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Die Halbe Welt
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eBook266 Seiten3 Stunden

Die Halbe Welt

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Über dieses E-Book



Dies ist die Geschichte der Halben Welt, die Utopie wurde Wirklichkeit. Die Grenzen sind gezogen, das Territorium geräumt, Menschen dürfen nur noch in ihrer Hälfte der Erde leben, die andere Hälfte wurde zum Naturschutzgebiet erklärt. Ein packender Roman über Moral und Wissenschaft, der die Geschichte der Gegenwart fortspinnt und die Zukunft in einer geteilten Welt entwirft.

Das Zeitalter der Einsamkeit ist angebrochen, nachdem der Mensch sich über alles Leben gestellt hat. Die Hälfte der Erde wurde infolge der globalen Krisen zum Schutzgebiet erklärt.
Als Sachbearbeiter in der Behörde zur Verwaltung der Halben Welt sieht Lilian es als seine Aufgabe, zukünftigen Generationen begreiflich zu machen, warum die Hälfte der Erde der Natur überlassen werden musste; er beginnt diese Geschichte aufzuschreiben. Zur Illustration seines Berichts will er die Arbeit zweier Wissenschaftler im globalen Wiederbewaldungsprogramm schildern. Die beiden sind bei einem Forschungsaufenthalt in der Halben Welt mutmaßlich verunglückt. Mit Fortdauer seiner Recherchen mehren sich allerdings Lilians Zweifel an der Ursache für ihr Verschwinden.


Bröderbauers dritter Roman verwebt Fakten und Fiktion. Wer darf bestimmen, wie das Zusammenleben auf Erden aussehen soll? Liegt die Zukunft darin, dass Menschen zugunsten der Natur in ihrem Lebensraum und ihren Aktivitäten beschnitten werden sollen? Wie es beispielsweise das "Half-Earth-Projekt" des weltberühmten Biologen Edward O. Wilson plant? Ein absolut aktueller und zu Diskussionen anregender Roman.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum21. Feb. 2024
ISBN9783903460218
Die Halbe Welt

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    Buchvorschau

    Die Halbe Welt - David Bröderbauer

    1. TEIL

    DER BERICHT

    ANMERKUNG DES VERFASSERS

    Dies ist die Geschichte der Halben Welt. So unwahrscheinlich es schien, die Halbe Welt ist Wirklichkeit geworden. Die Grenzen sind gezogen, das Territorium geräumt. Nicht mehr lang, dann wird ihre Existenz selbstverständlich sein, werden ihre Anfänge in Vergessenheit geraten. Wenige werden sich noch daran erinnern, wie die Halbe Welt als Idee Gestalt annahm, welche Worte es waren, die den Umschwung der Meinung bewirkten, welcher Zufälle und Maßnahmen es bedurfte, um die Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. Wie es zu den großen und kleinen Entscheidungen kam, die den Weg bereiteten. Deshalb steht es hier aufgeschrieben. Sollten die zukünftigen Menschen nach den Anfängen der Halben Welt fragen, wartet mein Bericht im Archiv der Behörde auf sie.

    Ich – der Verfasser dieser Zeilen – sehe es nicht als meine Aufgabe, die Geschichte unserer Hälfte zu dokumentieren. Auf Begebenheiten der kultivierten Welt geht der Bericht nur dort ein, wo es der Sache dient.

    Der Bericht ist nicht für die Menschen von heute geschrieben. Wer ihn vor der Zeit liest, möge dies bedenken. Vor allem wendet er sich nicht an die Leser:innen, die an der Halben Welt zweifeln, die verlangen, dass der Mensch Zutritt zu ihr erhält, oder mehr noch, Zugriff. Es sei hier bekräftigt, dass der Mensch sein Anrecht auf die Halbe Welt bis auf Weiteres verwirkt hat.

    Die Frage sei hier vorweggenommen, warum ich mich berufen fühle, die Geschichte der Halben Welt aufzuschreiben. Es ist nicht meine Absicht, durch diesen Bericht Bekanntheit zu erlangen. Aus diesem Grund wird im Bericht auf Angaben zu meiner Person verzichtet. Nur so viel sei gesagt, dass ich als Mitarbeiter jener Behörde, die maßgeblich zur Erschaffung der Halben Welt beitrug und sie verwaltet, Einblick in relevante Dokumente und Aufzeichnungen habe. Zudem befinde ich mich im Besitz persönlicher Erfahrungen betreffend die Vorgänge während der Neuordnung der Welt. Es soll hier festgehalten sein, dass ich mich nicht als Opfer sehe, wie es unter den Umgesiedelten Mode geworden ist. Wir alle sind Täter. Vergessen wir das nicht.

    Der Bericht wird sich exemplarisch mit dem Schicksal zweier Persönlichkeiten befassen, die eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Halben Welt gespielt haben. Jos Tyskin, ein Mäzen der Halben Welt aus der bedeutenden Unternehmerfamilie der Tyskins – der Name wird auch den Leser:innen der Zukunft ein Begriff sein. Und Thomas Mark, ein Wissenschafter, der die Wiederbewaldung der Halben Welt vorangetrieben hat. Vor einem Monat sind sie im Zuge eines Forschungsaufenthalts in Neotropis-Zentral als abgängig gemeldet worden. Ihr Verschwinden ist das Ereignis, das die Halbe Welt vervollkommnet.

    LILIAN VERLIESS DIE BEHÖRDE. Er überquerte den Vorplatz und bog wie die anderen in die Allee ein. Der lang erwartete Regen war schon abgezogen, aber aus dem Blätterdach troff noch Wasser und verstärkte das Geräusch der vielen Schritte, die im Takt auf die Haltestelle zusteuerten. Dampf stieg vom Boden auf, ein Dampf ohne Geruch. Lilian war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um das neuerliche Versagen seines Geruchssinns zu registrieren, oder die warmen Tropfen, die auf seiner Stirn landeten. Zeile für Zeile ging er den Anfang seines Berichts durch. Gerade erst hatte er – endlich – begonnen, schon wollte er wieder alles abändern. Er musste eine Begründung ergänzen, warum der Mensch sein Anrecht auf die Halbe Welt verwirkt hatte. Keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung für die Menschen der Zukunft, die nicht mehr wissen würden, welche Argumente die öffentliche Meinung bestimmt hatten. Statt bis auf Weiteres sollte er schreiben, dass die Menschen ihr Anrecht auf die Halbe Welt für immer verwirkt hatten, um zukünftigen Lesern entgegenzutreten, die in diesem Punkt möglicherweise eine weniger entschiedene Haltung vertraten als er.

    Die Frage, ob er überhaupt dazu geeignet war, die Geschichte der Halben Welt zu verfassen, stellte sich nicht mehr. Mit Tyskins Verschwinden hatte sich etwas geändert. In den vier Wochen, die er und Mark nun abgängig waren, hatte niemand aus der Familie um eine Stellungnahme gebeten. Wenn selbst für einen Tyskin die Regeln der Halben Welt galten, bedeutete dies, dass sie funktionierte. Es war Zeit, die Geschichte ihrer Entstehung aufzuschreiben, irgendjemand musste sie für die Nachwelt bewahren. Warum nicht er.

    Kreischend flogen zwei grüne Schemen über Lilians Kopf. Er schaute nach oben und trat dabei in eine Pfütze. Als er stehen blieb, lief jemand in seinen Rücken. Der Mann fuhr erschrocken auf. »Schalte deinen Kopfraum ein, du Idiot«, sagte er im Vorübergehen, die Augen schon wieder nach innen gekehrt. Lilian verzichtete auf eine Antwort. Macht doch besser eure Augen auf, dachte er, und sah noch einmal zu den lärmenden Carolina-Sittichen hoch, die sich seit Kurzem auch im Zentrum der Stadt ausbreiteten. Er ging weiter, ohne seine nassen Schuhe näher zu inspizieren. Es war das einzige konzessionierte Paar für dieses Jahr.

    Tyskins und Marks Fall war nicht nur deshalb relevant, weil ihr Verschwinden akzeptiert wurde. Die Informationen über die beiden Männer, die er für die Akte zusammengestellt hatte, erfüllten die Sammlung an Dokumenten, Stellungnahmen und Beschlüssen, die er vor Jahren mit großem Eifer und unklarem Ziel begonnen hatte, mit Leben. Gemeinsam fügte sich alles zu einer Geschichte der Halben Welt. Lilian sah sie Gestalt annehmen – die Mäzene, die den Anfang gemacht hatten, das globale Wiederbewaldungsprogramm als roter Faden, eingebettet in ein Mosaik aus abertausenden Paragrafen, Wortmeldungen, Bildern und Gesten. Er wollte versuchen, diese Geschichte zu erzählen. Er wollte darlegen, warum die Errichtung der Halben Welt die einzige valide Option für den Planeten gewesen war. Wo der Mensch sich breitgemacht hatte, würde er schreiben, waren die anderen Spezies ausgestorben. Die Menschenwelt war so konsequent umgesetzt geworden, dass für die Wildnis kein Platz mehr geblieben war. Die einzige Lösung war die Zweiteilung der Erde gewesen – eine Hälfte, innerhalb deren Grenzen die Natur als Ressource für die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse diente, die andere Hälfte, die dieser Logik entzogen und den natürlichen Prozessen überlassen wurde. Innerhalb der Grenzen dieser Hälfte würde alles wild sein.

    Er würde auch anführen, dass es nach dem Scheitern der Klimaschutzbemühungen eines neuen Ziels bedurft hatte – eines erreichbaren Ziels. Nach den vielen Rückschlägen war deutlich geworden, wie leicht diese Idee im Gegensatz zu anderen Maßnahmen umsetzbar war. Man musste nur die Hälfte der Erde vom Menschen befreien und sich selbst überlassen. Dort, wo die Natur zu stark gelitten hatte, half ein weltweites Wiederbewaldungsprogramm der Wildnis auf die Sprünge. Es war ein Rückschlag für die Behörde, dass Mark ebenfalls verschollen war. Im Gegensatz zu Tyskin wog sein Verlust schwer, egal was man von ihm halten mochte. Es war noch kein Nachfolger ernannt worden. Sicher würde es jemand aus dem inneren Kreis der Behörde sein, dem man die Leitung des Wiederbewaldungsprogramms für das Neotropis-Zentral-Territorium übertrug. Die Position brachte es mit sich, dass man zu Studienzwecken in die Halbe Welt reisen durfte. Mark hatte von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Theoretisch konnte sich Lilian bewerben, auch wenn er nach seinem Studium keine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte.

    Am Carson-Boulevard folgte Lilian den Kolonnen durch die Galerie der Halbweltfenster. Wo ein großer Ast auf die Reihen der Monitore gefallen war und den Durchgang versperrte, stockte der Strom. Einige Passanten kehrten um, andere krochen unter dem Ast hindurch. Es schien niemand verletzt worden zu sein. Lilian versuchte über den Ast hinwegzuklettern, wobei er sich nicht sehr geschickt anstellte. Nachdem er sich auf der einen Seite hochgezogen hatte, fand er auf der anderen keinen Weg hinunter. Er saß fest und blickte ratlos auf den leicht beschädigten Monitor, in dem sich der Ast verfangen hatte. Hunderte Gnus rannten darin auf ihn zu, bevor sie sich einen steilen Hang hinab in die Mara stürzten. Der Monitor flackerte und spielte dieselbe Szene immer wieder ab, als wäre es ein Video und keine Live-Aufnahme. Auf dem intakten Bildschirm daneben suhlte sich lebensgroß ein Sumatra-Nashorn im grün schimmernden Licht einer Nachtbildkamera. Sieben Uhr war es auf Sumatra, wie der Monitor anzeigte. Ein Kind, das unter dem Ast durchgeschlüpft war, presste sich gegen die Scheibe, als könnte es so mit dem Tier Kontakt aufnehmen. Unerwartet drang Lilian der Geruch von frischem Holz in die Nase, als er über die abblätternde Borke rutschte. Die Erinnerung an einen geköpften Baumstamm in der Sonne tauchte auf, an dessen harzigen Duft. Klein stand er unter dem Stumpf und atmete den Geruch des morschen Kadavers ein, seine Hand in der von Laura, die ihm zu erklären versuchte, warum der Wald starb. Verwirrt klammerte sich Lilian an den Ast und sah zu, wie eine Frau das Kind vom Monitor mit dem Nashorn wegzog. Schließlich sprang er hinunter, streifte seine Hose ab und ging in derselben Richtung wie Frau und Kind die Monitorgalerie entlang.

    Irgendwann würde man die Halbweltfenster vielleicht abbauen, weil diese Szenen selbstverständlich geworden waren; weil es keiner Veranschaulichung mehr bedurfte, was alles in der Halben Welt vor dem Aussterben bewahrt worden war. Dann konnten sich die Nashörner nach Jahrtausenden menschlicher Verfolgung wieder ungestört im Schlamm suhlen, ohne auch nur von einer Nachtbildkamera beobachtet zu werden. Es war die Aufgabe der Behörde, diese Utopie zu verwirklichen.

    Am Wilson-Platz – die überlebensgroße Statue Wilsons wies mit einer Lupe in die Richtung, aus der Lilian gekommen war – folgte er den anderen in den Untergrund. Heute würde er nicht den Fußweg durch den Botanischen Garten nehmen. Er hatte es eilig, nachhause zu kommen, er wollte die Arbeit an seinem Bericht fortsetzen. Er musste bei den Anfängen beginnen. Er musste alles aufschreiben, was er wusste.

    Und was er nicht wusste? Er ließ den Gedanken gewähren, dass er notfalls in die Halbe Welt reisen müsste, um auch das herauszufinden.

    DER EINSAME PLANET

    Eine Revolution verwirklichen kann man nicht allein, eine Revolution braucht viele Menschen, viele Stimmen, die im Chor die entscheidenden Worte rufen.

    Über eine Revolution schreiben dagegen kann man nur allein. Ein Chronist darf nicht zu nahe rücken, er muss sich aus dem Gedränge halten, um alles sehen zu können, um das Durcheinander der Worte zu verstehen, um das Wesentliche einzufangen und festzuhalten.

    Vielleicht hat es seine Richtigkeit, dass jemand wie ich diesen Bericht für die Menschen der Zukunft verfasst.

    Rückblickend betrachtet wird es vielleicht verwundern, dass eine derart folgenreiche Idee wie die Teilung der Welt zur Umsetzung gelangte. Wollte man es sich einfach machen, könnte man behaupten, die großen Krisen der Wendezeit und der desolate Zustand der Erde hätten diesen Schritt unumgänglich gemacht. Aber so war es nicht. Im Gegenteil, es hatten sich gerade wegen der zahlreichen Krisen viele Menschen gegen Veränderungen gesperrt. Letztlich waren Zufälle und Nebensächlichkeiten dafür ausschlaggebend, dass die Halbe Welt gegen alle Widerstände errichtet werden konnte. Ein entscheidender Moment war, als sich einige der reichsten Menschen der Welt für die Natur zu interessieren begannen, wie es vom Vater der Halben Welt, dem ehrwürdigen E. O. Wilson, vorhergesagt worden war. So wesentlich die Rolle der Behörde bei der Schaffung der Halben Welt auch war, wurden entscheidende Schritte von ein paar wenigen wohlhabenden Privatpersonen und Unternehmen getätigt. Zu deren bedeutenderen zählte nicht zuletzt die Unternehmerfamilie der Tyskins, allen voran Jos Tyskin. Welche Motive genau die Tyskins und andere dazu bewogen, einen Teil ihres Vermögens in Naturschutz zu investieren, ist rückblickend schwer zu beurteilen. Sicher spielte das Stiftungswesen eine Rolle, das es den Wohltätern erlaubte, ihr Vermögen dem Zugriff der Steuerbehörden zu entziehen. Neben solchen wohl kalkulierten Überlegungen ließen sich manche Mäzene aber auch von weniger rationalen Überlegungen leiten. Hier muss an erster Stelle Ruth Pizmo genannt werden, die im Zuge eines Scheidungsverfahrens die Hälfte des Vermögens ihres Mannes, Elton Pizmo, zugesprochen bekommen hatte. Elton war bis dahin einer der reichsten Menschen der Welt gewesen. Nun zählte auch Ruth zu diesem erlesenen Kreis. Vielleicht weil Beziehungen in der damaligen Zeit eine zuweilen übermäßig emotionale Komponente zu eigen war, machte sich Ruth Pizmo mit ihren nunmehr unerschöpflichen finanziellen Mitteln daran, das Lieblingsprojekt ihres Ex-Mannes zu sabotieren – das private Raumfahrtunternehmen Deep Horizon, das nach der Scheidung in Eltons Besitz verblieben war. Ruth startete eine Kampagne, die sich nicht nur gegen die private Raumfahrt richtete, sondern gegen Weltraumreisen als Ganzes. Dieser Angriff traf den Zeitgeist der damaligen Ära und sollte unwahrscheinliche Folgen für die Zukunft der Halben Welt haben. Was machen wir auf dem Mond?, ließ Ruth über ihr Medienportal und in den sozialen Medien fragen und legte in einer Reihe von aufwendig gestalteten Berichten und Dokumentationen dar, wie entbehrlich etwa die internationale Mondstation war, deren Errichtung zu diesem Zeitpunkt betrieben wurde. Unter anderem verhalf sie einer Studie der chinesischen Astroökonomin Li Yen zur weiteren Verbreitung, welche die Kosten der ersten Mondmissionen im 20. Jahrhundert – betrieben von den damals noch vereinigten Staaten Amerikas – auf einhundert Milliarden Dollar bezifferte, und für die zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls geplante Mission zum Mars fünfhundert Milliarden Dollar veranschlagte – eine astronomisch hohe Summe, um eine Metapher aus der Zeit zu bemühen. Pizmos Kampagne lenkte den Blick zurück auf eine Gesellschaft, die während der ersten Mondlandung im Jahr 1969 in einem kindlichen Bedürfnis nach Sensationen gebannt vor den Fernsehgeräten gesessen war und dabei übersehen hatte, wie zur selben Zeit – die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Ära des Wirtschaftswachstums – der eigene Planet durch Pestizide, Abholzung und die Verbrennung fossiler Energieträger zerstört wurde. Stellt euch vor, wir hätten damals das Geld für die Mondlandung in erneuerbare Energien investiert, war Pizmos Botschaft, wie würde die Erde heute aussehen? Stellt euch vor, wir investieren jetzt das Geld nicht in eine Mondstation oder einen bemannten Marsflug, sondern in die Bewahrung dessen, was noch übrig ist.

    So gewitzt Pizmos Argumentation auch war, hätte ihre Kampagne vermutlich keinen so durchschlagenden Erfolg gehabt, wäre nicht noch ein weiterer Umstand dazugekommen. Pizmo bediente sich zur Untermalung ihrer Slogans eines ikonischen Bildes, das den Gedanken und Gefühlen ihrer Zeitgenossen mehr als jedes andere Ausdruck verleihen sollte. Es handelte sich um die in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts angefertigte erste Fotografie der Erde, aufgenommen von den Astronauten der letzten bemannten Mondmission. Nachdem alle Missionen davor in ihrer aus heutiger Sicht obszönen Fixierung auf den Mond der Erde den Rücken zugewandt hatten, warfen die Astronauten von Apollo 17 erstmals einen Blick zurück. Die dabei entstandene Fotografie der im Weltraum schwebenden Kugel machte 1972 zeitgleich mit dem Bericht des Club of Rome die Verwundbarkeit der Erde sichtbar. Das Bild geriet zur Ikone der frühen Naturschutzbewegung (deren Scheitern dazu führen sollte, dass die Errichtung der Halben Welt überhaupt nötig wurde). Durch Pizmos Kampagne erlebte das Bild des Blue Marble fünf Jahrzehnte nach seiner Aufnahme eine Renaissance. Pizmo ließ es massenhaft verbreiten, ergänzt um den Untertitel Dead End – wohlgemerkt ohne Fragezeichen. Damit spielte sie nicht nur auf die Apollo-17-Mission an, die nach Pizmos Ansicht für immer die letzte bemannte Mondmission bleiben sollte. Gleichzeitig stellte der Untertitel einen Bezug zum gegenwärtigen Massenaussterben auf der Erde her, das unaufhaltsam voranschritt. Vor allem aber – und das war das Entscheidende – verlieh das Bild des blauen Planeten im schwarzen All der damaligen Erkenntnis Ausdruck, dass die Erde aller Wahrscheinlichkeit nach der einzige belebte Planet und somit die Menschheit allein war, zumindest in unserer Galaxie, vielleicht sogar im ganzen Universum. War man lange davon ausgegangen, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis man auf anderes Leben stoßen würde, hatten sich nach Jahrzehnten der erfolglosen Suche Zweifel eingestellt. Wo waren all die Außerirdischen, wenn sie denn existierten? Das Fermi-Paradoxon wurde erneut hitzig diskutiert: Gemäß den Computersimulationen müsste aufgrund des hohen Alters des Universums schon längst eine Form intelligenten Lebens entstanden sein und die habitablen Planeten unserer Galaxie, derer es angeblich so viele gab, schon lange kolonisiert haben. Folglich dürfte dieses intelligente Leben unseren Teleskopen und Satelliten nicht entgangen sein. Warum haben wir es dann aber noch nicht gefunden? Astrophysiker:innen begannen, die Zahlen noch einmal durchzurechnen. Ein gewisser Schwieterman bewies, dass die habitable Zone rund um einen Fixstern kleiner war als gedacht. Allein dieser Umstand reduzierte die Liste erdähnlicher Planeten erheblich. Dem nicht genug, wurde festgestellt, dass ein unbedingt erforderlicher Mond eine ganz bestimmte Größe haben musste, um Achse und Rotation des Planeten ausreichend zu stabilisieren. Folglich sank die Zahl möglicher Kandidaten weiter. Für den Fall, dass diese grundlegenden Bedingungen gegeben waren, erläuterten die Astronom:innen, bedurfte es dann unter anderem noch eines Magnetfelds zum Schutz vor der kosmischen Strahlung, dem Vorhandensein von Wasser als Grundlage allen Lebens und der richtigen chemischen Zusammensetzung der Oberfläche, um eine kontinuierliche Bewegung der tektonischen Platten zu ermöglichen, die wiederum zur Stabilisierung des Klimas nötig war, vorausgesetzt, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre war weder zu hoch noch zu niedrig. Nur dann (auf eine vollständige Aufzählung aller relevanten Parameter wird hier verzichtet) konnte sich Leben entwickeln, was laut der organismischen Biologin Elvira Kalkhoff allerdings so wahrscheinlich war, als würde man die Einzelteile eines Flugzeugs in einen Tornado werfen, und es würde darin zufällig richtig zusammengebaut.

    Bis heute konnte der Entstehungsprozess sich selbst reproduzierender Moleküle nicht ausreichend erklärt werden. Noch weniger verstand man damals und versteht man heute, wie aus solchen Molekülen komplexe Organismen evolvieren, die über das verhältnismäßig primitive Einzellerstadium hinausgehen.

    Entstand nun trotz aller Unwägbarkeiten und aller ungeklärter Fragen gegen alle Wahrscheinlichkeit Leben, konnten klimatische Schwankungen, Asteroideneinschläge, Vulkanismus oder schlicht ein spontanes Ausgasen der Atmosphäre dieses Leben schnell wieder auslöschen. Zog man alle Variablen in Betracht, wie es Sandberg, Drexler und Orb in ihrer viel beachteten Neuberechnung der Drake-Gleichung taten, war es selbst bei einer Trillion Sterne in unserer Galaxie nicht unplausibel, dass die Erde der einzige Planet mit komplexem Leben war. Mit Ausnahme denkmöglicher bakterieller Matten, so lautete das Ergebnis der Wissenschaft zu Pizmos Zeit, waren wir aller Wahrscheinlichkeit nach allein.

    Ruth Pizmo war es zu verdanken, dass die Studien Schwietermans, Sandbergs und anderer verbreitet wurden und Eingang in den geisteswissenschaftlichen Diskurs ebenso wie in die Populärkultur fanden. Die Vorstellung, dass wir im Universum allein sind, traf damals das Lebensgefühl nicht nur der westlichen Gesellschaften, die infolge diverser Krisen immer stärker zur Vereinzelung tendierten, wie sie heute selbstverständlich ist. In philosophischen Kreisen wurde gar das Zeitalter der Einsamkeit – das Eremozän – ausgerufen. In einer Kultur, in der Weltraumabenteuer zu den beliebtesten Themen der Unterhaltungsindustrie gehörten, entfaltete diese Vorstellung eine erstaunliche Wirkung. Je mehr sich die Ansicht durchsetzte, wonach die Erde der einzige lebendige Planet im Universum war, umso mehr wurden Förderungen für Forschungseinrichtungen und Kulturinitiativen gekürzt, die sich dem Thema Raumfahrt widmeten. Die Folge waren neben der Insolvenz des privaten Raumfahrtunternehmens ihres Ex-Mannes und dem Bankrott des größten Weltraumrohstoffproduzenten (der in seinem zwanzigjährigen Bestehen nicht eine Unze Metall gefördert hatte) schließlich auch die Aufgabe der Pläne zur Errichtung einer Mondstation und zur Ausstattung einer Marsmission. Selbst die Schließung der weltweit führenden

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