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Die Horde im Gegenwind: Roman
Die Horde im Gegenwind: Roman
Die Horde im Gegenwind: Roman
eBook880 Seiten12 Stunden

Die Horde im Gegenwind: Roman

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Über dieses E-Book

Eine leere Welt, in der tagein, tagaus der Sturm tost. Manchmal verebbt er zu einem sanften Slamino, selten rast er als verheerender Grimmwind übers Land, doch er weht ohne Unterlass, und stets in dieselbe Richtung: von Fernauf nach Fernab. Immer wieder werden speziell ausgebildete Gruppen – genannt »Horden« – losgeschickt, um stromaufwärts gegen den Wind zu gehen, zu »kontern«, immer weiter, bis zu seinem Ursprung, um die alles überschattende Frage zu beantworten: Woher weht der Wind? Und warum? Was ist da oben, in den unwegsamen Gebieten, die »Fernauf« genannt werden? Dreiunddreißig Horden sind bislang verschollen, umgekommen oder entmutigt am Wegesrand sesshaft geworden. Doch die vierunddreißigste Horde ist fest entschlossen, die letzte zu sein, die Geschichte vom Wind zu Ende zu schreiben. Ob der wahnhafte Furor ihres Anführers Golgoth ihnen dabei Antrieb oder Verhängnis sein wird, ist genauso ungewiss wie das Ergebnis der Berechnungen von Aeromeisterin Oroshi, die den Wind entschlüsseln will wie eine mathematische Formel. Sicher ist nur, dass Sov, der Schreiber, ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in seinem Konterbuch festhält, alle Anfänge und Enden dieser Reise, die für fast alle Mitglieder der Horde ein Leben lang dauern wird. Die Gefahren, denen die Horde begegnet, sind physischer wie metaphysischer Natur, der Wind selbst zerrt an der Erzählung, die diesen einzigartigen Roman ausmacht. 
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2024
ISBN9783751809726
Die Horde im Gegenwind: Roman
Autor

Alain Damasio

Alain Damasio, 1969 in Lyon geboren, ist Romancier, Musiker, Klangartist, Entwickler von Videospielen und noch vieles andere mehr. In seinen Romanen, von der Kritik gefeiert, vom Publikum verschlungen, erforscht Damasio die unerschöpflichen Möglichkeiten polyphoner Narrative in einer geradezu physiologischen Bearbeitung der Sprache, die zum Motor der Emanzipation im weitesten Sinne wird. Sein Roman Die Flüchtigen wurde 2019 mit dem Preis Meilleur Livre der Zeitschrift Lire ausgezeichnet. 2020 erhielt Damasio für seinen Roman den Grand Prix de l’Imaginaire.

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    Buchvorschau

    Die Horde im Gegenwind - Alain Damasio

    I.

    Äolot

    ) Bei der fünften Salve treibt die Schockwelle einen Riss in den Schanzenhals und der sandige Wind drang rau durch die klaffenden Granitfugen. Unter meinem Helm bohrt das schreckliche Geräusch zermalmten Gesteins; meine Zähne vibrieren – ich lehne mich gegen Pietro; Quarznadeln schleifen über seine Kontermaske. Auf dem Boden der uns umgebenden Gasse zwei alte Männer, die zu spät gekommen waren, sie hatten einen Fensterladen vernagelt und sind durchsiebt worden; ich halte vergebens Ausschau nach der Handvoll Kinder weiter vorn auf der Kreuzung, die barhaupt eine Schau abgezogen und Kampfansagen gemacht hatten, die niemand gegen eine solche Kraft, zumal bei dieser Zähigkeit der Luft, erheben darf, nicht einmal wir. Die gesamte Horde ist in diesem Moment gegen die Westseite eines Bauwerks gepresst, das uns im Vergleich zu anderen nicht ganz so erbärmlich verfugt schien, wir warten auf den Rückstrom, auf die kurze Pause in der Beschleunigung, die es uns erlauben wird, im Kontergang in das Straßenlabyrinth einzutauchen und bis zu den Befestigungen vorzudringen und von dort aus weiter, falls wir ausrücken wollen. Falls wir uns – letztendlich – dazu entscheiden sollten auszurücken. Von den höchsten Kuppeln hört man in den Windlöchern verbogenes Metall kreischen; ein Windrad quietscht, stottert – läuft wieder an … verklemmt sich. Die Blätter knistern unter dem Sandbeschuss. Eine weitere Bö – und das Geräusch wird von ihrem satten Gebrüll verschluckt. Zu meiner Linken zwängt sich eine längliche Katze mit zerzaustem Fell in einen Winkel, der für sie zu eng ist. Kaputte Spielzeuge und Kalebassen, über den Boden scharrende Bänke und Terrakottaziegel wie aus drei Metern Entfernung losgelassene Wurfgeschosse fliegen an uns vorbei. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, für niemanden: Der Grimmwind kommt. In einer Stunde wird er da sein. Er kündigt sich wie immer mit einem Quintett an. Und er wird hier keinen Stein auf dem anderen lassen, in diesem Kaff, das in keinem Konterbuch zu finden ist, denn seine quadratischen Häuserblocks, die axialen Gassen und die Lehmbauten hätten schon eine achtjährige Oroshi zum Schreien gebracht.

    »Wo ist Arval?«

    »Kundschaftet das Gelände vor uns aus! Er sucht eine Öffnung im Festungswall.«

    »Und Caracole?«

    »Sie sind zusammen los.«

    »Er soll verdammt nochmal beim Pack bleiben. Scheiße! Ruft sie zurück!«

    »Ist das dein Ernst? Ich höre Sov ja auf vier Meter nicht!«

    »Was? Was ist los?«

    »Carac hat sich wie ein Kobold vom Diamanten entfernt. Coriolis wurde hinten von ihrem Schlitten umgehauen.«

    »War sie in seinem Windschatten?«

    »Sieht so aus.«

    »Scheißdreck …«

    »Pietro? Was machen wir jetzt?«

    »Horst nimmt Coriolis’ Position ein. Wir platzieren sie geschützt im Herzen des Packs. Alma wird sich um sie kümmern.«

    »Wer springt für Horst ein?«

    »Léarch. Er hat sich freiwillig gemeldet.«

    »Und dann? Spielen wir Katzenfliegen?«

    »Wir warten auf den Rückstrom, Firost.«

    ¿´ Freunde der offenen See, auf ein Neues: Seid gegrüßt! Junge Sandglyphen, Chrone und Antechrone, die sich ohne Benimm ankündigen werden, ich erwarte euch auf flinkem Fuß: Lasst uns einander willkommen heißen! Ach, dieser Grimmwind, der alte Pfeifer, wie ich es liebe, seine geflügelte Ankunft zu spüren, chaotisch natürlich, aber dennoch!?

    Habe ich mich nicht vorgestellt? Entschuldigt den Augenblick, der zum Lyrischen verleitet; wir sind, seid gegrüßt, und ihr seid? Caracole, wo bin ich? Ja, er selbst, Troubadour also – und Erzähler von Geschichten. In wessen Dienst? Dem der 34. Horde im Gegenwind, meine Herrschlachten, mit sicherer Hand geführt von ihrem Spurter, dem verbissenen Böenbrecher Golgoth, neunter seines Namens. An seiner Seite, es muss erwähnt sein, unser Schutzkämpfer, der Schnitter mit dem Rotorblatt, ich spreche von Erg Machaon; und zu seiner Rechten, der Pfeiler aller Pfeiler, ein Balken auf zwei Beinen, Firost von Torog, den vor euch zu haben ihr noch schätzen werdet, meine Damen, wenn euch in weniger als einer Stunde meine Väter und Mütter ihr Mehl aus vollen Bronchien entgegenspeien. Nun! Und wer folgt auf diese drei Bestien? Wer erheitert und erbaut? Fürst Pietro, ein della Rocca vornehmster Linie, und sein Gegenstück, Bettlersohn, aufrechte Klinge, stets zu seiner Linken: mein Freund Sov der Tiefgründige, Schreiber genannt, doch für mich ein »Philosov«. Im Nest zwischen ihnen regt sich felsenfest Geomeister Talweg, der die Steine liebt, und dahinter – bin ich zu schnell, soll ich mich bremsen? –, hinter diesen sechs Wundersamen, die unsere Speer genannte Spitze bilden, befindet sich, wie soll es anders sein, das Pack, in drei kompakten Rängen, durchlüftet von unversöhnlichen Voglern, von einer klugen Sammlerin und einer Zünderin, von einem rätselhaften Kundschafter und zwei Handwerksmännern, von Drückebergern – hallo Larco! – und außerdem … wer auch immer? Die drei Fänge im Schlepptau geruhen, sich, uns zu folgen und die Lasten zu ziehen! Wie viele insgesamt? Dreiundzwanzig. Ohne die Habichte und Falken, versteht sich. Alle ausgerichtet, aufrecht, im Lot? Das wohl, ja, aber noch lebendig? Ich weiß nicht recht …

    »Caracole!«

    »Derbidil?«

    »Ich habe das Tor gefunden. Lass uns abströmen und den anderen Bescheid sagen!«

    π Ich warte Golgoths Reaktion ab. Er hat noch keinen Ton gesagt. Alles an ihm drückt Abscheu für das Dorf aus. Er schüttelt den Kopf und rammt die Hacken in den Lehm. Am Ende dieser viel zu geraden Gasse ist der Wall zu sehen. Die Lascini-Kräfte wüten zwischen den Häusern. Innerhalb von Minuten hat sich eine Decke aus Laterit über den staubgrauen gestampften Boden gelegt. Der Himmel hat die Farbe meiner Wurfscheibe angenommen. Ist nur mehr ein langer, sich immer schneller abrollender Metallteppich. Die Dorfstraßen haben sich endlich geleert. Einige Familien hatten noch den Anstand, ihre Alten einzusammeln. Man konnte sehen, wie Türen und Fensterläden sich eine nach der anderen schlossen. Kein Blick, kein Wort in unsere Richtung. Die Klügsten krochen in die Brunnen und zogen sorgfältig die Abdeckung über den Schacht. Die Nestlinge verbarrikadieren sich. Und bestimmt beten sie schon zu irgendeinem Gott, oder gleich mehreren.

    »Auf mein Zeichen formieren wir uns neu! Konterdiamant! Fänge, ihr bleibt mit eurem Schlitten am Arsch hinterm Pack, Hände fest an die Griffe, schließt die Lücken! Wir machen uns im Schnellschritt vom Acker, kontern direkt zum Festungswall und dringen bis zum Durchgang vor. Dort bleiben wir stehen und klären das Weitere!«

    »Warum versuchen wir nicht, bei den Falltüren anzuklopfen? Wir könnten Schutz in einem Brunnen suchen und das Ende des Sturms abwarten!«

    ‹› Da hat dein süßer Mund wahr gesprochen, meine hübsche Coriolis, aber keiner der Männer aus dem Speer wird auf dich hören, weil du nur ein Fang bist, du konterst hinten in der Schleppe und hast keine Ahnung vom Frontwind, du bist erst seit viel zu kurzer Zeit Teil der Horde, wie lange doch gleich, kaum acht Monate. Selbst mir, obwohl sie mich als Sammlerin und Rutengängerin respektieren, würden sie mit einem Lächeln sagen: »Kleine Aoi, komm doch nach vorn, wenn du willst, und gib uns Deckung …« Und natürlich könnte ich das nicht.

    Selbst wenn es bedeuten würde, von einem Holzstück durchbohrt zu werden, würden sie lieber hier draußen im Wind sterben, auf dem flachen Land, als vergraben in einem Brunnen, mit vom Gewicht eines Balkens gebrochenen Wirbeln. Das hat nichts Rationales. Die Bedrohung draußen wird extrem sein. Hier hat man noch eine gewisse Kontrolle, wir müssten bloß eine vernünftige Mauer finden und uns anseilen, ich habe schon ein oder zwei gesehen. Aber was soll’s. Das werden wir nicht tun. Wir werden uns anbrüllen, oh, nicht viel, nur kurz: ein paar Gegenstimmen, bestimmt Silamphre oder Larco, Alma natürlich, und Sveziest, der beim Anblick von Coriolis’ Verletzungen schon jetzt in blanke Panik verfällt. Dann wird Golgoth sagen: »Los geht’s!« Und wir werden losgehen, weil er der Spurter ist, und weil er sich in dreißig Jahren kein einziges Mal geirrt hat, was einen Grimmwind anbelangt. Heute aber habe ich wirklich Angst.

    Ω Sobald ich den Blaast gewittert hatte, seinen Kältegeruch, wusste ich, dass es heftig werden würde. Ich zog meinen Lederhelm bis über die Stirn und schnallte mein Wams fest zu. Bis unter den Rüssel. Ich zog den Kopf ein und stürzte los. In den Snjór. In der Gasse zwickte es wie Schnäbel auf den Wangen. Dass man die Hände drüberlegt. Ich machte den Strom nieder, warf meine Schultern vor, rechts, links, zielgerichtet, stabile Haltung. Ein Stuhl krachte mir ins Knie, Dachziegel flogen über unsere Köpfe. Ich vermied es, zu dicht an den Katen entlangzugehen, denn an den Halterungen waren Sandsegler vertäut, die so brutal gegen die Wände schlugen, dass sie Kerben darin hinterließen. Ich kapier das schon, mit Coriolis. Sie hat die Hosen randvoll, das ist ihr erster Grimmwind. Sie ist quasi noch Jungfrau, drückt die Schenkel zusammen. Aber scheiße, Mann, wir decken sie doch! So gut es geht. Haben ihr sogar den Karren aus den Pfoten genommen. Was? Wir hängen an ihr. Die da vor allem. Sie ist noch ein Kind, aber sie muss den Schrei lernen. Sie hat Mumm. Ich sagte: »Stopp!«, und wir hielten an, die Rücken an den Wall gepresst. Hinter uns krachen ihre Bruchbuden ein. Der Weiler versinkt bäuchlings in der roten Sintflut. Massen von Sand, wie von Waschweibern aus riesigen Eimern vom Himmel gekippt. Da wird nicht geknausert!

    ‹› Um zu Atem zu kommen, habe ich mich hingesetzt und meinen Kopf auf Oroshis Schulter gelegt, sodass ich die Umrisse betrachten kann, die in der Öffnung im Wall verschwinden und wieder herauskommen. Ein steinerner Windfang zwei Meter stromaufwärts vor dem Durchgang teilt den Hauptstrom. Der Wind durchdringt ihn und lässt Staubrinnsale hindurchrieseln. Turbulenzen umkreisen wieselhaft unsere Beine. Es ist sinnlos, sich zu unterhalten oder zu streiten, es reicht aus zu beobachten, wie jeder einzelne unserer Körper hineingeht und wieder auftaucht, ob mit zaghaften oder ausgreifenden Bewegungen, mit verzerrter oder zuversichtlicher Miene, mit welchen Hoffnungen. Talweg blieb lange im Durchgang stehen, er trug seine von einem Windsack gekrönte Schapka und hatte den Hammer schräg über den Rücken geschnallt. Dann verschwand er und tauchte wieder auf, das Gesicht hart, der Bart rötlich, und ließ eine Handvoll Sand zwischen seine Füße rieseln, der so fein war, dass er rauchte.

    »Ich habe meine Proben genommen. Sand aus reinem Laterit! Weder Quarz noch Glimmer; die Körner, die wir vorhin abbekommen haben, waren vom Wall. Das bedeutet, dass stromaufwärts meilenweit nichts kommt. Nur die Wüste, Leute! Und ganz sicher keine Dörfer.«

    »Kann unser Botaniker das bestätigen? Steppe?«, fragt Oroshi und atmet in mein Gesicht.

    »Jep. Buschland, keine Überraschungen: Eukalyptus, ein paar Zwergeichen. Hier und da Spinifex-Büschel zum Grasen. Seit Wochen dasselbe Bukett. Ich kenne das schon.«

    »Also ungefährlich, wenn wir uns vom Eukalyptus fernhalten?«

    »Ungefährlich, wenn wir jeder ein Erdloch mit einem Spinifex davor finden, um unseren Oberkiefer hineinzurammen und dazu das Glück haben, nicht unser Eigengewicht in Sand zu fressen, bis der Spaß hier vorbei ist! Nein, Oroshi, das ist mehr als riskant. Der Spinifex ist im Gegensatz zum Buchsbaum niedrig, er bietet keine richtige Deckung.«

    »Und was schlagt ihr beiden in diesem Falle vor?«

    »Wir legen uns hier bäuchlings vor die Wand, holen das Seil raus und binden uns fest.«

    »Und wenn sie an den Fugen nachgibt? Ihr habt die Mauer ja gesehen, das reinste Gitterwerk! Außerdem könnte uns ein Rotor erwischen, so viel Trümmer, wie hier herumfliegen …«

    »Die Risiken sind bekannt. Immer noch besser, als nackig übers Flachland zu marschieren in der Hoffnung, DIE EINE Bauminsel ausfindig zu machen. Das eine Wäldchen, das den Strom teilt, ohne ihn zu unterbrechen, schön laminar, ohne Wirbel, ohne fiesen Rotor, ein Wunder in Wäldchengestalt!«

    »In der Ebene, abseits der Siedlungen, schlagen viel seltener Objekte ein, Steppe. Wir müssen nur ein geeignetes Gelände finden und wissen, wann man in den Wellen die Luft anhalten muss.«

    »Oroshi, niemand hier stellt deine Expertise bei Grimmwinden infrage. Du bist von uns allen am ehesten fähig, dieses heulende Scheißelend zu überleben. Das Problem sind die Fänge. Hast du dir Coriolis mal angeguckt? Wenn Larco nicht eingesprungen wäre, hätte es sie zerfetzt!«

    π Bei diesen Sturmböen kann ich Steppes Erwiderung kaum verstehen. Alles, was ich weiß, ist, dass der Grimmwind kurz bevorsteht. Dass es Sveziest samt Schlitten wegfegen wird, wenn wir weiter stromaufwärts gehen. Ich denke auch an die Mädchen, besonders an sie. Wir wissen genau, was auf dem Höhepunkt passiert: Das Pack wird zersprengt. Die Böen drängen es auseinander. So ist es letztes Mal gewesen. In der Windstille der Mauer rufe ich dazwischen, damit die ganze Horde mich hören kann:

    »Klüger wäre es, wir blieben hier! Sveziest wird vielleicht mitgerissen. Callirhoë und Aoi genauso, sie sind zu leicht. Wir haben es wahrscheinlich mit einem der kritischsten Grimmwinde zu tun, die wir je gesehen haben. Vom Regen beschwerter Laterit! Schlammiger Boden ohne Standfestigkeit und ein steter Sandstrahl im Gesicht!«

    »Pietro hat verdammt recht!«

    »Pietro ist kein Aeromeister, soweit ich informiert bin!«

    »Na und?«

    »Nur Oroshi kann die umfassenden Risiken analysieren!«

    »Man muss kein Aeromeister sein, um zu wissen, dass es uns zerlegt, wenn wir in diese Wüste gehen!«

    ¿´ Oh, oh, Golgoth, lassen wir die Hordlinge wüst miteinander konfabulieren – streiten, diskutieren, zanken? Warum scheuerst du ihnen nicht eine? Aha, jetzt steht er auf, der Gol, zeigt seine lange, massige Visage, seinen Rüssel mit den geblähten Nasenflügeln, Sonderanfertigung, hervorragend geeignet, um Schnodder rauszuschnäuzen. Er geht an uns vorbei, stämmig, dickschädelig, unruhig und brausend, also wie immer, so fein rotzt er und rotzt noch einmal, auf geht’s, horrido, ausnehmend elegant! Ein Speichelfaden hat sich in seinem rötlichen Bart verfangen, er wischt ihn weg. Er geht zu Steppe, kehrt zu Talweg zurück, sagt drei Worte zu Oroshi, wirft Pietro einen Blick zu, ein Elfenballett, ganz geschmeidig am Ackern. Er weist uns an, uns von der Mauer zu lösen und einen Bogen zu formen. Alle fügen sich, ich für meinen Teil zuvorderst und flink. Er wird sprechen!

    »Erinnert ihr euch an den letzten Grimmwind, mit dem wir fertig werden mussten? Das ist wie lange her, zwei Jahre? Ich könnte das jetzt alles wieder vor euch ausbreiten. Wie wir Verval verloren haben, weil sein Schlitten ihn weggerissen hat. Wie wir Di Nebbé verloren haben, obwohl er ein solider Flügelstürmer war. Er hat bei einer einzigen Bö dermaßen viel Sand gefressen, dass er nicht mehr aufstehen konnte, und als er zum Kotzen in die Knie gegangen ist, wurde er von einem ausgerissenen Zaun niedergemäht, zusammen mit Karst und Firost. Die beiden sind noch bei uns, Wind sei Dank. Ihm aber hat diese drecksverdammte Zaunlatte die Kehle aufgerissen. Wir konnten am nächsten Tag nicht mal seine Leiche finden. Der Grimmwind, der hier langsam, aber sicher im Anmarsch ist, ähnelt dem von damals auf die Bö genau. Gleiche semiaride Dreckswüste, gleicher beschissener Matschboden, der uns unter den Stollen wegschwimmt, wenn wir es nicht bis zu den Sandbänken schaffen. Ich wollte euch das heute Morgen schon sagen. Aber ich konnte nicht. Dann also jetzt.«

    ‹› Der Rückstrom hat eingesetzt. In einer schwebenden Stille, sehr beruhigend, heben sich Golgoths Worte vom Granit der Mauer ab:

    »Ihr seid der beste Block, den ich je im Schlepptau hatte. Vielleicht körperlich nicht der stärkste, das nicht, aber der beste im Konter. Der kompakteste. Wir sind verbunden, Leute, anders kann ich es nicht sagen …«

    »Verknüpft …«

    »Verknüpft, ja, Sov, unser Innerstes, unser Gedärm ist verknotet. Zusammen mit euch kann ich weiter spurten, als mein Vater es je schaffen wird. Ich weiß, dass ich bis zum Ende gehen kann. Und ich will keinen von euch Backsteinen, die unseren Block bilden, je verlieren. Nicht Sveziest, was vielleicht noch einleuchtet, auch nicht Alma oder Callirhoë, die beiden Nervensägen. Ja, nicht einmal Caracole, diesen Muschkoten, der keinen Schimmer hat, wie ein Pack funktioniert, dafür aber ein gutes Gefühl für die Böung, weiß der Teufel warum. Ich sage euch, was ich glaube: Wenn wir schon niedergemacht werden, möchte ich lieber, dass es auf der anderen Seite dieser Mauer passiert, uns allen zusammen, und nicht in diesem Dorf voller Nestnieten, die nicht mal einen Turm haben, um eine Flagge zu hissen! Also, bringt ja nichts, stundenlang zu schwadronieren … Kein Spurter, der noch alle Schrauben im Getriebe hat, würde es riskieren. Aber ich tue es. Und wenn ich mir den Snjór solo reinziehen muss, mit Helm und Harnisch! Ich zwinge niemanden, mitzugehen. Also wenn ihr, das Pack, auf Nummer Sicher gehen wollt, macht doch!« Er rotzte aus einem Nasenloch und zog wieder hoch:

    »Also, wer will hier Wurzeln schlagen? Flossen hoch!«

    π Golgoth, der uns nach unserer Meinung fragt! Das war ja fast etwas beunruhigend … Hat er sich tatsächlich einmal hinreißen lassen. Er hatte direkt zu uns gesprochen – nicht zu seinem toten Bruder, nicht zu seinem verhassten Vater. Es stand außer Frage, dass ich ihn nicht allein würde ziehen lassen. Das wusste er ganz genau. Doch dass er uns diese Wahl ließ, wie theoretisch sie auch sein mochte, reichte mir schon. Sie sprach Bände über ihn, darüber, wie sehr er uns schätzte; und wortkarg wie er war, rührte es mich umso mehr. Ich begann, die erhobenen Hände um mich zu zählen: Alma, Aoi und Callirhoë, Coriolis, Sveziest, Silamphre, der Habichtler, Larco, Talweg und Steppe … Es herrschte eine gewisse Unschlüssigkeit. Das machte zehn Hordlinge, die sich dafür aussprachen, Schutz zu suchen. Eindeutig zu wenige.

    »Wer ist dafür, jetzt loszuziehen? Hebt die Fäuste!«

    Zehn Fäuste schossen in die Höhe. Meine als letzte, weil ich niemanden beeinflussen wollte. Blieben nur noch Caracole und die Dubka-Brüder, die anscheinend niemandes Gefühle verletzen wollten. Sov rief nach Caracole, der den Rückstrom genutzt hatte, um seinen Boo zu werfen. Gefährlich.

    »Caracole, würdest du uns deine Einschätzung mitteilen?«

    »Ja, sicher!«

    »Also?«

    »Ich weiß nicht, was passiert, wenn wir hierbleiben. Aber ich weiß, dass es weiter oben einen Vollwindhafen gibt, zu Fuß erreichbar.«

    ) War das wieder eine seiner so klaren Visionen, wie sie ihn manchmal überkamen? Normalerweise vertraute er sie nur mir an, um die anderen nicht zu beunruhigen …

    »Woher weißt du das?«

    »Ich erinnere mich daran. In der Zukunft.«

    Niemand wusste genau, ob man lachen oder ihn beschimpfen sollte. Die Zeit drängte. Talweg beschloss, ihn ernst zu nehmen:

    »Auf welcher Länge liegt dein Hafen, Carac?«

    »Zehn Grad Süd.«

    »Dann müssten wir ein bisschen in der Schräge kontern.«

    »Bist du dir sicher, Troubadour? Das ist sehr wichtig«, hakte Pietro nach.

    ‹› Caracoles so fluider Körper versteifte sich leicht und büßte einen Teil seiner natürlichen Eleganz ein. Die Windstöße schlugen ihm seine Locken ins Gesicht. Sein Harlekinshemd (genäht aus einer Milliarde verschiedener Stofffetzen, die er den Kleidern von Männern, Frauen und kleinen Knirpsen entnommen hatte, mit denen er, wie er sagte, mehr als einen »lustigen Augenblick« verbracht hatte) war an der Schulter ein wenig purpurn geworden und kräuselte sich.

    »Ich meine es ernst. Eine halbe Stunde stromaufwärts ist ein Hafen, zehn Grad Süd, mit zwei Drakkair-Haken, rostig, aber solide.«

    »Und da sind keine Boote vertäut?«

    »Keine Boote, Freunde. Nur für uns.«

    »Woher weißt du das?«, wiederholte Coriolis und verzog das Gesicht, als Alma den Verband um ihren Arm festzog.

    »Das kann ich euch nicht sagen. Ich habe die Szene erlebt. Wir alle werden dort sein und auf die Welle warten.«

    ) Golgoth persönlich half Coriolis und den anderen Mädchen auf, einem nach dem anderen. Er rückte seinen aerodynamischen Helm zurecht, dieses Wunderding, und drehte sich zu uns um:

    »Wir rücken sofort aus, es wird bald regnen. Hört mir zu: Wir kontern im Tropfen! Horst und Karst, ihr und Barbak nehmt die Schlitten. An den Flanken möchte ich Léarch links und Steppe rechts. Wenn wir vorn einbrechen, unterstützen uns Erg, Talweg und Firost von hinten! Sollte der Speer aufreißen, rückt das Pack nach und blockiert den Rückfall. Und zwar dalli! Bis wir die Kraft haben, wieder in die Gänge zu kommen. Wenn das Pack zerstreut wird, legt euch hin und geht kriechend zurück auf Position, bis ich ›Hoch!‹ rufe. Kleiner Tipp für die Fänge: Wenn die erste Welle anrollt, ist der Reflex – das haben wir alle schon gemacht, und ihr werdet genauso blöd sein wie wir –, den Mund zu öffnen. Wenn ihr draufgehen wollt, ist das eine super Idee. Wenn nicht, Klappe zu. Das erhöht eure Lebenserwartung bis zur zweiten Welle. Kapiert?«

    »Ja.«

    »Versucht nicht mehr zu atmen. Luft anhalten, Luft anhalten, Luft anhalten! Sobald wir dieses Tor passiert haben, gibt es nur noch zwei Menschen, auf die ihr hört: Oroshi und mich!«

    ‹› Oroshi tritt vor, schmal und schön, so aufrecht in ihren Gesten. Sie löst ihren Haik vollständig, breitet ihn im Wind aus und schlingt ihn dann wieder um Arme und Beine, ihren Bauch, ihre Brust und schließlich ihren Kopf. Dann windet sie mohnblumenrote Seidenschnüre um die Stellen, an denen der beige Stoff lose im Wind flattert. Sie ist bereit. Auf ihren umständlich geflochtenen Haarknoten, mitten in ihr dunkles Kastanienhaar, hat sie ein Juweol gesetzt: eine Art winziges, papiernes Windrad, das sich dreht, ohne zu zerknittern. Sie wirkt gelassen, als sie sich uns zuwendet, doch in ihrem Tonfall liegt eine ungewohnte Härte:

    »Schnürt eure Gürtel und Riemen fest bis aufs Blut: Knöchel, Handgelenke, Achseln, entlang der Schenkel und Arme, überall, wo es flattern wird. Mützen und Helme bis runter auf die Brauen. Stellt eure Schenkel- und Schienbeinschützer jetzt richtig ein, später werdet ihr keine Zeit dafür haben. Lasst ein bisschen Luft beim Brustschild, erwürgt euch nicht! Schnallt die Taschen auf die Schultern. Nichts darf sich bewegen oder lose herunterhängen. Der Grimmwind ist eine Buschkatze, deren Krallen nach eurer Haut gieren. Alles, was unbedeckt bleibt, wird schreien! Handschuhe für alle, die welche haben, die anderen lassen sich von Alma die Hände bandagieren. Versucht nach Möglichkeit, niemals direkt zu atmen, sondern immer nur durch Stoff oder vom Wind abgewandt. Die Woge ist acht Sekunden vor dem Aufprall zu hören. Ich beschreibe sie nicht, ihr werdet sie erkennen. In diesem Moment, falls wir Zeit hatten, uns anzuseilen, schützt ihr eure Köpfe und betet zu dem Geist, der euch am nächsten ist, sofern ihr bei Bewusstsein seid.

    Wir haben eine halbe Stunde Slamino vor uns, dann werden die Stöße in sehr kurzen Abständen zurückkommen, ein Crescendo. Das wird sehr bald unerträglich werden, aber ihr bietet dem Wind die Stirn, immer! Die Grimmwindwoge kommt für gewöhnlich nach einer leichten Verlangsamung. Nach meinen Beobachtungen und Folgerungen wird es drei geben. Die zweite wird die schlimmste sein.«

    »Was, wenn wir die anderen verlieren?«, wagte Sveziest zu fragen.

    »Du legst dich auf den Boden.«

    »Füße stromauf oder stromab?«

    »Das ist abhängig von der Beschaffenheit des Bodens, seinem Neigungswinkel, deinem Gewicht, der Woge … Es gibt vierzehn sicher kategorisierte Formen von Wogen. Laminare Wogen, geschnittene Wogen, rollende und schäumende Wogen, zyklonische und aspirierende Wogen, mit oder ohne Wirbel, kreisende und lineare, mit Dreh- oder Sogeffekten …«

    »Und … womit haben wir es wahrscheinlich zu tun?«

    »Scheinbar mit der schlimmsten: einer schäumenden Woge. Mit turbulentem zyklonischem Einschlag, einer Reihe von Wirbeln und bestimmt auch einigen Chronen.«

    »Und was bedeutet das … für uns?«

    »Das bedeutet gar nichts, Zett. Es verdreht dir den Rumpf wie ein auszuwringendes Handtuch. Das war nur ein Scherz! Sicher ist das nicht.«

    ) Alma hatte den Arm von Coriolis fertig verbunden, die bei den letzten Worten Oroshis ganz bleich geworden war. Ich wollte sie gern trösten, doch mir kam nichts wirklich Ermutigendes in den Sinn, das ich hätte sagen können. Bei diesem Grimmwind hatte ich kein gutes Gefühl – weder hinsichtlich des Bodens, der völlig untauglich war, so viel verriet mir Talwegs finstere Mine, noch was dieses Geräusch anbelangte, das an meinen Ohren zerrte und Silamphre, unseren Musikliebhaber, das Gesicht verziehen ließ, während er seine Halskrause herauskramte und auch Sveziest eine reichte. Wir waren schon so spät dran … vertrödelten wertvolle Zeit … Endlich stand Coriolis auf, sie hatte wieder ein bisschen mehr Farbe im Gesicht und unternahm einen letzten Vorstoß:

    »Legt ihr alle hier es darauf an zu sterben? Habt ihr nicht gehört, was Oroshi gesagt hat? Uns erwartet das Schlimmste! Warum bleiben wir nicht hier? Warum? Was wollt ihr beweisen? Mhm? Und wem? Habt ihr meine Schulter gesehen? Wir werden alle dran glauben!«

    Ω Du auf jeden Fall: Du wirst deine Unschuld verlieren, meine Hübsche …

    x Ich ging zu Coriolis und nahm sie in den Arm. Larco sah mich neidvoll an – er wäre nur zu gern an meiner Stelle gewesen.

    »Warum bleiben wir nicht hinter dieser Mauer, Oroshi?«, fragte sie wieder.

    »Weil die Mauer unter der Schockwelle zusammenbrechen wird, noch bevor die Woge sie erreicht.«

    »Und das Dorf, das dahinter liegt?«

    »Dahinter lag. Es gibt kein Dorf mehr.«

    »Es wird zerstört werden? All diese Menschen werden …«

    »Der zyklonische Einschlag. Die Dächer werden abgerissen, die Häuser in der turbulenten Schleppe umhergeschleudert. Mach dich jetzt bereit. Ich bandagiere deinen Kopf selbst, wenn es so weit ist. Du konterst direkt hinter mir im Pack. Nimm die Angst nicht vorweg. Mach einfach, was ich dir sage, und zwar genau, wenn ich es sage.«

    ) Draußen wartete das Buschland auf uns, in seinem roten Gewand aus Laterit prächtig und trist zugleich. Einige verstreute Wüsteneichen legten den groben Kurs für den Konter fest. Ansonsten regierte das Chaos, vor uns lag ein rundes Plateau, übersät von halbfesten Hügeln, instabilen Dünen, die der Grimmwind in die Luft jagen würde. Die Ebene war von Furchen durchzogen, die bei milderem Wetter als leicht begehbare Routen hätten dienen können, heute aber tödliche Gefahr bargen, weil reißende Sandmassen sie zu ihren Flussbetten machen würden. Golgoth war unvermittelt aufgebrochen, er rannte beinahe. Er hatte eine axiale Kammlinie gewählt und zu spurten begonnen. Der Boden, der ausreichend Standfestigkeit gewährte, war zu hügelig, und die Fänge hatten mit den vielen Unebenheiten zu kämpfen. Pietro und Erg koppelten sich zeitweise ab, um sie zu entlasten, aber bald war das nicht mehr möglich. Die Zeit wurde knapp, wir mussten so viel Weg wie möglich zurücklegen, solange der Slamino anhielt. Weiter unten bog sich der Eukalyptus, dass es einen schaudern ließ, einige Zweigbüschel wurden bereits von den Böen abgerissen. Auf Zeichen von Arval, unserem Kundschafter, der sich gut hundert Meter vor uns bewegte, stürzte sich Golgoth plötzlich einen Abhang hinab, der in einer kleinen Schlucht endete, und zog uns mit … Fünfzig Meter weiter brüllte er:

    »Scharf rechts! Leiche!«

    »Nach rechts!«

    »Nicht anhalten, er ist tot!«

    Ein Typ, dessen frische Wunden mit Sand verkleistert waren, lag auf der Seite. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass er noch bei Bewusstsein war – seine Augen sahen noch. Nicht mehr lange: Er blutete stark aus dem Oberschenkel und an seinen Schultern und Hüften klaffte das rohe Fleisch. Erg, der nicht umsonst Schutzkämpfer war, koppelte sich hinter mir ab und drehte ihn um, betastete seine Knochen und strich mit dem Messer über seine Wunden.

    »Und?«, brüllte Golgoth über seine Schulter, ohne seinen Schritt auch nur eine Sekunde zu verlangsamen und ohne Zweifel, dass er eine Antwort erhalten würde.

    »Ein Schrägling, wahrscheinlich ein Pirat! Muss von seinem Sandsegler geflogen sein. Dann hat ihn der Blaast gepackt. Ohne ihre Räder sind die aufgeschmissen, zu Fuß halten sie nicht stand. Er hat ein Bandentattoo, wahrscheinlich werden wir noch mehr davon treffen. Soll ich ihn abkürzen?«

    Das war eine rein rhetorische Frage. Ich machte ein paar schnelle Schritte stromauf, um eine gefühlte Distanz zu schaffen zwischen meinen Ohren und dem Geräusch, das ich erwartete. Ich war nicht schnell genug. Das dumpfe Krachen des Hammers auf dem Schädel ließ keinen Zweifel: Erg hatte ihn abgekürzt.

    »Wir sollten auf den Segler aufpassen, der ist wahrscheinlich auch irgendwo hier gelandet …«

    »Wenn er nicht schon weitergeflogen ist …«

    »Runter!«

    π In dem Bruchteil einer Sekunde wirft sich die gesamte Horde auf den Boden. Der Rumpf eines Segelwagens, der wild hin und her schlingert, ist hinter einer Biegung in der Schlucht aufgetaucht. Er kracht erst links, dann rechts in die Erdhänge und schleudert eine pfeifende Kieselfontäne stromaufwärts. Schließlich kollidiert er mit einem zehn Schritt vor uns aufragenden Felsen. Die Wucht des Aufpralls katapultiert das Gefährt meterweit in die Luft – es landet hinter den Schlitten, ein Heidenglück … Wir warten einige Sekunden ab. Dann stehen wir wieder auf.

    »Arval, auf die Vorspur! Arval!«

    »Ja?«

    »Du gehst stromauf vor und bleibst in Sichtweite! Wenn Gefahr droht, schwenkst du das weiße Tuch!«

    ‹› Sobald Arval das Pack verlassen hatte, fehlte mir seine Deckung, immer wieder war ich frontal dem Wind ausgesetzt. Ich fror und mich überkam das schwer abzuschüttelnde Gefühl, dass der Wind nach und nach bis auf die nackte Haut drang und sich bis in die letzte meiner Fasern schlich. Meine Hosenbeine killten wie Segel, an den Ärmeln und am Hals zerrte der Stoff an mir, der bei dieser Geschwindigkeit nie dick, nie fest genug sein konnte. Ich beneidete die Büsche um die Zwischenräume, die sie zwischen ihren Zweigen eingerichtet hatten, um die großen Luftflocken passieren zu lassen … Seit ich klein war, hatte ich oft den gleichen idiotischen Traum: In solchen Momenten wäre ich gern eine Buchsbaumhecke geworden, statt ein Segel aus Haut zu sein, das sich gegen den Wind stemmt, ein abgeflachter Stamm, der nicht einmal Wurzeln hat, die ihn mit der Erde verbinden …

    Plötzlich brach der gefürchtete Regen über die Schlucht herein. Schwere Wassertropfen klatschten auf meine Stirn, hinterließen dunkle Kreise auf meinem blauen Anzug … Mit einem Mal wurde der Schauer zur Sintflut, der Regen wurde so dicht und der Wind so kräftig, dass ich mich einen Moment lang nicht rühren konnte, bevor mich das Gefühl überkam, ein Kiesel im Flussbett zu sein, der von einer Springflut mitgerissen wird. Ich blieb zurück, in meinem Bauch die Angst davor, den Anschluss zu verlieren …

    »Rivek Dar, Arval!«

    Auf Golgoths Zuruf kehrte Arval zurück zum Pack, ich senkte den Kopf, plötzlich drängten sich alle dichter zusammen, ohne Kommando oder Absprache, einem animalischen Herdeninstinkt folgend. Allein würden wir das nicht durchstehen, niemand von uns, nicht einmal der Gol, wir waren nur ein Häufchen zartes Fleisch in Bewegung, zu einem Block zusammengewachsen, allein jedoch kaum vorhanden, wenig mehr als ein morscher Holzklotz, den die nächste Bö spaltet, Sägemehl, das kraft eines Atemzugs auseinanderstiebt. Und das war allen bewusst, Pietro und Sov noch mehr als den anderen, denn sie konterten gut die Hälfte der Zeit mit dem Rücken direkt zum Regen, die Gesichter uns zugewandt, um das Pack durch Gestik und Stimme besser zu bündeln – den Speer mit dem Pack, den Block mit den Fängen zu verbinden –, manchmal nur durch Blicke, ein paar knappe Worte zur Stellung, zum Tempo, oder eine liebevolle Bemerkung.

    π Innerhalb kürzester Zeit beginnt die Schlammschlacht. Der Lateritlehm nimmt überhaupt kein Wasser auf. Golgoth hat uns aus der Schlucht geführt, lässt den Blick weit schweifen, schickt Arval wieder auf Kundschaft, kreuzt auf. Doch kein Weg führt an der zähen Masse unter unseren Stollen vorbei. Der Regen wird stärker. Die Windgeschwindigkeit nimmt zu, wie erwartet. Wir versinken im Schlamm. Unsere vollgesogenen Kleider kleben an den Gelenken. Wenn es mir einen Augenblick lang gelingt, die Augen zu öffnen, erkenne ich im Gelände vor uns kaum Tiefe. Allein die grünen Kugeln der Spinifex erschaffen Räumlichkeit. Wir stolpern in sie hinein, wühlen uns durch ihre stechenden Halme. Ihre blonden Haarbüschel glänzen, niedergedrückt von den Windstößen. Sie heben sich ab vom Boden, der eine rostbraune Farbe angenommen hat. Das Licht ist gräulich, diesig. Golgoths Spur weist in etwa nach Ost-Süd-Ost. Er führt uns auf halber Höhe der Düne den Kamm entlang, auf der Suche nach den Konterwinden …

    »Landstreicher auf neun Uhr!«

    »Erg, auf Position!«

    »Lass ihn kommen, Erg, er ist verletzt!«

    ) Eine regenüberströmte, gekrümmte Gestalt erschien silhouettenhaft in unserem Sichtfeld, sie taumelte. Die Böen warfen sie hin und her, schoben und schubsten sie … Der Mann ging zu Boden, stellte mühevoll ein Knie auf – schlug wieder hin, mit dem Kopf voran, wie ein schwerer Trinker, der vor Erschöpfung zu Boden geht. Er versuchte, auf allen vieren voranzukriechen, aber mit dem Rücken zum Wind konnte er die Böen natürlich nicht voraussehen, der verdammte Nestling … Stirn bieten! Golgoth änderte seinen Kurs kein Iota, wies mich jedoch an, mich aus dem Pack zu lösen und nach ihm zu sehen. Der Kerl, der ziemlich groß war, hatte sich in eine Schlammlawine manövriert, wunderbar … Er sah mich kommen und griff mit der Hand nach seinem Boomerang, doch ich beruhigte ihn, indem ich die Hände hob. Der dichte Regen zwang mich zu grölen:

    »So kommt Ihr nicht weit, Ihr müsst Stirn bieten!«

    »Der Mast von meinem Segler ist abgebrochen … Es hat das ganze Geschwader zerlegt …«

    »Seid ihr Schräglinge?«

    »Ja … Aber keine Plünderer … Wir sind bloß nomadische Goldsieber … Wir sind losgezogen, um Netze entlang der Bellini-Achse aufzustellen … Der Sturm hat uns erwischt …«

    Der Typ war noch immer auf Knien. Von seinen Haaren tropfte fettiger Schlamm, der Regen spülte Rinnsale von hellrotem Blut über seine Unterarme.

    »Wollt Ihr zurück zum Dorf?«

    Er nickte, den Kopf gesenkt, und fragte mit einem Kloß im Hals: »Wisst Ihr, wo lang?«

    »Eine halbe Stunde stromab.«

    Der Mann riss seine schlammumsäumten Augen auf. Einige lange Sekunden blickte er stromab auf die Horde, die sich in Dreiecksformation stromaufwärts bewegte, während die Schlitten immer tiefer im vom Regen aufgelösten Lehm versanken … Er bat mich zwei Mal zu bestätigen, dass wir »stromaufwärts« gingen. Offensichtlich begriff er überhaupt nichts. Wie auch?

    »Aber wohin wollt Ihr denn?«

    »Weiter hoch.«

    Wieder hielt er inne, noch immer nicht in der Lage aufzustehen.

    »Wer zur Hölle seid Ihr

    »Die Horde.«

    »Die Horde im Gegenwind? Die Konterwindhorde? Die Horde des neunten Golgoth?«

    »Ja.«

    Er schien nachzudenken, soweit er dazu noch imstande war. Er schüttelte ratlos den Kopf, bekreuzigte sich kurz, wollte seine Frage wiederholen, das war zu viel für ihn, doch dann:

    »Nehmt Ihr mich mit hoch?«

    »Stemm dich ganz dicht hinter mir in den Boden. Sobald wir uns ihnen wieder anschließen, gehe ich an meinem Platz im Pack, gleich hinter Golgoth. Ordne dich einfach hinten zwischen zwei Fängen ein. Aber schön aufpassen: Sobald du ›Runter!‹ hörst, denkst du nicht nach, sondern lässt dich fallen. Verstanden?«

    »Danke.«

    Der Anschluss verlief mühselig: Ich musste ihn beim Anstieg eines Hügels mehrfach ziehen, als es wieder bergab ging, war er nicht trittsicher, hatte kaum Gespür für die Salven und schien am Ende seiner Kräfte. Als ich meinen Platz im Pack wieder einnahm, bereute ich mein Angebot bereits, er würde die Fänge behindern, die ohnehin schon unter riesigem Druck standen. Weder die Dubka-Brüder noch Barbak hatten einen Ton gesagt, als er sich einordnete … Wir gingen nun bei unberechenbarem Wind an einem linearen Wald entlang und wurden immer wieder von kreisenden und lateralen Böen aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Intensität des Stroms war mittlerweile derart, dass Golgoth mindestens einmal pro Minute »Kettung!« rief. »Kettung!«, und sofort hielten wir uns fest, griffen einander an Armen und Gürteln. »Kettung!«, und die kollektive Feste handelte: Die Bö strich über uns hinweg, ohne einen Spalt zu finden, in die sie hätte eindringen können, um uns auseinanderzutreiben. Wir schlossen uns zusammen. Formten einen Block. Unbezwingbar. Nicht unterzukriegen. Der Überlebende hinten verstand sicher nicht, was vor sich ging, folgte aber der Bewegung, hielt durch, streckte seinen Arm aus, fiel in unser »Block!« ein, wenn er »Kettung!« hörte. Es …

    »Runter!«

    … gab eine Explosion: Die Anhöhe vor uns wurde von einem Blaast pulverisiert und verteilte sich im Raum. Eine Mischung aus Sand und Laterit spülte über unsere Rücken und Schultern hinweg. Als ich wieder aufstand, ganz und gar von Erde bedeckt, stellte ich zweierlei fest: Die Fänge waren von ihren Schlitten mehrere Meter nach hinten gezogen worden, doch sie waren noch ganz. Der Schrägling allerdings hatte sich nicht auf den Boden geworfen – zumindest nicht rechtzeitig …

    »Sov, lass gut sein!«

    Ich konnte es nicht, oder nicht mehr, gut sein lassen. Ich strömte einige Klafter ab, wobei der Wind den Stoff an meinem Rücken sofort mit diesem widerlichen, horizontalen Regen durchtränkte, bis aufs Unterhemd, bis auf die Haut. Ich musste nur bergab gehen, die Anhöhe hatte sich zum Teil etwas weiter entfernt neu gebildet, aber in die Länge gezogen und über ein Dutzend Meter abgeflacht. Ich ging rasch voran, suchte nach etwas, das aus der Anhäufung herausragte. Ich fand es. Der Kerl war ein Stück Erde geworden, nicht mehr und nicht weniger. In seinem Hals, seinem Mund, steckten …

    »Lass gut sein«, hörte ich undeutlich. »Du hast getan, was du konntest …«

    Die Stimme erklang in einigen Schritten Entfernung: Das war wohl Pietro.

    »Geh zurück in den Speer. Wir müssen spurten.«

    … in seinem Hals steckten Teile seines Kinns.

    Tatsächlich war er nicht der letzte seiner Bande, dem wir über den Weg liefen. Es müssen so um die fünfzehn gewesen sein, auf der Suche nach einem Dorf oder Unterschlupf, als der Sturm sie kalt erwischte, ihren Segler kenterte und sie zwang, sich aus dem Stegreif dem zu stellen, auf das sich vorzubereiten man ein ganzes Leben verwenden kann. Wir waren nicht unbedingt athletischer als sie, doch wir formten einen Block, mit der bestmöglichen Besetzung auf jedem Posten oder zumindest mit großer mentaler Stärke, ganz zu schweigen von Erfahrung und einem so vollkommen dem Wind und der Zähigkeit des Konterns gewidmeten Alltag, dass es für uns nicht mehr im Bereich des Möglichen lag, von einer Bö niedergestreckt zu werden. Ich sah sie durchaus, die Schräglinge – doch rührten sie mich trotz der Blutflecken kaum, so wenig schienen sie noch sie selbst zu sein. Mit ausgerenkten Gliedern stolperten sie aufs Gewindewohl an unseren gleichgültig dreinblickenden Augen vorbei, entleerten sich wie Puppen mit aufgerissener Haut, aus denen das Stroh fiel. Nach einigen riefen wir, die meisten ignorierten wir. Ohnehin hätte keiner von ihnen auch nur zehn Minuten in unseren Rängen, mit unserem Tempo durchgehalten oder sich in unsere Instinkt gewordene Disziplin einfügen können, diese Kraft … Diese Kraft? Womöglich würde sie nicht ausreichen, um dem standzuhalten, was uns erwartete … Sie führte die Neulinge hinters Licht, solange die Geschwindigkeiten sich in einem erträglichen Rahmen bewegten oder eine gute Verkettung sowie ein gelegentliches »Runter!« einen Großteil der Gefahr zu bannen vermochten. Aber danach?

    »Du sagtest fußläufig erreichbar, Caracole?«

    »Yak! Vielleicht noch zwei Meilen.«

    »Wenn das so weiter geht, müssen wir die schwimmen!«

    »Laut meinem Kompass stimmt der Kurs.«

    »Alles klar, Mädels?«

    »Ja, Larco!«

    »Coriolis? Was macht dein Arm?«

    »Nässt durch. Schmerzt.«

    »Mich schmerzt es auch: nämlich wenn ich dein Lächeln sehe!«

    »Hau ab, du Idiot.«

    »Achtung!«

    π Der Falkner ist ausgerutscht und hat damit Steppe und Aoi hinter ihm zu Fall gebracht. Wortlos steht er wieder auf. Seine fein geschnittenen Kleider sind schlammbedeckt. Er nimmt seine Position an der Flanke wieder ein. Weitere Stürze geschehen, bis Golgoth in seiner grimmigen Konzentration, unter Spannung wie ein Drahtseil, endlich einen Felsaufschluss wittert, zur Erleichterung aller, insbesondere aber der Fänge, die sich so sehr quälen, ganz ohne zu jammern. Weder Coriolis noch Sveziest wären je in der Lage gewesen, bei diesem Tempo und auf solchem Gelände die vollgesogenen Schlitten zu ziehen wie es die Dubka-Brüder mit beeindruckender Kraft tun, oder auch Barbak, dessen unersetzliche Erfahrung als Schlepper wir erst jetzt richtig zu schätzen lernen.

    ) »Verbunden«, hatte Golgoth es genannt, »an den Gedärmen verknotet«. Nein, ich bin es, der ihm das letzten Monat zugeflüstert hat. Erstaunlich, wie gewisse Worte seinen Panzer durchdringen und einsinken, um viel später wieder an die Oberfläche zu gelangen, sein eigen geworden. »Verknotet.« Wir werden nie erfahren, womit das zusammenhängt. Ununterbrochen sehe ich mich nach Aoi um, meinem Tröpfchen, so leicht, schwankend unter dem Regen, über die Schultern halte ich nach Callirhoë Ausschau, einem falbfarbenen Fleck, genauso zerbrechlich mit ihrer Haltung, die einer Flamme gleicht, die der kleinste Windstoß erledigen könnte, ich frage nach Sveziest, der zu weit entfernt ist, als dass ich ihn sehen könnte, ob er klarkommt, um ihn gut zu schützen. Ich spreche, ich löse Pietro ab, der allen Mut macht, immer Haltung bewahrt, nie die Nerven verliert, denn er ist und bleibt in seiner Bescheidenheit unser amtierender Fürst, dem wir verdanken, dass die Gruppe standhält und zusammenhält, Golgoth und seinen Tobsuchtsanfällen zum Trotz.

    π Der Regen hat nun vollständig aufgehört. Der Sand trocknet mit ungeahnter Geschwindigkeit. Keine Spur eines Hafens, wohin ich auch blicke. Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, ob wir Caracole hätten vertrauen sollen. Ich befürchte eine Katastrophe. Die ersten Medusen fallen vom Himmel. Wir haben gigantische Exemplare mit herausquellenden Innereien auf dem Boden gefunden, was darauf hindeutet, dass sich der Wind auch in den höheren Lagen verdichtet. Kurz gesagt, es geht los … Golgoth zögerte keine Sekunde. Er weist uns an, uns Reihe für Reihe anzuseilen. Er hält an Caracoles Vision fest. Er folgt dem Kompass auf demselben Kurs. Er spurtet nicht mehr mit Feingefühl, denn man sieht ohnehin nichts mehr. Die Luft rinnt vorbei, orange gefärbt. Ein körniger Fluss, der prasselnd auf den Oberkörper trifft, unablässig gegen den Kopf hämmert. Wir haben die Lederhauben übergezogen und öffnen kaum mehr die Augen, selbst wenn es für einen kurzen Moment abflaut. Wir müssen bereit sein, in die Woge zu tauchen, wenn sie sich ankündigt. Ich registriere das kleinste bisschen Fels, die geringste Mulde, in der man Schutz suchen könnte. Bereit sein, bereit für die Explosion … dafür, sich bäuchlings zu Boden zu werfen.

    »Da können wir abtauchen!«

    »Wo?«

    »Rechts, hinter dem Felsen!«

    »Da kriegt man keine drei Leute unter!«

    »Wir müssen weiter!«

    »Wir schaffen das, meine Schilfhalme, der Hafen ist ganz nah!«

    »Am Arsch, da kommen wir niemals rechtzeitig an! Wir müssen uns langmachen!«

    »Keiner macht sich lang! Stopft die Löcher in der Schleppe!«

    »Aoi ist kurz vorm Zusammenbruch … Haltet sie gut fest …«

    »Da ist eine Senke! Eine gute Senke! Golgoth!«

    »Er hört dich nicht, Léarch! Wie immer!«

    »Klappe halten im Pack!«

    ) Meine Stimme sorgte schließlich für Ruhe. Ein bisschen Ruhe zumindest. In den Konterbüchern, die ich während meiner Ausbildung zum Schreiber lesen konnte, nahm der Grimmwind immer eine Sonderstellung ein. Er bleibt die aktive und unvorhersehbare Gestalt des Todes. Jede Horde ist ihm begegnet – teilweise sogar sieben oder acht Mal, und jeder Schreiber hat im Rahmen seiner Kenntnisse und Möglichkeiten versucht, seine Lehren daraus zu ziehen, um die zukünftigen Horden zu retten. Diese Lehren sind merkwürdig, manchmal verrückt, meistens geistreich und stichhaltig. Sie alle sind bewegend, weil sie mit den Fingerspitzen einen Faden in Richtung der Zukunft spannen. Als trüge jede Horde, auch wenn sie bereits zerstört, zerschlagen ist, in ihrem Inneren, eingeschlossen in ihren Glauben, die Hoffnung, dass eine einzige unter ihnen, in fernen Zeiten und weiter Ferne, vielleicht viele Jahrhunderte stromauf in der Zukunft, mithilfe der gesammelten Großtaten der anderen, das Fernstromauf erreichen wird – und dass sie somit alle legitimiert wären, was auch aus ihnen geworden ist, für alle Zeit. Die Kraft dieser Verbundenheit wird kein Nestling, kein Freole je verstehen. Sie ist es, die uns jeden Tag aufstehen lässt, wenn der Wind sich hebt. Sie ist es, die uns aufrecht gehen lässt, wenn es hagelt, wenn der Regen peitscht, angesichts der scharfen Hiebe der Stesch, ohne zu schwanken, ohne einzubrechen. Sie ist es, die uns niemals aufgeben lässt, um keinen Preis, denn hinter uns stehen voller Zuversicht diese erhabenen Toten, die wir bis zum Ende ehren werden, nicht weil sie, und sei es heldenhaft, gestorben sind, sondern weil in ihnen diese Gabe, dieses wütende Vertrauen lebendig war, dass sie uns geschenkt haben, ohne auch nur eine Vorstellung zu haben von unseren Gesichtern oder unseren Körpern, unserer eigenen Reise. Sie wussten, was wir wissen: dass die Hordlinge sterben, nicht aber ihr Kampfgeist. Dass uns der Anblick eines Rotts, der den Rüssel in die Brise hält, eines Buchsbaums, der einer Bö widersteht, ausreicht, um intuitiv zu verstehen, in welche Richtung der Mut weht. »Lebhaftig ist, der seine Stirn bietet. Dreh dich niemals um, außer zum Pissen« – war als Motto dem Konterbuch der 19. Horde vorangestellt. Vor mittlerweile siebenundzwanzig Jahren sind wir in Aberlaas, Fernstromab, aufgebrochen. Wir waren elf Jahre alt. Und wir haben keinen Blick zurückgeworfen.

    ‹› Ein regelrechter Sandfluss geht ununterbrochen auf uns nieder. Wir werden nicht entkommen! Das ist nun nicht mehr möglich. Selbst wenn der Hafen in nur hundert Metern Entfernung läge, würden wir ihn nicht sehen, selbst in zehn Metern nicht. Vielleicht haben wir ihn schon verpasst … Vielleicht ist er hinter uns, stromabwärts. Es kam mir eben so vor, als wäre auf der rechten Seite … Oder auf der linken, wer weiß? Heiliger Hauch, wer weiß das schon? Panik kommt auf, nicht zu bremsen. Ich drücke die Mädchen an mich, ich habe Bauchkrämpfe, ich stütze mich auf Alma …

    »Verstärkt den Speer!«

    »Was?«

    »Stützen! Stützen!«

    »Kräftig! Block! Blooooock!«

    x Der Speer ist unter der Heftigkeit der Bö durchgesackt. Die Beschleunigung ist so enorm, dass die Flügelstürmer mechanisch ins Innere des Packs eingeschert sind. Nur unter großer Anstrengung bleiben sie auf Linie, um das Heck zu schützen. Das ganze Pack steht bleischwer verankert und fest. Noch. Die Luft fließt nicht mehr, sondern hat eine halbfeste Konsistenz angenommen. Jede Fluktuation trifft den Block wie ein heftiger Schlag. Treibt ihn auseinander. Der Falkner ist wieder zu Boden gegangen. Er kriecht zurück auf Position, steht auf und stürzt erneut.

    »Halt dich fest, Darbon!«

    Hinter uns heben die Schlitten ab und werden durch die Luft geschleudert. Sie schlagen auf, wirbeln herum, schlagen wieder auf …

    »Macht die Schlitten los! Macht alles los!«

    »Nein!«

    »Macht sie los!«

    »Nein! Die Helme und die Vögel sind da drin!«

    Die Dubkas haben die Griffe der Schlitten direkt in ihr Gurtzeug eingehängt. Die dreißig Kilo schwere Ausrüstung zerrt flatternd an ihrem Rücken.

    »Helft Léarch! Stützt ihn von hinten!«

    »Er steht doch!«

    »Haltet ihn fest, er hat Schlagseite! Er ist fast am Ende!«

    ) Dann kam der Teil, wo die Erde selbst sich schollenweise erhob. Was uns da entgegenraste, hatte keine Form mehr, aber eine Farbe, ziegelrot – und einen Klang – den Klang eines kalten Sturzbachs bei Hochwasser. Vier Mal gab Golgoth den Befehl, zu Boden zu gehen. Vier Mal ließ er uns wieder aufstehen und zog uns, nur mit seiner Stimme, seinem Zorn, weiter stromauf, obwohl kein einziger Hordling mehr den Mut zum Konter aufbringen konnte. Sagt über Golgoth, was ihr wollt, aber nicht in meiner Gegenwart. Er fragte wieder und wieder, unermüdlich, ob der Kurs stimmte. Und er stimmte. Und als der Punkt überschritten war, ab dem es unmöglich wurde, aufrecht zu gehen, krochen wir in der Hocke voran, unter Dauerbeschuss des Sandes und der Steinscherben, blind unter unseren Lederhelmen und Mützen, unter den gewickelten Stoffbandagen, unter den Schapkas und Jutehauben, die gegen die Reibung helfen, nicht aber gegen den Aufprall des Blaasts.

    Eine lange, wehende Verheerung suchte den Raum heim, und wir waren verloren, wirr vor Erschöpfung, pockennarbig, benommen inmitten des Buschlands, inmitten des laminaren Wütens auf dem Weg zu seinem Höhepunkt, Zweige schossen wie Pfeile durch den Ziegelvorhang, unvorstellbare Gegenstände durchbohrten die Staubmasse, tauchten plötzlich auf, Propeller kamen aus dem Nichts, Eimer, zerrissene Netze und Beutel, alles, was geglaubt hatte, sich halten zu können, alles, was sich schwer genug gewähnt hatte, ohne es je zu sein – bis hin zum Rumpf eines Aerogleiters, der Meter um Meter vorangeschoben wurde, und einem Sandsegler auf Geisterfahrt, der in vier Schritten Entfernung an Léarch vorbeiraste, das Segel blockiert, führerlos, und in der endlosen Weite stromabwärts verschwand.

    »Da!«

    »Was?«

    »Da drüben, rechts!«

    »Wer hat das gesagt?«

    »Silamphre! Steuerbord meint er!«

    »Was, Steuerbord? Man sieht doch überhaupt nichts!«

    »Hört hin! Hört genau hin!«

    Einen Moment lang glaubte ich, Silamphre würde halluzinieren, so sehr belegte das Gebrüll des Snjórs das gesamte Hörfeld. Dann nichts, ein kurzer Klagelaut, eine winzige Melodiefaser, kaum hörbar, am äußersten Rand der Wahrnehmung, als würde sie sich aus einem Traum herauswinden, sich inmitten des dröhnenden Stamms freikämpfen. Keine Musik, auch kein Geräusch, erst recht keine Stimme, nein, die Frequenz stieg an und fiel wieder, vermischte sich mit dem schrecklichen Rauschen, durchschnitt es, erschien an seiner Oberfläche, um kurz darauf wieder darin einzutauchen.

    »Was ist das, Silamphre?«

    »Hört ihr das?«

    »Kaum. Was ist das?«

    Mein Herz machte einen Sprung, als ich begriff. Dieses Heulen, ja genau! Das Äolot im Hafen! Die äolische Sirene, die bei schlechtem Wetter die Schiffe leitet!

    »Tatsächlich, verdammt nochmal!«

    »Heilige Scheiße!«

    »Krebskonter! Steuerbord! Runter auf Position! Sov, Pietro, Steppe, Talweg und Erg zu mir an die Angriffsflanke, das Pack dahinter! Wir nutzen den Frontalschub und gleiten!«

    Hastig ließen wir uns fallen und kamen wieder hoch. Wir glitten – ein bisschen, sehr kurz. Wir zersprengten uns. Krochen und krochen, so schnell es ging, halbertrunken im Sand, eine irrende Schar, doch noch immer vereint. Mühsam machten Golgoth, Pietro und ich eine Art Kanal aus, der alle fünfzig Meter mit durchbohrten Felsen markiert war … Pfeifmännchen! Sie pfiffen im Wind, insofern sie noch nicht von Erde verstopft waren. Langsam, wie ein havariertes Schiff, das den Weg zum Hafen sucht, bewegten wir uns gen Süden, Wind von Backbord, den Pfeifmännchen folgend wie einem nächtlichen Führer, der eine mickrige Kerze trägt, auf Ellenbogen robbend in den ausgesetzten Partien, laufend, sobald der Bereich ein wenig geschützt war. Als der Kanal abbrach, blieb uns nur noch das mittlerweile unüberhörbare Signalhorn des Äolots. Allein in der gewaltigen Weite des Buschlands, nur für sich selbst spielend, rief das unverhoffte Nebelhorn uns zu sich, mechanisch zwar, und doch, in diesem Moment, menschlicher als eine Mutter nach ihrem Kind ruft, unvergleichlich kostbar. Wir wussten nicht, welchen Hafentypus wir zu erwarten hatten, rannten seinem Ruf entgegen, diesem nostalgischen und zugleich dringlichen Singsang, während die Sturmbö uns in die Schräge warf.

    x Ich habe mich bis zur Kaimauer vorgetastet, mich mit dem Rücken zur Wand gesetzt und mir den Stoff von den Augen gezogen, um die Umgebung so genau wie möglich zu analysieren. Anhand der relativen Abschwächung des Stroms errechne ich, dass uns zwei Minuten bis zum Eintreffen der Woge bleiben. Die Kaimauer, die zwei Meter in der Höhe auf zehn in der Länge misst, besteht aus aufeinandergeschichteten Granitblöcken, inmitten derer – das hat Caracole richtig erkannt – zwei Anlegehaken befestigt sind. Das Becken, in das der Hafen sich einfügt, ist eine natürliche Talsenke, dessen scharfer Kamm in etwa sechs Metern Höhe verläuft. Der gepflasterte Boden ist mit einer Sandschicht bedeckt, die dick genug ist, um das Offensichtliche zu bestätigen: Es handelt sich um einen Vollwindhafen, der kaum ausgebaut ist und so gut wie keinen Schutz vor dem Strom bietet.

    »Holt die Helme und Seile raus! Verschnürt die Schlitten und vertäut sie an den Haken.«

    Die Senke ist oval, mit einem sanften Gefälle stromauf und einem steilen stromab. Ich beobachte die Flut. Zeitweise fällt sie katabatisch ab, prallt aufs Pflaster, streift die Anhöhe weiter hinten und steigt wieder auf. Unter der Woge wird sich das anders verhalten. Wenn die Schockwelle eintrifft, wird der Nachhall uns gegen die Kaimauer werfen und uns dann spiralförmig in den Himmel saugen.

    »Tropfenformation, siebenreihig! Lasst fünfzehn Seilmeter zwischen Golgoth und dem Kai, dann macht ihn fest.«

    »Fünfzehn Meter am Arsch! Da kommen wir aus der geschützten Zone! Ich will die Woge nicht voll in die Fresse kriegen! Wir müssen dicht an der Kaimauer bleiben!«

    π Oroshi lässt sich nicht einmal zu einer genervten Geste hinreißen. Erg dreht ihr den Rücken zu und passt seinen Stahlhelm an. Als er sich wieder umwendet, sieht er noch beeindruckender aus als sonst. Oroshis Stimme hebt sich erneut. Sie ist nach wie vor klar und schön:

    »Fünfzehn Meter, Erg. Sonst zerschellst du an der Kaimauer.«

    »Unmöglich!«

    »Die Konterwoge, Erg.«

    x Die Seile sind entrollt. Ich überprüfe noch einmal die Distanz: Fünfzehn Meter, sehr gut. Ich fahre fort:

    »Acht Seile, vier auf jedem Ring. Direkt seilen sich an: Golgoth, mit zwei Seilen, dann Sov und Pietro, Erg und Firost, Horst und Karst. Jeder hakt sich bei seinen Nebenleuten ein, Reihe für Reihe. Dann vorn und hinten. Vor euch nehmt ihr zwei Ankerpunkte. Aber lasst eine Armlänge Platz um euch. Warum stehen wir nicht eng zusammen? Wegen des Durchstroms. Er muss granulär verlaufen.«

    Der Wind hat abgeflaut: Die Woge kündigt sich an. Ich laufe zurück an meinen Platz im Herzen des Packs. Die Karabiner sind bereit. Karst zu meiner Linken und Alma zu meiner Rechten klinken sich in meinen Gurt ein. Ich greife die Gurtschlaufen vom Falkner und von Steppe vor mir und bringe meine Öse an. Dann fühle ich, wie Larco sich an meinem Rücken zu schaffen macht. Caracole allerdings spüre ich nicht …

    »Caracole? Hak dich ein!«

    »Caracole, komm her!«

    »Der ist doch bekloppt!«

    »Holt ihn zurück!«

    ) Als die Horde sich schließlich mit kleinen, nervösen Schritten in ihre geometrischen Reihen fügte, die schweren Vollhelme aus Stahl oder Holz bei denen, die stämmig genug waren, um unter ihnen nicht einzuknicken, richtig saßen, tat Caracole etwas Ungeheuerliches: Er verließ das Pack. Verstummt im Angesicht dieses Wahnwitzes sah ich ihn zur Kaimauer rennen, die er schwungvoll erklomm, um auf den Kamm hinüberzuspringen, wo er sich auf die Knie fallen ließ und die Hände gegen das Licht hob, während die Kraft des Erdbachs, der stetig über ihn hinweg rollte, seinen Torso gen Boden drückte. Für einen Moment schien er wie durchsichtig unter dem bohrenden Wind. Ich wollte ihm etwas zurufen, aber ich fürchtete mich zu sehr, zu groß war das Entsetzen, das meine Lungen füllte, um … Er hatte sich sowieso schon wieder umgedreht … Er ließ sich, ein Knie vorangestellt, den Hang hinuntergleiten, um eine Verbeugung anzudeuten … Woraufhin er den Mund öffnete, eine ausreichend große Menge Luft für einen großen Ausspruch in den Bauch saugte, und diesen einen Satz sprach, dessen Bedeutung mir im Nachhinein unendlich schöner scheint, als ich es in dem Moment empfand:

    »Grimmwind! Jene, die reifen werden, grüßen dich!«

    Und er sprang in den Sand, katzengleich, um seinen Platz in der Horde einzunehmen und sich anzuseilen …

    x Mit einem Mal knarzten die Seile, und die Horde zog sich zum Block zusammen. Wir hörten es. Acht Sekunden.

    ) Das war der Moment, klar erkennbar, in dem der Wind zu pfeifen aufhörte und eine wirklich unmenschliche Geschwindigkeit erreichte, die selbst den Steinen, selbst den Buchsbäumen unerträglich war. Sein Klang verlor die schrille Schärfe, verließ die fünfte Form und wurde, was – einmal gehört – kein Hordling je aus seinem Körpergedächtnis löschen konnte, die entsetzliche Fackel scharrender Erde, die man Grimmwind nannte. Der schleudernde Donner der Schockwelle war in etwa hundert Kilometern stromaufwärts zu hören, und in diesem Moment, obwohl es nicht mein erstes Mal war, obwohl ich meinem fünften Grimmwind gegenüberstand, stieg kaltes Entsetzen meine Wirbelsäule empor und der sofortige, völlig sinnlose Reflex, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte …

    »Schützt euch!«

    »Gottverdammte Scheiße …«

    II.

    Chron

    ¬ Diejenigen, die behaupten, »während der Woge habe ich dieses und jenes gedacht«, lügen. Wenn sie kommt, denkst du nicht mehr. Du vergisst alles, was du tun wolltest, zu sein träumtest, zu können glaubtest. Der Körper allein reagiert. So wie er eben kann. Er leert den Darm, pisst sich ein. Rammt die Zähne in die Zunge wie in ein Stück Fleisch. Zerrt brennend an den Sehnen, die sich krampfhaft an den Vordergurt klammern. Er sabbert. Und danach? Danach erzählt jeder, was er will, er berichtet, sie schmückt es aus, er benennt, spaltet, was nur ein Fels aus roher Angst ist … Was ich meinerseits euch sagen kann – euch Nestlingen, die ihr in euren Steinkäfigen sitzt, wenn ihr uns morgen oder in sechs Tagen in eurem schönen Dorf ausfragt – ich sehe euch schon vor mir, die Überlebenden der bequemen Brunnen, der glatt verputzten Katen, mit euren reifen Wangen im Abendlicht, ja, im rötlichen Sonnenlicht, das durch eure durchsichtigen Glasscheiben dringt, darauf wartend, dass man euch berichtet, dass man das Relief der Heldentaten für euch poliert, weil nämlich bei Grimmwind … Aber sprechen wir nicht mehr davon. Bei Grimmwind gibt es nichts zu sagen. Es gilt nur zu überleben, wenn er an deine Stirn anklopft – denn weder umfasst noch »überkommt« er dich oder sonstige Abgeschmacktheiten: Er schlägt wie ein Spalthammer in jeden Haarriss deiner Knochen. Man kann nichts tun außer durchhalten und den Hals einziehen, der – vom Aufprall – nach hinten gedrückt wird. Durchhalten, sonst nichts. Und das habe ich getan. Der Gurt hat blutige Striemen in meine Hüften geschnitten.

    »Alles klar?«

    »Morrrff …«

    »Alles klar, Leute? Wer ist verletzt? Antwortet!«

    x Gurgelnde Geräusche ertönen, Grunzlaute wie von gebeutelten Tieren, die nach einem Unwetter ihr Fell ausschütteln. Einige Böen durchspülen noch das Becken, verteilen kleine Sandwehen, einige rote Windhosen pfeifen entlang der Ränder, sinken ab und zerfasern, doch der Großteil der Vortices ist vergangen. Eine Atempause kündigt sich an, sie wird etwa eine halbe Stunde dauern, doch ich fürchte mich vor den Chronen, die sich in der Wirbelschleppe bilden. Im Großen und Ganzen ist es so abgelaufen, wie ich gehofft hatte. Das Schlimmste trifft nicht immer ein, so sagt man, wobei nur wenig dazu gefehlt hat. Das Schlimmste kommt mit der zweiten Welle.

    »Oroshi … Oroshi! Was ist passiert?«

    Das ist Aoi, die leicht an meinem Ärmel zieht. Ihr Gesicht ist hellgrün. Sie hat ihren Turban gelöst, um etwas Luft an die Haut zu lassen, doch keine Farbe hat sich getraut, in diese Haut zurückzukehren, um die wir sie alle beneiden, die weichste und am besten erhaltene der ganzen Horde. Selbst unter Schock strahlt sie Anmut und kindliche Leichtigkeit aus.

    »Willst du wirklich die Einzelheiten wissen?«

    »Ja, ich will es verstehen.«

    »Siehst du den schroffen Grat da vorne, auf dem Kamm?«

    »Ja.«

    »Von dort kam der Strom und traf ziemlich genau die Mitte des Packs, auf unserer Höhe. Vorn hatten sie ein relatives Tief und wurden in Richtung der Kaimauer gezogen, während der hintere Teil der Horde maximalem Druck ausgesetzt war. Die Woge ist vom Boden abgeprallt und an der stromabwärts gelegenen Beckenwand emporgeschossen, die wie unter einem Peitschenhieb zersprungen ist.«

    »Ich habe eine Explosion gehört …«

    »Die Schockwelle wurde hinter uns zurückgeworfen und ist aufgrund der rundlichen Form der Senke in eine Rotation geraten. Uns hatte es aufgrund des Druckgefälles schon von den Füßen geholt, sodass die Konterwoge uns in die Luft geschleudert hat. Ohne die Seile wären wir irgendwo in den Wolken!«

    »Und was ist dann passiert? Wir haben uns in der Luft immer weiter um uns selbst gedreht, ich habe beinahe das Bewusstsein verloren!«

    »Wir wurden zwischen zwei Strömen hin und her geworfen: dem Grimmwind und der turbulenten Walze der Konterwoge. Das ganze Dreieck der Horde hat sich um sich selbst gedreht, wie es scheint zwei Mal, wenn man sich die Seile anschaut, bevor es wieder zu Boden gegangen ist.«

    ‹› Sie hatte alles vorausgesehen. Ich bewundere sie so sehr.

    »Du wusstest, dass es so geschehen würde. Dank dir sind wir noch am Leben.«

    x Sie küsst mich auf die Wange. Ich wusste gar nichts, Aoi. Ich habe auf empirische Weise versucht, Woge und Konterwoge auszubalancieren, ohne dass ich das Druckgefälle wirklich hätte voraussehen können, geschweige denn, dass unsere zwei Tonnen schwere Menschentraube an ihrem Seil wie ein Spielzeugdrachen im Wind flattern würde. Was hätte mein Meister dazu gesagt? Aeroshi, ist der Zufall Teil der Begabung? Und dann, mit einem schmalen Lächeln: »Doch der Zufall ist ein so flüchtiger wie tödlicher Verbündeter. Er tötet dich mit derselben Leichtigkeit, mit der er dich rettet. Lerne, diese Bestie auf die Dimensionen einer Katze zu schrumpfen. Umgrenze die Turbulenz. Die besten Aeromeister streicheln ein Kätzchen und werfen ihm ein Wollknäuel zu. Ein Kätzchen, Aeroshi, keinen Tiger.«

    »Ist jemand verletzt?«, knurrt Golgoth.

    »Coriolis hat sich den Knöchel gebrochen!«

    »Verstaucht oder gebrochen?«

    »Gebrochen.«

    »Verfickte Scheiße …«

    »Wir werden sie direkt an den Ring binden müssen, zusammen mit den Schlitten. Wer noch?«

    »Die Dubkas bluten wie die Sau!«

    »Ach, das ist kein Ding, nur Sand. Alles gut!«

    π Sie lachen, wie immer. Diese Brüder wären noch mit zwei gebrochenen Beinen guter Dinge. Sie vergleichen ihre Verletzungen und amüsieren sich, indem sie sie mit Sand bewerfen. Nichts kann sie entmutigen, nichts macht ihnen Angst. Horst und Karst. Karst und Horst. Ka-Ho. Zwei große pausbäckige Kinder. Unzertrennlich, unzerstörbar und die besten Flügelstürmer, die man sich vorstellen kann.

    »Wer noch?«

    »Sveziest hat sich die Schulter ausgekugelt. Larcos Oberschenkel ist offen. Übel!«

    »Und Silamphre!«

    »Was ist mit Silamphre?«

    »Er hat eine Fraktur am Unterarm.«

    »Léarch hat ein paar Holzsplitter in die Brust bekommen.«

    »Sind die Lungen betroffen?«

    »Nein, aber es muss aasig wehtun.«

    »Aoi, sieh du dir das an! Alma ist überlastet. War’s das, Leute?«

    ) Das war’s. Wie fast alle stehe ich unter Schock, fühle mich schwerfällig und angeschlagen, Silica hat durch den dicken Stoff die Haut über meinem Schlüsselbein aufgeschrammt, und meine Halswirbel reiben mit einem kiesigen Knirschen aufeinander. Aber niemals würde ich mich trauen, deshalb die Hand zu heben. Es ist seltsam, wie der Schmerz der anderen gegen die Schwelle des Sich-Mitteilens stößt, so nah wie ich Silamphre bin (ich fühle mich mit meinen Wehwehchen fast wie im Warmen, geschützt, privilegiert, beinahe unversehrt zu sein). So ist es. Niemand hier wird alt werden, glaubt

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