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Die Stimme Gottes: Dia Abartigen, Band 7
Die Stimme Gottes: Dia Abartigen, Band 7
Die Stimme Gottes: Dia Abartigen, Band 7
eBook297 Seiten3 Stunden

Die Stimme Gottes: Dia Abartigen, Band 7

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Über dieses E-Book

Weiter geht das Abenteuer der beiden Jungs.
Wähnte sich Loris in Kuvunja in Sicherheit, wird er bald eines Besseren belehrt. Auch hier treibt ein Handlanger des Erhabenen sein Unwesen, zieht immer mehr Menschen auf seine Seite, sogar Mitglieder des Stadtrates. Loris, immer noch wegen Mordes gesucht, muss so unauffällig wie möglich bleiben. Zum Glück findet er Arbeit und neue Freunde … doch eine unglückliche Begegnung bringt alles in Gefahr.
Mikail, dessen Freunde nach wie vor verschollen sind, wird in die Hauptstadt des Waldlandes gebracht und lernt dort erst einmal die Bedeutung des Wortes "Kerker" kennen. Aber der Herrscher zeigt unverhofft Interesse an ihm – oder, besser gesagt, an Mikails Heimat. Der Tyrann, der sich selbst als die "Stimme Gottes" bezeichnet, kann überaus freundlich sein, solange er bekommt, was er will. Verärgert man ihn jedoch, endet das schnell tödlich.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. März 2024
ISBN9783384148001
Die Stimme Gottes: Dia Abartigen, Band 7
Autor

Sascha Raubal

Sascha Raubal wurde 1972 in Ulm an der Donau geboren und zog mit 4 Jahren nach Bayern. Er studierte Informatik an der TU München, arbeitete danach zuerst als Software-Entwickler und ist inzwischen freiberuflich als Spezialist für elektronischen Datenaustausch (kurz EDI) unterwegs. Seine erste Geschichte schrieb er mit etwa acht bis zehn Jahren. Dieses potentielle Meisterwerk der Weltliteratur – irgendwas über eine intelligente außerirdische Fliege – kam leider nie über wenige Seiten hinaus und muss heute als unwiederbringlich verschollen gelten. Seine erste ordentliche Veröffentlichung hatte er 2015 im Machandel-Verlag, den ersten Band einer inzwischen vierteiligen Reihe über den Münchner Privatdetektiv Kurt Odensen. Die Abartigen sind eine insgesamt zwölfteilige Reihe, Band 1 erschien im September 2022, Band 12 wurde am Ostersonntag 2023 fertig geschrieben. Geplant ist, etwa alle drei Monate einen Band zu veröffentlichen.

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    Buchvorschau

    Die Stimme Gottes - Sascha Raubal

    1

    »Sturm zieht auf.« Haidar blickte nach Norden und strich sich nachdenklich über die Glatze. »Und der könnte heftig werden.«

    Sie waren bereits seit vier Tagen unterwegs und sollten laut dem Truppführer übermorgen in Tasik-Hutan ankommen. Die Straße führte beinahe schnurgerade Richtung Süden, was auch hier im Wald einen Blick auf die Wolken ermöglichte, die sich nordwärts auftürmten. Donner grollte in der Ferne.

    »Sollen wir ein Lager aufschlagen?«, fragte Lien, eine schlanke Wächterin, die mit ihren zwei Metern den gesamten Trupp überragte. Sie war Lauscherin, hatte also ein ungewöhnlich scharfes Gehör, und hatte Mikail entdeckt, als die Wächter auf der Straße unterwegs gewesen waren, von der er sich so sorgfältig ferngehalten hatte.

    Haidar nickte nur, und sofort schwärmte die Hälfte seines zwanzig Mann starken Trupps aus, vermutlich, um einen geeigneten Platz dafür zu suchen.

    Mikail trug nach wie vor sogenannte Handschellen, allerdings inzwischen nicht mehr hinter dem Rücken, nachdem er sich zwei Tage lang friedlich und kooperativ gezeigt hatte. Die dicken, kupfernen Ringe um die Handgelenke und die Verbindungsstange zwischen ihnen waren, das hatte er längst eingesehen, zu stabil, um sich ihrer zu entledigen.

    Er schaute sich ebenfalls um. »Ist das hier im Wald gefährlich?«

    Haidar lachte. »Kann man so sagen. Habt ihr bei euch keinen Wald?«

    »Schon, aber ich kenne eigentlich nur den Stadtwald. In dem war ich auch nicht allzu oft. Im Gebirge sind Stürme ziemlich scheußlich, das habe ich erlebt, nachdem sie mich rausgeschmissen hatten.« Er hatte die mit Jekarina und Tabo abgesprochene Geschichte erzählt, dass er nach seinem Rauswurf durch die Berge gezogen, den Flüchtlingen begegnet und dann zum Felssturz gewandert war. Wie abgemacht, hatte er die beiden nicht erwähnt. Nach wie vor war er sich aber nicht sicher, ob Haidar ihm alles abkaufte. Der Mann war intelligent, und auch die Wächter seines Trupps schienen alle nicht dumm zu sein. Ganz im Unterschied zu denen, die Mikail und seine Freunde am Felssturz abgepasst hatten.

    »Nun«, erklärte Haidar, »im Wald ist ein Sturm auch kein Spaß. Da können einem schnell mal ganze Bäume auf den Kopf fallen.«

    »Was geschieht also jetzt?«

    »Wir suchen uns einen Platz, um den herum keine allzu hohen oder schon morschen Bäume stehen, die uns den Schädel einschlagen können. Dann machen wir uns möglichst klein und hoffen das Beste.«

    »Kann man sich nicht irgendwie schützen?«

    Haidar schüttelte den Kopf. »Nicht in so kurzer Zeit, zumindest nicht vor umstürzenden Bäumen. Merkst du’s? Der Wind frischt schon auf. Unmöglich, so schnell noch ausreichend Stämme zu schlagen, um einen wirklich stabilen Schutz zu bauen. Wir werden höchstens, wenn nötig, ein oder zwei Bäume fällen, die uns nicht mehr gesund genug erscheinen, dem Wind standzuhalten, und uns etwas basteln, das zumindest Äste abfängt. Dann müssen wir auf Gott vertrauen.«

    Mikail wurde es mulmig zumute. Er hatte auf seiner Reise mit Connors Clan einen Sturm in den Bergen erlebt, der war schon schlimm gewesen. Das hier klang noch eine ganze Ecke heftiger.

    »Kann ich helfen?«

    Haidar zog eine Augenbraue hoch. »Helfen? Du bist schon ein komischer Gefangener, weißt du das?«

    »Wieso? Der Sturm wird nicht ausgerechnet um mich einen Bogen machen, oder? Es geht also auch um meine Sicherheit. Wenn ich was tun kann ...«

    Der Truppführer winkte ab. »Lass mal gut sein. Wir haben Erfahrung in sowas. Solche Stürme gibt es jedes Jahr ein oder zwei. Und weiter im Norden, wenn sie gerade erst die Berge runterkommen, sind sie noch schlimmer.«

    Na schön, dann eben nicht.

    Lien tauchte aus dem Unterholz auf und wies hinter sich. »Hier lang.«

    Sie führte Mikail, Haidar und den Rest des Trupps etwa hundert Meter in den Wald hinein zu einer kleinen Lichtung. Quer über die nur von niedrigem Buschwerk und einigen jungen Bäumen bestandene Fläche lagen die verrottenden Überreste eines einst gigantischen Waldriesen. Als er hier hineingekracht war, musste der Stamm fünf Meter oder mehr an Durchmesser gehabt haben. Er hatte bei seinem Sturz offenbar reichlich andere Bäume mitgerissen, die aber längst vergangen waren, und so diese Lichtung geschaffen.

    Einige Wächter waren bereits dabei, drei Stämme zu fällen, die tatsächlich schon auf den ersten Blick nicht mehr gesund wirkten. Andere suchten nach dicken Ästen oder schlugen kleinere Bäume und errichteten eine Art schräges Dach, dessen oberes Ende auf dem Stamm des gefallenen Riesen lag.

    »Da werden wir uns druntersetzen«, erklärte Haidar. »Hält keinen ganzen Baum auf, aber zumindest herumfliegende Äste.«

    Inzwischen hatte der Wind schon an Kraft zugenommen. Überall um Mikail herum rauschte und knarzte es, Blätter wirbelten durch die Luft. Wenn er nach oben schaute, sah er die Wipfel der höheren Bäume sich schon kräftig biegen. Der Donner war in den wenigen Minuten bereits um einiges lauter geworden, und man sah jetzt auch die Blitze, die ihn erzeugten.

    »Wie lange haben wir noch?«, fragte er Haidar. Es war nun schon merklich dunkler, die schwarze Wolkenwand des Sturmes raste unglaublich schnell heran.

    »Keine Sorge, wir sind gleich soweit«, antwortete Lien an dessen Stelle. Mikail war in den Tagen, die er als Gefangener des Wächtertrupps unterwegs war, bereits aufgefallen, dass Haidar seine weiblichen Wächter ebenso gut behandelte und ernst nahm wie die Männer. Ungewöhnlich für die Waldleute, bei denen Frauen normalerweise für dumm gehalten wurden und nichts zu sagen hatten. Entsprechend gut arbeiteten hier alle zusammen. Haidar brauchte oft nur einen Wink zu geben, und schon taten alle selbständig ihre Arbeit.

    Als die ersten dickeren Zweige durch die Luft sausten, war der Unterstand fertig. Zwanzig Wächter drängten sich im spärlichen Schutz der Konstruktion zusammen. Mikail kauerte in ihrer Mitte, flankiert von einem Mann und einer Frau, von denen er wusste, dass sie ebenso stark waren wie er. Beide hatten Speere und große kupferne Messer, verzichteten aber darauf, ihn direkt damit in Schach zu halten. Schon seit einiger Zeit herrschte zwischen dem Trupp und dem Gefangenen ein recht unverkrampfter Umgang. Er hatte schnell begriffen, dass er gegen diese Gruppe Wächter keine Chance gehabt hätte, und verhielt sich dementsprechend kooperativ. Immerhin wollte er ja – angeblich – in ihre Reihen aufgenommen werden.

    »Mach dich auf was gefasst!«, warnte ihn Lien, die vor ihm hockte. Ihr langes, schwarzes Haar flatterte wild. »Der Wind wird noch viel stärker, und jeden Moment muss der Regen einsetzen.«

    Sie hatte kaum ausgesprochen, da kam er auch schon, der sogenannte Regen. Mikail hatte eher das Gefühl, jemand schütte eine riesige Badewanne über ihm aus. In weniger als einem Atemzug war er vollkommen durchnässt.

    Das Wasser war eisig kalt, große, schwere Tropfen schossen mit Wucht herab, vom Wind durch die Bäume gepeitscht. Mikail kauerte sich so klein zusammen, wie er es vermochte, deckte den Kopf mit den Armen und bibberte vor sich hin. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Obwohl er mitten zwischen den anderen hockte, war der Wind so stark, dass er ihm die Luft aus den Lungen zu saugen schien.

    Über ihm tanzten die mit Seilen aneinander festgebundenen Äste und Stämme wie wild im Sturm, versuchten, sich loszureißen. Einige Wächter streckten die Arme nach oben und hielten die Konstruktion fest. Lieber dem Regen noch stärker ausgesetzt, als schutzlos allem ausgeliefert, was nun durch die Luft flog.

    Blätter und kleine Zweige schossen durch die Lücken ihres Schutzdaches, Mikail kniff die Augen zusammen, bekam lediglich ein paar Schrammen ab. Aber das war noch der harmlose Teil. Alle paar Augenblicke knallte irgendetwas Größeres auf das Konstrukt, das sonst jemandem den Schädel eingeschlagen hätte. Blitze erhellten den Himmel, rissen die Silhouetten der Bäume aus der Düsternis. Der Donner tat in den Ohren weh.

    Mikail fragte sich, wie es Luka, Anna und den Kindern ging. Über ihr Dorf war der Sturm bereits hinweggezogen, und ihre Hütte konnte diesem Wahnsinn doch unmöglich standgehalten haben. Aber irgendwie mussten sie das ja überleben. Haidar hatte gesagt, solche Stürme gebe es jedes Jahr, also hatte man sich offenbar darauf eingerichtet – wie auch immer. Er konnte nur hoffen, dass den guten Menschen, die ihm Obdach gewährt hatten, nichts geschehen war.

    Verständigung war nun keine mehr möglich. Ein Mann neben Mikail sagte etwas, schien es eher zu schreien, doch das Brüllen des Sturmes übertönte alles, riss die Worte davon, bevor sie ein Ohr erreichten. Als der Wächter erkannte, dass Mikail ihn nicht hören konnte, deutete er auf seinen Mund. Was? Öffnen? Mikail sah sich um. Ja, alle um ihn herum hatten den Mund ein Stück geöffnet. Er tat es ihnen nach, und der Wächter nickte zufrieden.

    Den Mund offen zu halten, kostete ihn Mühe. Ganz von selbst wollten seine Atemwege zumachen, so brutal fegte ihm die Luft durchs Gesicht. Er fragte sich, was das sollte.

    Dann plötzlich wurde es gleißend hell. Mikail kniff die Augen zusammen, sah Nachbilder seiner Umgebung. Beinahe sofort folgte ein Donnerschlag, so mörderisch laut, dass er glaubte, taub zu werden.

    Zwei, drei Herzschläge später krachte es wieder, doch diesmal war es kein Donner. Etwas war auf dem Schutzdach gelandet, das mit Wucht auf Mikails immer noch über den Kopf gelegte Unterarme prallte. Seine Haut am Rücken wurde aufgerissen, es brannte schrecklich.

    Nach wie vor wütete der Sturm mit grausamer Gewalt. Mikail blieb nichts anderes übrig, als sich mit aller Kraft gegen das herabdrückende Dach zu stemmen, ungeachtet der Schmerzen. Ahnen! Wie lange sollte er das durchhalten?

    So überraschend der Sturm gekommen war, so schnell zog er weiter. Mikail merkte, wie das Heulen und Brausen nachließ, der Regen verebbte, man sogar schon wieder andere Geräusche hören konnte. Und die klangen nicht gut.

    Um ihn herum jammerten Menschen, jemand schrie seinen Schmerz in die Welt. Er öffnete die Augen und sah sich nach seinen Nebenleuten um, den beiden Wächtern mit der großen Kraft. »Los!«, sagte er »Drücken wir das Ding ...« Dann erst erkannte er, dass der Mann neben ihm sich nicht mehr selbständig aufrecht hielt. Ein Ast war von oben durch die Holzkonstruktion eingedrungen und hatte den Wächter am Halsansatz durchbohrt. Er hing schlaff an diesem Haken, die weit offenen Augen starrten ins Leere.

    Schockiert wandte Mikail den Blick ab und sich der Frau an seiner anderen Seite zu. Die jedoch lag am Boden, ein großes Loch oben im Schädel und ebenso tot.

    Na wunderbar. Deshalb hatte er also das Gefühl, die ganze Last alleine zu tragen: Er tat es!

    Als er sich weiter umsah, entdeckte er noch mehr Tote und Verletzte. Das zurückkehrende Tageslicht enthüllte auch den Schuldigen: Ein mehrere Meter langer Baumabschnitt war – offenbar aus großer Höhe – auf den Unterstand der Gruppe gestürzt.

    Soweit Mikail wusste, waren die beiden Toten neben ihm nicht die einzigen Wächter mit großer Kraft gewesen. Mindestens einen musste es noch geben, aber wo war der? Ah, da saß er auf dem Boden und hielt sich den sichtlich gebrochenen Arm. Er war also auch keine Hilfe.

    Lien vor ihm hatte einige Schrammen abbekommen, war aber anscheinend weitgehend in Ordnung. Sie wandte sich zu ihm um. »Hältst du’s noch?«

    Er nickte. »Aber nicht mehr lang!«, quetschte er mühsam hervor.

    Lien bellte ein paar Befehle, einige Wächter durchtrennten die Seile, mit denen man das Dach am Stamm des gestürzten Waldriesen fixiert hatte, und alle, die noch dazu in der Lage waren, stemmten sich gegen die Konstruktion. Gemeinsam schafften sie es, die schwere Last langsam nach oben zu drücken. Der Baumstamm kam ins Rutschen. Glühender Schmerz durchfuhr Mikail. Es fühlte sich an, als reiße man ihm ein Stück Fleisch aus dem Rücken. Doch er durfte jetzt nicht nachlassen! Mit einem Aufschrei mobilisierte er all seine Kräfte und wuchtete das Gewirr aus Ästen und Stämmen ruckartig hoch.

    Der Stamm rollte hinab, der aufgespießte Wächter zu Mikails Rechter wurde noch kurz hochgezogen, dann löste sich der Ast aus seinem Körper, und er fiel schlaff zu Boden. Lien wich eben noch einem anderen Ast aus, der nun direkt neben ihrem Kopf hereinstach, bevor sie alle in einer gemeinsamen Anstrengung die gesamte Konstruktion senkrecht stellen und von sich werfen konnten.

    Mikail brach erschöpft zusammen, rang mühsam nach Atem. Sein Rücken brannte wie Feuer. Um ihn herum jammerten die Verletzten vor sich hin, während der Rest des Trupps in hektische Betriebsamkeit ausbrach, um die Verwundeten zu versorgen.

    Als er wieder zu Atem gekommen war, richtete Mikail sich auf und sah sich um. Haidar lag bewusstlos da, umsorgt von zwei seiner Leute. Weitere fünf oder sechs Männer und Frauen wurden von ihren Kameraden gepflegt, teils waren sie ebenfalls nicht bei Bewusstsein, teils jammerten sie vor Schmerz. Mikails Axt lag wenige Meter von ihm entfernt. Der Mann, der sie getragen hatte, bekam eben den gebrochenen Arm geschient. Für einen Moment überlegte er, ob er es wagen sollte. Die Axt schnappen und ab in den Wald. Er wusste, dass Haidar so schnell war wie Tabo, aber momentan war der Truppführer ja nicht ansprechbar. Der Schnüffler der Gruppe war schwer verwundet. Der einzige Wächter, der es mit Mikails Kraft aufnehmen konnte, war der mit dem Armbruch. Die beiden anderen waren ja tot.

    Eine gute Gelegenheit, aber da gab es ja noch die Handschellen. Mikail kam nicht an die Splinte heran, mit denen sie gesichert waren. Mit Zeit und Geschick wäre es aber sicher möglich gewesen, wenigstens einen davon herauszubekommen.

    Allerdings hätte ihm dann immer noch sein Bogen gefehlt. Den hatte irgendjemand anderes in Verwahrung genommen. Und wahrscheinlich hätte man ihn früher oder später doch wieder aufgegriffen. Dann wäre es mit der Geschichte, er wolle sich den Wächtern anschließen, vorbei gewesen.

    Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick von der Axt ab und ließ sich vorsichtig auf ein dickes Moospolster zurücksinken, das seinem verletzten Rücken ein wenig Schonung bot. Als er eben die Augen schließen wollte, fing er einen Blick von Lien auf. Mit ernster Miene nickte sie ihm zu. Gute Entscheidung, schien sie ihm sagen zu wollen.

    »Reife Leistung.« Haidar klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Ohne dich hätten wir mehr Verluste erlitten.« Noch mehr. Als seien drei Tote und fünf ernsthaft Verletzte nicht schon mehr als genug. Mikail und sein Loch im Rücken noch gar nicht mitgezählt. Ein Blitz hatte den Wipfel eines Baumes abgesprengt, und dieser war aus großer Höhe auf die Wächter herabgestürzt.

    Mikail, einen kupfernen Becher warmen Tee in der Hand, verzog das Gesicht. »Mir blieb ja wohl nichts anderes übrig, schließlich saß ich mit euch zusammen unter dem verdammten Ding.«

    »Es sind immer die extremen Situationen, in denen Menschen über sich hinauswachsen«, erklärte Haidar ernst.

    Ach. Spätestens seit der Karawane nach Cood wusste das auch Mikail. Ein halbes Leben schien das nun schon her zu sein. Dabei war noch nicht einmal ein Jahr seit jener verhängnisvollen Nacht vergangen, die zu seiner Verbannung geführt hatte. Und letztlich auch dazu, dass er jetzt hier saß und die Zähne zusammenbeißen musste, während ein Wächter scheußlich brennende Salbe auf das Loch schmierte, das der Ast in seine Haut gerissen hatte. Ein paar Zentimeter weiter vorne, und das Ding hätte ihm ebenso die Halsschlagader zerfetzt wie dem Mann neben ihm.

    Mikail hob die Arme, damit der Mann ihm den Verband anlegen konnte.

    »Ich hab sämtlichen Dreck rausgeholt, der drin war«, erklärte der dabei. »Die Salbe sollte verhindern, dass sich irgendwas entzündet. Wir wollen dich doch gesund und munter vor den Erhabenen bringen.«

    Mikail bedankte sich für die Behandlung und stand von dem Baumstamm auf, auf dem er gesessen hatte.

    »Wann willst du denn weiterziehen?«, fragte er Haidar.

    »So schnell wie möglich. Ein paar meiner Leute brauchen dringend Kräuterkundige, die sie ordentlich versorgen. Auf dem Weg liegt kein einziges Dorf mehr, wir müssen uns also beeilen.« Dafür, dass Haidar selbst einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, war er verdammt flott wieder voll da.

    »Das wird mit den Verletzten aber nicht einfach.«

    »Ich weiß.« Haidar blickte grimmig zu denjenigen seiner Wächter hinüber, die es erwischt hatte. Knochenbrüche zumeist.

    »Pferde wären hilfreich«, merkte Mikail an.

    »Wären sie, haben wir aber nicht«, knurrte der Truppführer. »Nur Gardisten bekommen Pferde, einfache Wächter wie wir dürfen laufen.«

    »Komische Regel.«

    Haidar seufzte. »Es ist nicht an uns, die Entscheidungen des Erhabenen zu beurteilen.« Sein Tonfall verriet, dass er das durchaus tat, und sein Urteil fiel unüberhörbar negativ aus.

    »Ich könnte einen oder zwei tragen. Hilft das was?«

    Haidar sah ihn verwundert an. »Du meinst das ernst, oder?«

    »Natürlich. Ich will doch aufgenommen werden.«

    Der Truppführer schüttelte den Kopf. »Du bist schon ein komischer Vogel. Lien hat mir erzählt, dass du nicht einmal die Gelegenheit zur Flucht genutzt hast. Nicht, dass du weit gekommen wärst, es ist aber trotzdem bemerkenswert. Aber dass das klar ist: Wir müssen dich so oder so in den Kerker sperren, wenn wir die Hauptstadt erreichen.«

    Mikail zuckte die Schultern. »Dann ist das so.« Und was, bei den Ahnen, war ein Kerker? Er würde es herausfinden.

    Zwei Tage später erreichten sie Tasik-Hutan. Die Stadt lag an einem See und war, anders als die Städte in Mikails Heimat, nicht von Mauern umgeben. Sie lag offen da, bestand hauptsächlich aus ebenerdigen Holz- und Lehmziegelbauten, zwischen denen ein riesiges, steinernes Bauwerk hervorragte. Lien nannte es den Großen Tempel, Haidar den Palast des Erhabenen. An dessen Seiten allerdings begannen hohe Mauern, höher noch als die von Or, auf denen Bewaffnete standen. Die Brüstung hatte seltsame, mannshohe Zacken. Mikail fragte sich, wozu man in einem Land, das keine große Dürre kannte, solch ein Bollwerk brauchte.

    Der Wächtertrupp marschierte direkt auf dieses gewaltige Gebäude zu. Mikail trug auf jedem Arm einen Verwundeten, der andere Wächter, der ebenfalls außergewöhnlich stark war, transportierte eine Frau. Sein gebrochener Arm war mit einer Schlinge ruhiggestellt.

    Fünf Männer nahmen die Gruppe in Empfang, alle mit eisernen Waffen ausgestattet. Das waren dann wohl Gardisten. Ihre Kleidung sah auch prächtiger aus als die von Haidars Wächtern.

    Der Truppführer erstattete Bericht, und schnell kamen einige Leute angelaufen, die die Verwundeten wegschafften. Dann wandte sich einer der Gardisten an Mikail. »Du bist also aus dem Land der Gottlosen?«

    Er nickte nur. Schon wurde er am Arm gepackt. »Dann komm mal mit.«

    Haidar und Lien blickten ihm mit wenig aufmunternden Mienen hinterher, als man ihn abführte, und tatsächlich fand er sich kurz darauf in einem winzigen, fensterlosen Raum wieder, den eine Tür aus dicken Holzbohlen sicher verschloss. Das war dann wohl dieser Kerker, von dem Haidar gesprochen hatte. Der Raum lag unterirdisch, war durch einen langen, kaum zwei Meter breiten Gang zu erreichen und roch alles andere als angenehm.

    Eine ganze Weile, vermutlich Stunden, passierte gar nichts. Dann hörte Mikail Stimmen. Jemand kam, der Riegel der Tür wurde zurückgeschoben, und eine Fackel leuchtete herein und blendete ihn.

    »Das ist er«, sagte jemand.

    Als Mikails Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er einen Mann von etwa dreißig, fünfunddreißig Jahren in einer Art Kleid, der ihn von oben bis unten musterte. Flankiert wurde er von zwei großen, muskelbepackten Gardisten, die lange, gerade Messer aus Stahl in den Händen hielten. Seltsam geformt waren die, zweischneidig und symmetrisch.

    »Du bist also der Gesegnete aus dem Land der Gottlosen, der eines meiner Gendos getötet hat«, stellte der Fremde fest. Wenn er sprach, blitzte es in seinem Mund golden auf.

    Mikail sah ihn nur stumm an und fragte sich im Stillen, warum eigentlich alle immer nur von dem Gendo redeten. Immerhin war ja auch der Reiter des Tieres zu Tode gekommen.

    »Haidar hat mir berichtet, wie er dich aufgegriffen hat und was seitdem geschehen ist«, fuhr der Mann fort. »Ich hatte Befehl gegeben, alle Eindringlinge aus deinem Land festzusetzen und in den Kerker zu schaffen, statt sie gleich zu töten.« Er sah Mikail nachdenklich an. »Möglicherweise habe ich einen Fehler gemacht. Aber der lässt sich ja korrigieren.«

    2

    »Björn!«

    »Was?« Loris verdrehte die Augen. Gert war eine

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