutigen Ausflugs lag: Le cœur de la mer. Sie hatten sich nicht getäuscht. Henry Goldman hatte seiner singenden Mätresse den teuersten Saphir seiner Zeit geschenkt. Oder war es nur eine Leihgabe? Ein Präsent für die Dauer ihrer Liaison, das bei Beendigung des Tête-à-Tête retourniert werden musste? Nein, Henry Goldman machte keine zeitlich befristeten Geschenke. Er war ein Mann der alten Schule. Er wusste Eleganz und Manieren zu kombinieren, verband Geschäftssinn mit dem Ausreizen rechtlicher Graubereiche und war sich der Vergänglichkeit von Reichtum und Liebe bewusst. Es war höchst unwahrscheinlich, dass er das wertvollste Geschenk, das jemals einer Vertreterin des irdischen Lebensglückes gemacht worden war, mit einer auflösenden Bedingung versehen hatte. Es dauerte kaum fünf Sekunden, in denen Betty sich über Goldmans Generosität Gedanken machte, das Goldcollier mit dem blauen Herzen aus der Schatulle nahm und Joe in die Tasche seines Anzugs steckte.

    Joe verstaute die Taschenlampe, öffnete erneut den Vorhang und brachte seinen Photoapparat am Fußende des Himmelbettes in Stellung. Betty trat an die Seite des Bettes, wo Goldman schlief, lockerte die Träger ihres Kleides und zog das Bettlaken vorsichtig zurück, das sich Goldman bis zur Brust gezogen hatte. Bei der sommerlichen Hitze mutete es grotesk an, dass es im Bett überhaupt Decken gab. Betty konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Milliardär versucht hatte, seinen unansehnlichen, wenig wohlgeformten Körper, der nur mit einer Short bekleidet war, vor seiner Geliebten zu verstecken. Die Bleems, ebenfalls nicht perfekt gebaut, hatte ihre Rundungen und fleischigen Verwerfungen in ein loses Korsett aus Seide gepackt. Sie sah im Schlaf unschuldig schön aus, aber keineswegs so mondän und verführerisch wie auf den Plakaten ihrer Broadway-Shows.

    Ein heller Blitz erleuchtete das Nest des alten Liebhabers und seiner Mätresse. Joe wusste, dass er nur eine Chance hatte. Die hatte er hoffentlich gut genutzt. Er ließ den Blitzspiegel unter das Bett fallen, verschloss hastig den Photoapparat und rannte bei der Tür hinaus. Fast gleichzeitig rissen Goldman und die Bleems ihre Augen auf, konnten in der Dunkelheit jedoch nur Bettys Silhouette sehen.

    „Wer sind Sie?"

    „Was ist passiert?"

    „Henry, wo bist du?"

    Während Betty die Zimmertür ins Schloss fallen hörte, riefen Goldman und seine Geliebte aufgeregt durcheinander. Goldman griff mit seiner Hand durch den Vorhang hindurch und versuchte, die Lampe auf dem Nachtkästchen zu erreichen. Das war der Augenblick, auf den Betty gewartet hatte. Sie nahm seine Hand, führte sie an den Lichtschalter und, als der Raum erleuchtet war, ließ sie Goldmans Hand langsam über ihr Kleid streifen. Mit der anderen Hand öffnete sie den Seitenvorhang und konnte so in die verdutzten Gesichter sehen. Das aufgeschreckte Pärchen verfolgte gebannt, wie sich Bettys Kleid in spielerischer Langsamkeit selbstständig machte. In einer eleganten Fließbewegung glitt es von Bettys Schultern, über ihre Brüste und Beine hinab. Obwohl Betty die Nummer des „fließenden Kleides schon hunderte Male geübt und in der Praxis vorgeführt hatte, tat sie es diesmal zum ersten Mal in Gegenwart einer Frau. Bisher hatten nur Männer das Schauspiel miterlebt und in allen Fällen war der Erfolg bemerkenswert. In dieser Nacht erlebte Betty den Effekt bei einem aus seinen Liebesträumen gerissenen Paar. Er war überwältigend. Er war so gewaltig, dass ein medizinischer Notfall nicht ausgeschlossen war. Jennifer Bleems brachte nicht mehr als ein röchelndes „Henry über ihre Lippen. Goldman starrte mit offenem Mund und hellwachen, auf die Größe seiner Nase angewachsenen Augen die nackte Frau an.

    „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, dass ich Ihre nächtliche Ruhe gestört habe. Aber Herr Goldman war so freundlich, mir beim Nachmittagstee den Schlüssel seiner Suite zuzustecken. Ich ahnte nicht, dass er nicht alleine ist. Sie erlauben?"

    Während der erste Teil ihrer Ansprache an die Bleems gerichtet war, nahm Betty bei den letzten Worten Goldmans Hand, die noch an ihrem Oberschenkel hing und dort das Kleid vorübergehend gehindert hatte, zu Boden zu gleiten, und legte sie vorsichtig zu Goldman ins Bett. Mit zwei schnellen Griffen hatte sie sich ihr Kleid übergezogen und schlüpfte bei der Schlafzimmertür hinaus. Sie lief durch das Ankleidezimmer, den Salon und das Vorzimmer und stand wieder auf dem Flur. Während sie die Türe vorsichtig schloss, hörte sie aus scheinbar weiter Ferne ein weiteres „Henry!".

    °°°°°°°

    Auf dem Weg von Palm Beach nach Miami gerieten Joe und Betty in ein starkes Gewitter. Der Regen prasselte mit solcher Intensität auf die Windschutzscheibe des Ford T, dass Joe den Verlauf der Straße nur erahnen konnte. Da er, soeben vom Kleinganoven zum Millionär aufgestiegen, nicht riskieren wollte, in dem subtropischen Regenguss sein Automobil in den Straßengraben zu lenken und sich und seiner Gefährtin das Genick zu brechen, hielt Joe den Wagen am Straßenrand an. Es schien unwahrscheinlich, dass seine Verfolger, so es solche überhaupt gab, bei diesem Wetter seiner Spur folgen würden. Betty saß mit zufriedenem Lächeln neben ihm und umklammerte fest ihre Handtasche. Sie fragte sich, ob dieses Naturereignis ihren erfolgreichen Coup in letzter Sekunde vereiteln würde. Oft hatte sie von den sintflutartigen Regenfällen während Floridas heißen Sommermonaten gehört. Zuweilen hatten es unglückliche Automobilisten aus Florida auf die Titelseite der großen Tageszeitungen in New York, Chicago oder Baltimore geschafft, wenn sie bei ähnlichen Wetterverhältnissen von der Straße abgekommen und in ihren für die damalige Zeit hochmodernen Fahrzeugen gestorben waren.

    Joe verschwendete an diese singulären Schicksale keinen Gedanken. Er freute sich, dass ihr Vorhaben so reibungslos gelungen war. Die Krönung wäre es sicherlich gewesen, wenn er Mr. Kenan zum Verkauf des Breakers hätte bewegen können. Doch hierzu war die Zeit nicht reif genug. Kenan war im Gespräch mit Joe, das sie am Tag nach dem nächtlichen Besuch der Bleems geführt hatten, einem Verkauf des defizitären Hotels nicht abgeneigt. Der Gedanke, das Breakers unter Führung der gerade entstehenden Adlon Gruppe in eine rosigere Zukunft gleiten zu sehen, gefiel ihm. Allerdings waren die Interessen der anderen Aktionäre der Florida East Coast Hotel Company zu berücksichtigen. Ob sie mit dem angebotenen symbolischen Kaufpreis von einem Dollar bei Übernahme aller Schulden einverstanden gewesen wären, erschien höchst fraglich. Wie meistens in solchen Fällen waren die Investoren des Breakers dank formvollendeter, den Tatsachen wenig entsprechender Bilanzen über das wahre Ausmaß der Verschuldung und dank poetisch ausgeschmückter, die Realität kaum berücksichtigender Mittel- und Langfristplanungen über die dunklen Zukunftsaussichten des Hotels völlig im Ungewissen. So hatte Joe mit Kenan vereinbart, dass sich Kenan bei Joe alias Percy Adlon melden würde, wenn die Leerstände des Hotels auch die letzten Aktionäre der Florida East Coast Hotel Company von einem Verkauf unter dem Einstandspreis überzeugt hätten.

    Im Grunde hatte sich Joe äußerst ungern von seinem nächtlichen Schnappschuss getrennt. Er musste allerdings einsehen, dass dies Teil seines Handels mit dem Reiseschriftsteller Roth war. Außerdem konnte sich Joe damit den Rücken freihalten. Während er und Betty sich mit dem Cœur de la mer ungestört aus dem Staub machten, wollte sich Roth um Goldman kümmern. Ob Roth der geeignete Erpresser war und dem Millionär genügend Furcht einflößen konnte, damit dieser nicht zur Polizei ging, bezweifelte Joe. Nach der Lektüre des Romans Hotel Savoy, den er von Roth als Abschiedsgeschenk bekommen hatte, hielt es Joe zumindest für wahrscheinlich, dass Roth Goldman dessen prekäre Lage ausreichend plastisch und blumenreich darzulegen vermochte. Darin hatte sich Joe nicht getäuscht. Zwar war Goldman des Deutschen nicht so weit mächtig, dass er sämtlicher ironischer, zynischer und apokalyptischer Zwischentöne von Roths „Bekennerbrief" gewahr wurde. Dennoch verstand er das in formvollendetem kakanischem Deutsch verfasste Schreiben so weit, dass er den Zusammenhang zwischen dem Schweigen über das gestohlene Schmuckstück und dem Vermeiden eines vor dem Scheidungsrichter endenden Ehestreites mit seiner gelegentlich innig geliebten Babette erkannte. Goldmans Angst vor seiner Ehefrau war so groß, dass er seine Geliebte Hals über Kopf auf die Straße setzte und das Verhältnis für beendet erklärte. Sodann breitete er über den Verlust des teuren Colliers den Mantel des Schweigens.

    Wie es der von Joe geförderte Zufall wollte, hatte sich Joseph Roth von Percy Adlon in jenem Augenblick in der Hotellobby verabschiedet, als ein sichtlich aufgelöster Goldman an der Rezeption seine Rechnung beglich und eiligen Schrittes den Ort der verhängnisvollen Liebesnacht verließ. Der Bleems hatte der ertappte Liebhaber die Suite für eine weitere Woche im Voraus bezahlt. Damit wurde der Sturz der Broadway-Diva auf die Straße zumindest gemildert. Eine Woche hielt auch die Bleems für ausreichend lang, um sich Gedanken über die Launenhaftigkeit alternder Mäzene und eine Auffrischung ihres Liebeslebens zu machen.

    „Na, mein lieber Adlon, ich wünsch’ Ihnen alles Gute auf Ihrem wohl weiterhin verwinkelt’n Lebensweg! Ich nehm’ an, Sie werd’n die erbeutete Trophäe baldigst zu Geld mach’n?" Verschmitzt lächelte Roth, als er Joe die Hand zum Abschied reichte.

    „Das wird von meiner geliebten Verlobten abhängen. Ich glaube fast, dass sie den Cœur de la mer am liebsten um ihren wunderschönen Hals baumeln lassen möchte. Ich hoffe, ich kann sie davon überzeugen, dass wir das blaue Steinchen zur Existenzgründung verwenden sollten. Meinst du nicht, meine Liebste?"

    Joe küsste Betty auf die Stirn. Er erinnerte Roth daran, Babette Goldman das Photo frühestens in vier Wochen zu übergeben und verließ mit Betty, gefolgt von zwei Hotelpagen mit ihrem Gepäck, das Breakers. Diesmal hatte Joe die Hotelrechnung ausnahmsweise bar bezahlt – mit dem Geld, das Joseph Roth für das kompromittierende Bild lockergemacht hatte.

    Buch 1 – Henriette und Catherine

    1. Inspektor K. liest einen Krimi

    Juli 2013

    Vom Horizont hörte Inspektor K. das Rauschen des nahen Wasserfalls und im Augenwinkel sah er die auf der Weide grasenden Kühe. Im Mittelpunkt seines Blickfeldes und im innersten Fokus seiner Aufmerksamkeit stand jedoch der Inhalt eines Buches, das er nicht im Vorübergehen lesen wollte. Die Zwergenfalle war wie jedes Buch seines Lieblingsschriftstellers W. Huch ein Kompendium von Verwirrungen und Komplexitäten. Es war überfüllt mit Personen, die sich nicht durch unterschiedliche Charaktere, sondern nur durch ihre Namen voneinander unterschieden. Die spannungslose Story war von Widersprüchen und Absurditäten übersät und trotzdem genoss Inspektor K. jede Seite. Er versank dermaßen in dem Roman, dass er das Gefühl hatte, den Fall gemeinsam mit Kommissar Slivehouse vom New York Police Department zu lösen. Da nicht nur der berühmte Cœur de la mer, ein Saphir, der den Untergang der Titanic am Hals einer reichen Witwe miterlebt hatte, gestohlen, sondern auch Jeremy Goodmarquer, der Besitzer eines Juweliergeschäfts ermordet worden war, konnte Inspektor K. seine Expertise bei der Suche nach den Raubmördern virtuell einbringen. Er fühlte sich mit Kommissar Slivehouse wie durch ein geheimes Band verbunden. Vermutlich lag das daran, dass sich der literarische Chefermittler bei der Aufklärung von weiteren Einbrüchen in renommierte Juwelierläden nicht gerade durch ausgeprägte Verstandesstärke oder genuine Intuition auszeichnete. Inspektor K. kannte die latente Angst, wegen Erfolglosigkeit aus der Mordabteilung in die Drogenabteilung zurückversetzt zu werden. Dem New Yorker Polizisten schien es nicht viel anders zu ergehen als ihm selbst. Die Fälle waren kompliziert, die Verdächtigen meist verschlossen oder – falls mit maßgefertigten Alibis ausgestattet – besonders redselig, die Spuren rar und leicht zu übersehen. Auch Slivehouses Kombinationsgabe schien seiner eigenen nicht unähnlich zu sein. Immer wieder kam es zu Blockaden im Hirn des seelenverwandten Polizisten und seine Denkkanäle verwickelten und verschlangen sich so ineinander, dass es unmöglich schien, den Geheimnissen der verschiedenen Verbrechen auf den Grund zu kommen.

    Warum hatte der Nachtwächter vom „seligen Mr. Goodmarquer" gesprochen, fragte sich Inspektor K. und schloss das Buch. Er ging zum Kühlschrank und wollte sich gerade etwas zu trinken holen, als das Telefon läutete. Es war Hofrat Magreiter:

    „Tut mir leid, K., dass ich dich im Urlaub störe. Aber es gibt einen Fall, der dich interessieren wird. Erinnerst du dich an den Mondseer Mord vor fünf Jahren?"

    Inspektor K. runzelte die Stirn. Er hatte gehofft, seine Urlaubswoche in Ruhe mit seinen Krimis verbringen zu können und zwischendurch den einen oder anderen Marlene-Dietrich-Film auf DVD anzusehen. Dass er bereits am ersten Urlaubstag von seinem ehemaligen Chef belästigt wurde, fand er nicht gerecht. Doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er, wie die Telefonleitung unterbrochen wurde. Vielleicht war sein Urlaubsort auf der Alm nicht so schlecht gewählt. Er drückte die Rückwahltaste und erhielt von einer netten Computerstimme die Information, dass der gewählte Teilnehmer derzeit nicht erreichbar war. Das hieß wohl, dass er sich weiter an den stupiden Ermittlungsversuchen von Kommissar Slivehouse ergötzen konnte. Diesem war es mittlerweile – durch Zufall – gelungen, die verschwundene Leiche des Juweliers Goodmarquer zu finden. Laut Obduktionsbericht war Goodmarquer vor rund fünf Monaten erdrosselt worden. Slivehouse hatte ihn allerdings erst wesentlich später einvernommen. Gespräch mit einem Toten oder Doppelgänger?

    „Ein echter Dummkopf, dieser Slivehouse!", entfuhr es Inspektor K. Er dachte daran, dass ein Zeuge vom „seligen Mr. Goodmarquer gesprochen hatte und deshalb von Goodmarquers Ableben gewusst haben musste, ehe es der Polizei oder den Medien bekannt war. Das bedeutete, dass der Zeuge in die Sache tiefer involviert war, als er zugeben wollte. Inspektor K. erinnerte sich an den abrupt unterbrochenen Anruf von Magreiter und versuchte neuerlich, ihn anzurufen. Die Verbindung war nach wie vor unterbrochen. Inspektor K. tauchte wieder in die Welt des New York Police Departments ein, in der Slivehouse unverhofft Unterstützung von einem erfahrenen und ihm freundschaftlich verbundenen Kollegen bekam. Dass dieser „Rightforsight hieß, entsprach W. Huchs Faible für wohlklingende Namen. Mit Rightforsights Hilfe gelang es Kommissar Slivehouse, den Kopf der Einbrecherbande zu identifizieren. Bis zu dessen Verhaftung musste Inspektor K. Slivehouse auf einigen Umwegen und in so manche Sackgasse begleiten. So wurden rund dreihundert kleinwüchsige Kriminelle verhaftet, da der Einbruch in Goodmarquers Juweliergeschäft nur von jemandem begangen worden sein konnte, der kleiner als einen Meter sechzig war. Dass diese Personen bald enthaftet werden mussten, focht Slivehouse nicht an. Inspektor K. blickte durch das kleine Fenster ins Freie. Das nasstrübe Wetter

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