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Gesellschaft als staatliche Veranstaltung?: Orte politischer und kultureller Partizipation in der DDR
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eBook504 Seiten5 Stunden

Gesellschaft als staatliche Veranstaltung?: Orte politischer und kultureller Partizipation in der DDR

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Über dieses E-Book

Die paternalistisch-autoritäre Gesellschaftsvorstellung der SED sah persönliches Engagement nur innerhalb staatlicher Strukturen vor, eine gesellschaftliche Selbstorganisation war in der DDR unerwünscht. Doch wie gestaltete sich politische und kulturelle Partizipation innerhalb dieser staatlichen Strukturen in der Praxis? Das Buch wirft in seinen Beiträgen einen vielschichtigen Blick auf bürgerschaftliches Engagement in der DDR. Deutlich wird dabei, dass die Menschen aktiv die Angebote der staatlichen Verwaltungen, Blockparteien und Massenorganisationen für eigene Anliegen nutzten, sei es zur Pflege heimischer Traditionen oder den Umweltschutz. Als mit dem revolutionären Umbruch 1989/1990 diese systemspezifische Partizipation zerbrach, setzten in einigen Fällen die Bürgerinnen und Bürger ihr Engagement in nun erlaubten Vereinen und Initiativen fort.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum12. Dez. 2022
ISBN9783412521677
Gesellschaft als staatliche Veranstaltung?: Orte politischer und kultureller Partizipation in der DDR

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    Buchvorschau

    Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? - Jörg Ganzenmüller

    Herrschaft, Partizipation und Vergemeinschaftung

    Perspektiven einer Gesellschaftsgeschichte der DDR

    Staat und Gesellschaft werden in der deutschen Denktradition zumeist als Antipoden betrachtet. Gesellschaft gilt als staatsferner Raum, in dem sich Freie und Gleiche zum Ausgleich ihrer Interessen zusammenschließen.¹ Das Gesellschaftsverständnis der SED war ein anderes. Sie verstand und organisierte Staat und Gesellschaft als eine Einheit, die auf das Erreichen übergeordneter politischer Ziele ausgerichtet war. Als Aufgabe der Gesellschaft galt, die Staatsmacht bei der Erreichung gemeinsamer Ziele sowie der Lösung von Problemen zu unterstützen. Staat und Gesellschaft sollten im Konsens agieren und als eine Art Gesamtbetrieb effektiv und konfliktarm funktionieren.²

    Die Historiographie hat die Beschaffenheit einer Gesellschaft, wie sie infolge dieser Prämissen in der DDR bestand, konzeptionell und begrifflich zu fassen versucht. Sigrid Meuschel ist zunächst von einem weitgehenden Absterben der Gesellschaft ausgegangen. Im Zuge eines machtpolitisch durchgesetzten sozialen Entdifferenzierungsprozesses seien die ökonomischen, wissenschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Subsysteme ihrer Eigenständigkeit beraubt und ihre spezifischen Rationalitätskriterien außer Kraft gesetzt oder politisch-ideologisch überlagert worden. Die Gesellschaft sei auf diese Weise gleichsam »stillgelegt« gewesen, die bürokratische und polizeiliche Kontrolle habe jegliche Eigendynamik erstickt.³ Konrad Jarausch hat die Kompensation dieser politischen Entmündigung durch einen permanenten Gestus von sozialer Betreuung und materieller Versorgung als eine paternalistische »Fürsorgediktatur« beschrieben.⁴

    Eine solchermaßen inaktive Gesellschaft entsprach allerdings nicht der Programmatik der SED. Ihr Ziel war es vielmehr, die Gesellschaft durch Kampagnen und beständige Aktivitäten ihrer Mitglieder im Rahmen betrieblicher Organisationen und gesellschaftlicher Massenorganisationen zum bereitwilligen Aufbau des Sozialismus zu mobilisieren.

    Eine Variation zur Vorstellung einer abgestorbenen Gesellschaft bildete jene Deutung, welche die DDR-Gesellschaft als vom Staat ermöglicht, durchformt und abhängig beschrieb. Der Staat sei bis in die feinsten Verästelungen einer »durchherrschten Gesellschaft« vorgedrungen, es habe keinen politikfreien Raum gegeben.⁵ Der SED-Staat wird als Krake gezeichnet, »dessen Tentakel sich noch in den letzten Winkel sozialer Existenz erstreckten und verhinderten, dass sich irgendeine Art von ›Zivilgesellschaft‹ jenseits der Reichweite und Kontrolle des Staates entwickelte und gedieh«.⁶ Dieses Bild der institutionellen Durchdringung von Staat, Justiz, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft mit einem Institutionengeflecht, das hierarchisch auf die SED ausgerichtet war, spiegelt zuvorderst deren Herrschaftsanspruch sowie die Struktur der Herrschaftsapparate wider, die geschaffen wurden, um die staatlichen Postulate bis auf die unterste Ebene sozialer Beziehungen im Betrieb, im Wohngebiet und in der Familie durchzustellen. Doch inwieweit lässt sich von einem allumfassenden Herrschaftsanspruch auf eine lückenlose staatliche Kontrolle der Gesellschaft schließen?

    Inzwischen besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die Herrschaftsstrukturen und das »Durchherrschungs-Programm«⁷ nicht die soziale Praxis der Herrschaftsausübung abbilden: »Kein soziopolitischer Krake, wie allumfassend seine Absichten auch seien mögen, kann in der Praxis wirklich allgegenwärtig sein. Der Versuch totaler Kontrolle und totaler Anpassung war unweigerlich zum Scheitern verurteilt.«⁸ Die Gleichzeitigkeit eines weitreichenden staatlichen Steuerungsanspruchs und die Begrenztheit der administrativen Regelungsmechanismen aufgrund individueller Strategien des Ausweichens und Unterlaufens zählt fraglos zur konstitutiven Widersprüchlichkeit der DDR.⁹

    Die »Grenzen der Diktatur«, die gerade durch das Scheitern einer totalen Vereinnahmung der Gesellschaft durch den Staat sichtbar wurden, haben den Blick auf die informellen Netzwerke, welche den Alltag in der DDR prägten, gelenkt.¹⁰ In der öffentlichen Debatte wird die DDR dabei immer noch als eine »Nischengesellschaft« gezeichnet. Der Begriff geht auf Günter Gaus zurück, der bereits 1981 in den »gesellschaftlichen Nischen« den unzerstörbaren Rest einer Kulturgesellschaft sah, die den Eingriffen des Staats resistent gegenüberstand.¹¹ Gaus’ häufig zitiertes Konzept koppelt die Alltagskultur und die Lebenswelten der Bevölkerung vom staats- und parteiöffentlichen Leben ab und unterscheidet strikt zwischen öffentlicher Staatsgesellschaft und privater Gesellschaft. Gesellschaft erscheint hier als eine Sphäre jenseits des Staates, die sich in Konfrontation zu einer in alle Lebensbereiche ausgreifenden Staatsmacht befindet. Thomas Lindenberger hat deshalb bereits im fünften Jahr der deutschen Einheit dafür plädiert, das Augenmerk nicht auf das »Verschwinden von Gesellschaft« zu richten, sondern zu versuchen, die sozialen Beziehungen »an den Grenzen und jenseits der Grenzen des umfassenden staatssozialistischen Zugriffs auszumachen«.¹²

    Inzwischen hat sich die Deutung von Ralph Jessen weitgehend durchgesetzt, der ebenfalls schon früh auf den Unterschied zwischen staatlicher Intention und Herrschaftspraxis hingewiesen hat. Er sieht das Spezifische der DDR-Gesellschaft in der Wechselwirkung von politischem Steuerungsanspruch und sozialem Eigenleben. Der ideologisch motivierte Umbau der Gesellschaft musste mit der Gewährleistung und Steigerung der Leistungsfähigkeit einer staatlich gesteuerten Wirtschaft in Einklang gebracht werden. Dabei standen sich die ökonomischen Ziele und das sozialistische Projekt regelmäßig gegenseitig im Wege. Die Folge war eine systembedingte Überforderung, welche im Alltag mit Pragmatismus kompensiert wurde. Die Leistungslücken wurden durch soziale Beziehungen überbrückt, die sich zu informellen Netzwerken auswuchsen. Richtete man den Fokus auf die funktionalen Ziele der SED, so kämen sehr viel stärker diese ausgleichenden und kompensatorischen Kräfte in den Blick.¹³

    Alle diese Deutungen werfen eine Reihe grundsätzlicher Probleme auf, die es für einen gesellschaftsgeschichtlichen Zugang zur »DDR als Geschichte«¹⁴ zu bedenken gilt. An erster Stelle steht das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Ein gewichtiger Teil der Forschung geht inzwischen von einer engen Verflechtung von Staat und Gesellschaft im Staatssozialismus aus.¹⁵ Allerdings mangelt es noch an empirischen Studien zur Interaktion von Staat und Gesellschaft in der sozialen Praxis. So gelten die Parteien und Massenorganisationen noch zu oft als staatliche Herrschaftsinstrumente oder leere Kulissen einer Scheinpartizipation anstatt als Handlungsebenen für eine spezifische Form der Vergesellschaftung. Inwieweit waren diese parteistaatlichen Institutionen Orte einer Vergesellschaftung? Unter welchen Bedingungen und in welcher Weise fand eine Vergesellschaftung dort statt?

    Zweitens sind gesellschaftliche Akteure in ihrem Handeln ernst zu nehmen. Engagement innerhalb der staatlichen Strukturen speiste sich häufig aus Anpassung oder »missmutiger Loyalität«,¹⁶ konnte aber auch auf Überzeugung in der Sache basieren oder der Verfolgung eigener Interessen dienen. Inwieweit lässt sich Engagement für die DDR als gesellschaftliche Partizipation verstehen? Gab es eine soziale Eigendynamik im Rahmen der staatlich vorgegebenen Grenzen, die sowohl zur Integration in die SED-Diktatur als auch zur Desintegration gesellschaftlicher Milieus beitragen konnte?¹⁷

    Und drittens bedarf es der Analyse von Vergesellschaftungsprozessen in einer Diktatur, in der den Herrschenden interessengeleitete Zusammenschlüsse von Menschen suspekt waren und möglichst unterbunden werden sollten. Wie verliefen Vergesellschaftungsprozesse im konkreten Einzelfall? Inwieweit lässt sich in diesen Fällen überhaupt von Vergesellschaftung sprechen?

    1. Staat und Gesellschaft? Eine verflochtene Herrschaftsbeziehung

    Staat und Gesellschaft stehen stets in einer engen Wechselbeziehung, eine klare Grenzziehung zwischen beiden ist generell ein unmögliches Unterfangen.¹⁸ Die Beziehung von Staat und Gesellschaft war in der DDR ein asymmetrisches Herrschaftsverhältnis. Die SED stellte Ordnung nicht durch einklagbare Rechte, sondern durch Regeln her, die für die Herrschenden selbst nicht verbindlich waren und von ihnen auch jederzeit geändert werden konnten. Diese Regeln setzten Grenzen und definierten die Handlungsspielräume staatlicher wie gesellschaftlicher Akteure. Der totale Herrschaftsanspruch ist allerdings nicht mit der sozialen Realität gleichzusetzen. Max Weber hat Herrschaft einst als »die Chance« definiert, »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«.¹⁹ Alf Lüdtke hat sich gegen eine solche eindeutige Trennung in Herrschende und Beherrschte ausgesprochen. Auch Herrschende befänden sich mitunter in Abhängigkeiten, so dass die Beherrschten mehr als passive Adressatinnen und Adressaten von Befehlen seien. Außerdem existierten Ungleichheiten und Widersprüche sowohl zwischen den Herrschenden als auch den Beherrschten.²⁰ In der Geschichtswissenschaft besteht heute weitgehend Einigkeit darin, dass die alltägliche Herrschaftspraxis nicht nur durch Zwang nach dem Schema ›Befehl und Gehorsam‹ stattfand, sondern in komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozessen. Die Herrschenden gewannen auf die lokale Ebene nur Einfluss, wenn ihre Anordnungen und Befehle von den Angesprochenen wahrgenommen und umgesetzt wurden. Alf Lüdtke verwendet in seinen kulturanthropologisch inspirierten Ansätzen für diesen Adaptionsvorgang den Begriff der ›Aneignung‹:

    Herrschaft mischt sich […] weniger mit offenem Widerstehen als mit Hinnehmen, Ausweichen und Ausnutzen. Zwang schließt Momente von Konsens nicht aus – Stabilität enthält Ansätze zur Umwälzung (und umgekehrt). Erkennbar werden jene Mehrdeutigkeiten, die aus den Aneignungen der Betroffenen erwachsen. Nicht nur Zwänge und Zumutungen aus ›Befehlsgewalt‹ (Weber), sondern auch die Gewalt, die aus Anreizen und Verlockungen […] entsteht: So unterschiedlich sie sind, so sehr werden sie dennoch ›wirklich‹ nur in den Formen, in denen die Angesprochenen sie wahrnehmen und umsetzen.²¹

    Herrschaft ist somit ein Aushandlungsprozess, im Zuge dessen Anordnungen durch die Betroffenen interpretiert und an die jeweiligen Verhältnisse angepasst werden.²² Es greift deshalb zu kurz, wenn man die SED-Diktatur als eine Form der Herrschaft beschreibt, die alle Bereiche des sozialen Lebens in der DDR durchdrungen habe und alle staatlichen sowie gesellschaftlichen Akteure nur kleine Rädchen in einem Getriebe gewesen seien. Vielmehr sind Machträume und Herrschaftsverhältnisse näher und jeweils konkret und quellenbasiert auszuloten. Es ist nach der Reichweite des SED-Staats bzw. den Handlungsmöglichkeiten jener Bürgerinnen und Bürger zu fragen, die keinen unmittelbaren Zugang zu staatlichen Machtressourcen hatten, aber doch um ihre Rechte wussten.²³ Ein praxeologisches Verständnis von Herrschaft nimmt die handelnden Akteure in den Blick und beleuchtet den Zusammenhang von Strukturen, die Handeln gleichermaßen ermöglichen und beschränken, sowie die strukturierenden Folgen sozialen Handelns.²⁴ Auf diese Weise stehen nicht nur die Kontrollund Repressionsmechanismen im Fokus, sondern die Vielfalt informeller und indirekter Formen von Herrschaft und damit auch jene Institutionen, in denen die Apparate und Funktionäre der Bevölkerung im Alltag gegenübertraten.²⁵

    Die soziale Praxis von Herrschaft lässt sich nur mit einem mikrohistorischen Blick auf lokalen Ebenen untersuchen. Dort fanden Aushandlungsprozesse sowohl zwischen der Machtzentrale in Ost-Berlin und den Behörden des Kreises als auch zwischen kommunaler Verwaltung und der Bevölkerung statt. In einer »Arbeitsgesellschaft«²⁶ wie der DDR hatten die ansässigen Betriebe und ihre Betriebsdirektoren großen Einfluss. Mit ihren betrieblichen Sozial- und Kulturfonds, ihren Bauabteilungen und ihren Sonderleistungen für Infrastrukturmaßnahmen stellten sie entscheidende Ressourcen für die kommunale Entwicklung bereit und waren deshalb ein machtvoller Akteur, demgegenüber die örtlichen Verwaltungen häufig als Bittsteller auftreten mussten.²⁷ Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, die von ansässigen Betrieben oder Institutionen getragen wurden, vertraten die Interessen ihrer Klientel auch gegen politische Leitlinien und in Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden.²⁸ Blickt man auf die Betriebsebene, so fällt die relativ starke Verhandlungsmacht der Arbeiterschaft auf, die vielfach auch eine Folge der Erfahrungen des 17. Juni 1953 und der in der SED tief sitzenden Angst vor einem Protest der Arbeiterinnen und Arbeiter war.²⁹ Die Grundorganisationen der SED fungierten hier als Vermittler zwischen Parteiführung und der Belegschaft. Sie konnten Herrschaft nicht durchsetzen, sondern allenfalls die aktuelle Parteilinie erklären, sich als Problemlöser engagieren und als Adressat für angestauten Frust anbieten. Die Grundorganisationen der SED lassen sich somit nicht eindeutig verorten, sie waren weder staatlicher noch gesellschaftlicher Akteur, sondern hatten eine Transmissionsfunktion, welche die Kommunikation zwischen der Parteiführung und den politisch nicht organisierten Bevölkerungsteilen regeln sollte.³⁰

    Inwieweit war eine Gesellschaft, die staatlich verfasst und eng mit staatlichen Strukturen verflochten war, lediglich eine »staatliche Veranstaltung«?³¹ Zweifellos gab es einen Arkanbereich politischer Herrschaft, der den meisten Menschen nicht zugänglich war. Doch der Grenzverlauf zwischen den Arenen exklusiver SED-Herrschaft und dem sozialen Nahbereich war nicht immer eindeutig.³² Formelle und informelle Strukturen griffen ineinander, so dass die Grenzen immer wieder neu ausgelotet werden mussten und zum Teil auch modifiziert werden konnten.³³ Gesellschaft konstituierte sich in der DDR, indem die Menschen politische Konformität mit der Verfolgung eigener Interessen, der Wahrnehmung sozialer Chancen und dem Aufbau sozialer Netzwerke verbanden. Ein konstituierendes Element dieser Gesellschaft war die marktwirtschaftlich funktionierende Schattenwirtschaft, die staatsunabhängig war und zugleich doch von staatlichen Ressourcen lebte sowie staatliche Akteure mit einbezog.³⁴ Und diese ließen sich nicht nur bereitwillig einbeziehen, sondern nutzten ihre staatliche Stellung aktiv und kreativ zur Selbstbereicherung.³⁵ Zwischen der allzuständigen Partei und der kommunalen Gesellschaft entstand ein dichtes Netzwerk klientelistischer Beziehungen. Loyalität und Partizipation wurden gegen knappe Ressourcen und soziale Bevorzugung getauscht. Persönliche Beziehungen subsituierten sachliche Funktionsmängel, informelle Lösungen zog man bürokratischen Verfahren vor. Die staatliche wurde somit eng mit der privaten Sphäre verwoben. Die fehlende Trennung von Staat und Gesellschaft reichte bis tief in den Alltag der Menschen hinein.³⁶

    Wenn man vor dem Hintergrund dieser engen Verflechtung von Staat und Gesellschaft nach einer Gesellschaft jenseits des Staates fragt, dann wird man zwangsläufig nur auf jene Akteure stoßen, die sich mit ihrem Engagement bewusst und unter Inkaufnahme der zum Teil harten Konsequenzen vom Herrschaftsanspruch der SED distanzierten. Oppositionsgruppen und die seit den 1970er Jahren aufkommende Bürgerrechtsbewegung entsprechen am ehesten dem Idealtyp einer Gesellschaft als staatsfernem Raum. Allerdings zählte nur ein sehr kleiner Teil der DDR-Bevölkerung zu diesen Gruppen. Ein sozialanthropologischer Blick auf die DDR-Gesellschaft sollte sich deshalb nicht nur auf die Widerspenstigkeit der Dissidenz richten, weil er sonst in einer Ethnologie der Unangepasstheit steckenbliebe – wie Lutz Niethammer zu bedenken gegeben hat.³⁷ Wenn man darüber hinaus gesellschaftliche Partizipation in den Blick bekommen möchte, dann muss man nach Möglichkeiten und Formen der Teilhabe innerhalb oder am Rande staatlicher Strukturen fragen, also in den Parteien, in den Massenorganisationen und auch innerhalb der staatlichen Behörden. Hier stößt man auf Grenzgänger, die sowohl im Staat als auch in der Gesellschaft agierten. Sie vermittelten beiderseits der Grenze und versuchten zugleich ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger von Grenzverletzungen abzuhalten.³⁸ Im betrieblichen Alltag transportierten etwa die Vertrauensleute des FDGB Herrschaftsanliegen und vertraten Belegschaftsinteressen gleichermaßen: Sie waren für ein gutes Betriebsklima verantwortlich, pufferten Konflikte ab, leiteten die Stimmung der Mitglieder weiter und wurden mitunter zu Disziplinierungsmaßnahmen herangezogen. Es ist schlechterdings nicht möglich, sie unter diesen Bedingungen klar dem Staat oder den Arbeitskollektiven bzw. der Belegschaft zuzuordnen.³⁹

    Selbst ein Dorfpolizist versah seinen Dienst tendenziell in Übereinstimmung sowohl mit den staatlichen Vorgaben als auch den Vorstellungen der Dorfgemeinschaft, da er selbst einen Alltag in dieser Gemeinschaft hatte. Die SED beklagte sich infolgedessen regelmäßig über das »Versöhnlertum«, das unter den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei grassiere.⁴⁰ Der Staat war auch in der DDR kein monolithischer Block. Allzu oft verliefen lokale Konflikte nicht zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, sondern innerhalb des stetig wachsenden Partei- und Staatsapparats. In Gera entbrannte zum Beispiel in den frühen 1980er Jahren ein Kulturkonflikt um ein Puppentheater, weil SED-Kulturfunktionäre die Kulturpolitik für Trends der Jugendkultur öffnen wollten, Mitarbeiter des MfS diesen Öffnungs- und Integrationskurs der Partei jedoch bekämpften, da sie in der autonomen Jugendkultur eine Variation des Klassenfeindes sahen.⁴¹ Hier stand eine gesellschaftliche Initiative weder jenseits des Staates, noch war sie eine staatliche Veranstaltung.

    Gesellschaft war in der DDR somit vorwiegend eine lokale Veranstaltung. Ein mikrohistorischer Blick zeigt, wie sich lokale Akteure mit ihrem sozialen Umfeld arrangierten, ihre Tätigkeit mit diesem aushandelten, auf soziale Beziehungen Rücksicht nahmen oder Anpassungsleistungen erbrachten, die eine Umsetzung der politischen Absichten ermöglichten. Von einer Gleichrangigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Akteure kann hierbei nicht die Rede sein. Die Beherrschten konnten die Grenzen der Herrschaft zwar punktuell verschieben, jedoch nichts grundsätzlich an den Herrschaftsverhältnissen ändern.⁴² Die Menschen waren in der DDR in einem komplizierten Geflecht von Mikrobeziehungen mit der Staatsmacht verbunden. Dieses Beziehungsgeflecht konnte das Herrschaftssystem sowohl reproduzieren als auch konterkarieren. Akteure konnten eine Stellung einnehmen, die gleichzeitig im Staat und in der Gesellschaft verankert war, so dass eine klare Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft kaum zu ziehen ist.⁴³ Das schließt nicht aus, dass die Herrschenden ihrerseits Grenzen setzten. Doch in den Bereichen, wo sie diese Grenzen nicht für alle sichtbar zogen, mussten die Menschen ihre Handlungsspielräume selbst deuten und ausloten. Um dies zu tun, ohne in Schwierigkeiten zu kommen, eigneten sie sich die Vorstellungen, Werte und Begriffe des Regimes eigensinnig an und waren dadurch in der Lage, Einfluss auf die soziale Praxis von Herrschaft zu gewinnen.

    Es muss in der weiteren Forschung deshalb darum gehen, eigensinnige soziale Interaktionen in formellen Strukturen, die sowohl integrierend als auch herrschaftsbegrenzend wirkten, aufzuzeigen. Eigensinn wird dabei nicht als Widerspenstigkeit verstanden, sondern steht für die intrinsischen Reibungsverluste jeglicher Herrschaftspraxis. Es fordert die Herrschenden nicht heraus, sondern reproduziert herrschaftskonforme Handlungsweisen, indem sie diesen einen anderen Sinn geben als die offizielle Ideologie. Eigensinn ist somit auch eine Voraussetzung für die Stabilität von Herrschaft.⁴⁴ Für diejenigen, die in der DDR eigensinnig handelten, bedeutete dies mitunter auch, sich eine widrige Umwelt anzueignen und sich stets zwischen beschämendem Mitmachen und listigem Verweigern entscheiden zu müssen.⁴⁵ Die sich wandelnden Handlungsmöglichkeiten – und im Verlaufe von 40 Jahren DDR veränderten sich diese erheblich – sowie die soziale Herrschaftspraxis durch Akteure an den Schnittstellen von Staat und Gesellschaft sind Untersuchungsfelder, die Gesellschaft unter den spezifischen Bedingungen einer Diktatur sichtbar machen.

    2. Gesellschaftliches Engagement in staatlichen Strukturen: Orte der Partizipation im SED-Staat

    Die Menschen in der DDR zeigten vielfältige Formen von Engagement und Eigeninitiative: in ehrenamtlichen Tätigkeiten, in den Basiseinheiten der Institutionenlandschaften, in der Sanierung von Altbausubstanz und nicht zuletzt in der Arbeitswelt, wo professioneller Gestaltungswille und institutionelle Gestaltungsmöglichkeiten aufeinandertrafen. Auch wenn staatssozialistische Regime nach einer staatlichen Steuerung des gesellschaftlichen Lebens strebten und Eigeninitiative grundsätzlich ablehnten, war deren Überlebensfähigkeit vom Engagement und von der Eigeninitiative der Menschen abhängig.⁴⁶ Partizipation war somit erwünscht. Doch war damit nicht Mitbestimmung gemeint, sondern lediglich eine aktive, affirmative Beteiligung bei der Umsetzung politisch vorgegebener Ziele. Auch sollte dieser Einsatz innerhalb und nicht außerhalb der staatlichen Strukturen stattfinden. Es waren einerseits diese Möglichkeiten der Partizipation, die ganz wesentlich zur Integration der Menschen beitrugen und bis heute als positive Seiten der DDR erinnert werden. Andererseits konnte persönliches Engagement auch unfreiwillig sein und allein dem Selbstschutz in bestimmten staatlichen Institutionen oder sozialen Konstellationen dienen.⁴⁷ Inwieweit trug all dies zum Funktionieren und zur Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft bei, so dass man von einer »partizipativen Diktatur« sprechen kann?⁴⁸

    Der SED-Staat war für viele DDR-Bürgerinnen und Bürger nicht allein der einschüchternd-bornierte Leviathan der Reglementierung und Repression. Er bildete auch den Rahmen für individuelles und kollektives Engagement. Innerhalb der staatlichen Strukturen erbrachten die Menschen Leistungen, befriedigten ihren Ehrgeiz und erwarben sich soziale Anerkennung.⁴⁹ Ein bis zwei Millionen DDR-Bürgerinnen und Bürger, das sind rund 10 Prozent der Erwachsenen, waren in Massenorganisationen, politischen Parteien, regionalen und lokalen Vertretungsgremien oder im staatlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsapparat ›aktiv‹. Ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung der DDR bekleidete irgendwann im Laufe des Berufslebens eine ehrenamtliche Funktion: in Gemeindevertretungen, Wohnungskommissionen, Elternvertretungen, Gewerkschaftsleitungen und anderen Gremien. Sie setzten sich für Problemlösungen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ein oder engagierten sich in Bereichen, die ihnen persönlich wichtig waren. Sie alle trugen zum Funktionieren der SED-Diktatur bei, lassen sich aber nicht pauschal als Repräsentanten der Staatsmacht charakterisieren.⁵⁰

    Stefan Wolle sieht dieses ehrenamtliche Engagement als Ausdruck einer »Aktivitätsfalle«. Zum einen sei totale Abstinenz von gesellschaftlicher Arbeit in der SED-Diktatur kaum durchzuhalten gewesen, zum anderen habe man der staatlichen Bürokratie nicht vollkommen das Feld überlassen wollen. Wer sich jedoch in seinem Wohngebiet, am Arbeitsplatz oder in den Schulen für eine Besserung der Verhältnisse habe einsetzen wollen, der »lief Gefahr, durch die Beteiligung tendenziell integriert zu werden«.⁵¹ Soziale Integration als Ergebnis einer »Aktivitätsfalle« unterstellt, dass gesellschaftliches Engagement trotz oder gegen die SED-Herrschaft stattgefunden habe und Integration letztlich nicht gewollt gewesen sei. Gesellschaftliches Engagement wurde aber keineswegs nur widerwillig geleistet. Es bot für viele ein Betätigungsfeld, auf dem Erfolg, Befriedigung und Bestätigung gesucht und gefunden wurde.⁵² Zudem gab es auch überzeugtes, intrinsisch motiviertes gesellschaftliches Engagement für den Sozialismus, wobei diejenigen, die sich für einen Sozialismus jenseits der SED-Doktrin einsetzten, schnell stigmatisiert, ausgegrenzt und verfolgt wurden.⁵³ Es gehört auch zu den konstitutiven Widersprüchen der DDR, dass die SED eine Gesellschaft schaffen wollte, die durch aktive Teilhabe getragen wurde und deshalb »gesellschaftliche Aktivität« einforderte, zugleich aber jegliche eigenständige Regung misstrauisch beäugte und möglichst unterband.⁵⁴ Thomas Lindenberger hat diese Vorstellung einer staatlich gelenkten Gesellschaft treffend umschrieben: Jeder sollte an dem Platz, wo ihn die SED hingestellt hatte, seinen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten, aber auch nur dort.⁵⁵ Eine Partizipation, bei der sich der Einzelne mit seinen Ideen und Vorstellungen einbringen konnte, war dies nicht.

    Die Orte, an denen sich Menschen engagieren konnten, waren vielfältig. Die SED schuf ein ausuferndes Institutionengeflecht, das gesellschaftliche Teilhabe innerhalb der staatlichen Strukturen ermöglichte und zugleich determinierte. Die meisten Mitglieder hatten die staatlichen Massenorganisationen, von denen Ende der 1980er Jahre der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) mit 9,6 Millionen und die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) mit 6,4 Millionen Mitgliedern die größten waren. Der FDJ gelang es durch politischen und sozialen Druck, am Ende der DDR über 80 Prozent der Jugendlichen organisatorisch an sich zu binden. Die Mitgliederzahlen lassen noch keine Rückschlüsse auf gesellschaftliches Engagement zu, da die überwiegende Mehrheit zur Mitgliedschaft genötigt worden war und aus Karteileichen bestand. Vielmehr ist von wenigen aktiven Mitgliedern auszugehen, denen die Massenorganisationen eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichten. Auch diese aktive Minderheit war ein Teil der DDR-Gesellschaft.

    Dies trifft ebenso auf die hunderttausenden hauptamtlichen Kader und Millionen Mitglieder zu, die in der SED auf den unteren Ebenen der Parteihierarchie Funktionen und Aufgaben übernahmen. Sie konnten im begrenzten Maße die Politik im regionalen und lokalen Umfeld mitgestalten.⁵⁶ Engagement speiste sich auch aus politischen Überzeugungen, die eine Schnittmenge mit der Politik der SED aufwiesen und eine eigensinnige Aneignung ermöglichten. Wer seine politischen Vorstellungen zumindest partiell mit jenen der SED in Einklang bringen konnte, der konnte sich innerhalb der staatlichen Strukturen engagieren, ohne restlos im SED-Staat aufzugehen. Auch wenn solche mit der SED sympathisierenden gesellschaftlichen Akteure weit davon entfernt waren, eine Autonomie gegenüber der herrschenden Partei zu erlangen, so war ihr Engagement doch mehr als nur eine staatliche Veranstaltung.⁵⁷ Wer der SED hingegen politisch fernstand, sich aber dennoch aktiv bei der Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes einbringen wollte, der konnte dies im Rahmen der anderen Blockparteien tun. Wer sich zum Beispiel in der CDU engagierte, für den bedeutete Parteiarbeit auf lokaler Ebene zumeist, sich für die dörfliche Infrastruktur, die Renovierung der Kirche oder bei der Freizeitgestaltung einzusetzen.⁵⁸ Die Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft gehörte in diesen Fällen nicht zu den leitenden Handlungsmotiven.

    Jenseits der Politik boten sich am Arbeitsplatz Möglichkeiten der Teilhabe. In den Betrieben stützten sich die Gewerkschaftsleitungen nicht nur auf ihre Mitglieder und Vertrauensleute, sondern auch auf zahlreiche Kommissionen, in denen die Beschäftigten sich ehrenamtlich engagieren konnten. Diese Kommissionen dienten nicht zuletzt der Verteilung von Gütern sowie der Aushandlung von betrieblichen Konflikten, wie etwa die Wohnungskommission, die Ferienkommission oder Arbeitsschutzkommission.⁵⁹ Ehrenamtliche Funktionärinnen und Funktionäre arbeiteten auch in den Konfliktkommissionen in den Betrieben, in den Schiedsgerichten der Bezirke und in den Kommissionen für Ordnung und Sicherheit. Dort wurde nicht zuletzt sozial abweichendes Verhalten verhandelt und mitunter auch sanktioniert. Insbesondere gegenüber Menschen, deren Verhaltensweisen den Normvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft widersprachen, wurden »erzieherische Maßnahmen« befürwortet oder gar angeregt.⁶⁰ Ehrenamtliches Engagement konnte somit auch Teilhabe an staatlicher Repression bedeuten.

    Es entsprach dem Gesellschaftsverständnis der SED, dass die Menschen sich auch nach Feierabend für die sozialistische Gemeinschaft einbringen sollten. Unter dem Titel »Mach mit! – Schöner unsere Städte und Gemeinden« gab es seit 1967 eine Kampagne der Nationalen Front, an der sich zahlreiche Menschen beteiligten. Die Kampagne verfolgte das Ziel, dass sich die Menschen in ihrer Freizeit für die Gesellschaft engagierten und damit auch ihre Verbundenheit mit dem sozialistischen Aufbau demonstrierten. Innerhalb dieses staatlichen Rahmens fanden sich lokale Interessengemeinschaften zusammen, um das eigene Dorf oder den eigenen Wohnblock zu verschönern, lokale Infrastruktur zu reparieren oder sich für den Umweltschutz einzusetzen. Hier trafen sich Gleichgesinnte, die sich im Interesse der jeweiligen Gemeinschaft engagierten und sich an Leitkategorien wie ›Sauberkeit‹ und ›Ordnung‹ orientierten.⁶¹ Manche nutzten den staatlichen Rahmen auch dazu, individuelle Anliegen zu verfolgen. Die SED nahm ein solches Engagement als Loyalitätsbeweis hin, solange es in der Sprache der Partei begründet wurde.⁶²

    Der – zumal im Kalten Krieg nicht zu unterschätzende – Minimalkonsens zwischen SED und Bevölkerung beruhte durchaus auf gemeinsamen Wertorientierungen und politischen Zielen: Frieden, soziale Sicherheit und wachsender Wohlstand waren die zentralen Bestandteile dieser gemeinsamen politischen Vorstellungen.⁶³ Es war darüber hinaus möglich, eigene Interessen zu verfolgen, mitunter sogar eine eigene Rationalität zu entwickeln und Bündnisse mit staatlichen Akteuren einzugehen. Engagement für Umweltschutz fand sowohl im Rahmen der 1980 unter dem Dach des Kulturbundes gegründeten Gesellschaft für Natur und Umwelt als auch jenseits des Staates in lokalen Umweltgruppen statt, die sich häufig unter dem Dach der Kirchen organisierten.⁶⁴

    Mitunter führte das Engagement für staatlich legitimierte Ziele zu ungewöhnlichen Bündnissen. Ende Oktober 1988 begannen zum Beispiel einige Studierende der Jenaer Universität, die Aktion Ambulancia ins Leben zu rufen.⁶⁵ Sie sammelten Spenden für einen Krankenwagen, der einem Krankenhaus in Nicaragua geschenkt werden sollte. Solidarität mit Nicaragua lag ganz auf der politischen Linie der SED. Allerdings sollte diese auch staatlich kontrollierbar sein. Die Initiatoren der Aktion waren Studenten der Sektion Staats- und Rechtswissenschaften und strebten den Beruf des Staatsanwalts an. Ihr Vorhaben wies zwei Besonderheiten auf. Zum einen organisierten sie die Sammlung ganz bewusst jenseits der Organisationsstrukturen der FDJ, zum anderen hatten sich einige Studierende der Theologie dem Projekt angeschlossen. Diese drängten darauf, die Sammlung für die Spendengeber transparent zu gestalten, das heißt: Alle sollten die Höhe ihrer Spende selbst bestimmen und auch wissen, wofür die Gelder verwendet würden. Deshalb wollten sie ihre Initiative selbst koordinieren.

    Zu Beginn entwickelte sich die Sammlung sehr erfolgreich. Bis zum Frühjahr 1989 war es gelungen, mit öffentlichen Veranstaltungen, durch gespendete Honorare der auftretenden Künstlerinnen und Künstler, durch Arbeitseinsätze und durch Verkaufsbasare knapp 28.000 Mark zu sammeln. Gleichzeitig stellte ein selbst herausgegebenes Informationsblatt die angestrebte Transparenz her und warb für die Sammlungsaktion. Genau dadurch war aus Sicht der staatlichen Organe jedoch eine Grenze überschritten worden. Sowohl die Zusammenarbeit mit den als feindlich deklarierten Studierenden der Theologie als auch die überregionale Vernetzung durch das Informationsblatt galten diesen als Sakrileg. Universitätsleitung und Partei übten nun Druck auf die angehenden Juristen aus, sich von ihren theologischen Mitstreitenden zu trennen und die ganze Aktion als Projekt der FDJ weiterzuführen, und die Staatssicherheit instruierte die angehenden Stasi-Offiziere unter den Jurastudenten, ihre Kommilitonen stärker zu überwachen und die Trennung derselben von den angehenden Theologinnen und Theologen zu erreichen. Schließlich sollte die Aktion durch Partei, FDJ und Universitätsleitung übernommen werden. Als auch dies scheiterte, eröffnete die Staatssicherheit einen Operativen Vorgang und die Universitätsleitung brachte die angehenden Juristen durch Sanktionen wieder ›auf Linie‹. Ohne die Friedliche Revolution wäre das ganze Projekt vermutlich im Sande verlaufen und der Krankenwagen wäre nie nach Nicaragua gelangt.

    Die Gründe für diese staatliche Intervention lagen darin, dass die Akteure sich über Grenzen hinweggesetzt hatten, als sie ein Feindbild ignoriert und das Inszenierungsmonopol des Staates unterlaufen hatten. Mit der Disziplinierung wird das tiefe Misstrauen der SED gegenüber jeglichen gesellschaftlichen Eigeninitiativen sichtbar. Die Jurastudenten wiederum glaubten, systemkonform zu agieren, und hofften, den Konflikt durch eine Eingabe an Erich Honecker aus der Welt schaffen zu können. Die künftigen Staatsanwälte zeigten gesellschaftliches Engagement, agierten dabei systemimmanent und wurden zu potenziellen Feinden stigmatisiert sowie zum Objekt – und teilweise auch Subjekt – der Ermittlungen von Seiten der Staatssicherheit.

    Gesellschaftliches Engagement speiste sich darüber hinaus auch aus unpolitischen Gründen. Die unterschiedlichen Praktiken des Mit- und Selbermachens zeugen von der hohen Bereitschaft der Menschen, sich dann in ihrer Freizeit zu engagieren, wenn sie sich einen konkreten Nutzen von ihrer eingebrachten Arbeitsleistung versprachen. Dies war nicht auf die private Herstellung von Konsumgütern begrenzt, die in der Mangelgesellschaft nur schwer zu bekommen waren, sondern erstreckte sich auch auf Wohnungsreparaturen, wenn bauliche Eigenleistungen die Chancen auf einen eigenen Wohnraum erhöhten.⁶⁶ Ordnung, Stabilität und Berechenbarkeit lagen nicht nur im Interesse der SED, sondern auch im Interesse der Menschen. Staat und Gesellschaft gingen in der DDR überall dort vielgestaltige Arrangements ein, wo sie Interessen teilten.⁶⁷ Und es gab ein stillschweigendes Abkommen, dass aktiver Einsatz für die DDR mit kleineren Privilegien belohnt wurde. Dort, wo Letzteres ausblieb, beschwerten sich die Betroffenen nicht selten mit empörten Eingaben, in denen sie ihre Leistungen der fehlenden Anerkennung durch den Staat (zum Beispiel in Form der Zuteilung einer Datscha) entgegenstellten.⁶⁸

    Die SED bestand auf eine staatliche Rahmung jeglichen gesellschaftlichen Engagements nicht nur deshalb, weil sie den Menschen misstraute, sondern auch, weil sie die staatliche Inszenierung von Partizipation zur Legitimation ihrer Herrschaft nutzte. Die permanente Mobilisierung der Massen suggerierte und inszenierte die Identität von Volk und Führung. Der oktroyierte Konsens zwischen ›Avantgarde und Massen‹ war allerdings keine reine Inszenierung der Herrschenden, sondern basierte auf Perzeptionshaltungen und Orientierungsmustern, welche die Menschen im Laufe der Zeit gelernt hatten, ja lernen mussten, um innerhalb der staatlichen Strukturen zu agieren.⁶⁹ Wer sich am Arbeitsplatz oder im gesellschaftlichen Leben einbringen wollte, der musste nicht nur den Führungsanspruch der herrschenden Partei anerkennen, sondern auch an deren Inszenierung von Wirklichkeit sowie an dem proklamierten Konsens von Herrschenden und Beherrschten teilhaben.⁷⁰ Dazu genügte es aber nicht, in einer Art Mimikry in den Worten und Begriffen der Herrschenden zu sprechen. Wer etwas bewirken wollte, der musste sich wohl oder übel das herrschende Deutungs- und Wertesystem aneignen und dieses mit dem eigenen wenigstens partiell in Einklang bringen. Wer bereit war, die herrschenden Dogmen zu akzeptieren, der konnte innerhalb des Diskurses seine eigenen Interessen verfolgen.⁷¹ Das Verhältnis der Menschen zum Staat geht somit nicht in Strategien des Ausweichens und Anpassens auf, vielmehr gehörten zu den Handlungsmustern auch Formen des Aneignens und Ausnutzens. Partizipation war somit eine Handlungsoption, die den Menschen gerade auf lokaler und regionaler Ebene auch in der SED-Diktatur offenstand.

    Spätestens Mitte der 1980er Jahre verlor die SED zusehends die Folgebereitschaft der gesellschaftlichen Unterstützergruppen. In den Betrieben waren es die ehrenamtlichen Vertrauensleute des FDGB, die im Zuge der Delegitimierung der SED ein Selbstbewusstsein gegenüber dem Parteistaat entwickelten und 1989 zu Protagonisten des Wandels wurden.⁷² 1988/1989 waren auch die SED-Mitglieder und Funktionäre auf Kreisebene immer weniger bereit, der Parteiführung zu folgen. Die zunehmenden Massenproteste, wozu neben den Demonstrierenden des Herbstes 1989 auch die Ausreisebewegung in den langen 1980er Jahren zählte, entlarvte den inszenierten Konsens von Partei und Volk und machte den Herrschaftsverlust der SED für alle sichtbar – und ermutigte zum Ansprechen der Probleme als auch der Verzweiflung. Indem sich die Massen im Herbst 1989 von der SED emanzipierten, traten Staat und Gesellschaft in der DDR wieder auseinander.

    3. Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung: Formen und Grenzen sozialer Integration

    Die partizipativen Möglichkeiten in die SED-Diktatur sind bislang vor allem hinsichtlich ihrer Disziplinierungsfunktion untersucht und nur selten als Faktor von Vergesellschaftung in der Diktatur verstanden worden. Alltagsgeschichtliche und mikrohistorische Studien haben inzwischen jedoch hinlänglich gezeigt, dass Vergesellschaftung in der DDR möglich war.⁷³ Gesellschaftliches Engagement speiste sich wesentlich aus eigenen Interessen und Bedürfnissen. Verstehen wir mit Max Weber »Vergesellschaftung« als eine soziale Beziehung, wenn soziales Handeln auf gemeinsamen Interessen beruht oder einen Interessenausgleich anstrebt,⁷⁴ dann trifft dies auf ein Engagement zur Verbesserung der eigenen Lebenswelt zu. Menschen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam ihre lokalen, betrieblichen oder individuellen Interessen zu vertreten. Kennzeichen der SED-Diktatur war, dass eine solche Interessenvertretung innerhalb der vorgegebenen staatlichen Strukturen erfolgen sollte und keinesfalls auf gesamtstaatlicher Ebene, sondern nur in den untersten Segmenten der Institutionenebenen. Die Folge war nach Thomas Lindenberger eine Verinselung der weitgehend auf sich gestellten Partizipationsräume. Es habe keine übergreifende Instanz gegeben, die diese weit verstreute Partizipation gebündelt und zu politischer Wirksamkeit verholfen habe – mit Ausnahme der Kirchen in den letzten Jahren der DDR. Die Gesellschaft in der DDR sei nicht abgestorben oder stillgelegt, sondern vor allem begrenzt gewesen. Dort, wo die Verhältnisse überschaubar gewesen seien, hätten die Menschen Regelungskompetenzen gehabt. Schon die Grenze nach oben zur Kreis- oder Bezirksebene sei jedoch weitgehend undurchlässig gewesen. Um diese kleinen Einflusszonen zu schützen, hätten die Menschen ihrerseits dafür gesorgt, deren Grenzen aufrechtzuerhalten. »Eindringlinge« von oben seien als Funktionsstörung und Bedrohung der untersten Einheit empfunden worden. Soziale Differenzierung habe wiederum nur auf dieser untersten Ebene stattgefunden, es habe sich eine Gesellschaft en miniature herausgebildet.⁷⁵ Staat und Gesellschaft treten auch in dieser Analyse als zwei abgegrenzte Sphären auf, wobei die Grenzen nun zwischen den untersten und den unteren Organisationseinheiten des Staats verlaufen.

    Jeder, der sich in der DDR gesellschaftlich engagierte, war zu einer permanenten Beziehungsarbeit gezwungen: Er musste ein Netzwerk persönlicher Kontakte und seine do-ut-des-Verhältnisse pflegen.⁷⁶ Vergemeinschaftung war somit eine Notwendigkeit für gesellschaftliches Engagement. Max Weber unterschied zwischen

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