Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zukunft möglich machen: Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung - Geschichte einer Hamburger Institution
Zukunft möglich machen: Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung - Geschichte einer Hamburger Institution
Zukunft möglich machen: Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung - Geschichte einer Hamburger Institution
eBook672 Seiten8 Stunden

Zukunft möglich machen: Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung - Geschichte einer Hamburger Institution

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Landesbetrieb Erziehung und Beratung – das ist eine nüchterne Bezeichnung für eine Organisation, die in der Großstadt Hamburg an allen Tagen des Jahres rund um die Uhr für den Schutz und das Wohlergehen junger Menschen tätig ist.
Der Landesbetrieb wurde 1985 aus dem damaligen, großen Bestand an staatlichen Erziehungsheimen gegründet, der auf einen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeschlagenen Sonderweg zurückgeht. Anders als in Deutschland üblich, entschloss sich der Hamburger Senat, die öffentliche Erziehung in staatlichen Heimen durchzuführen, um auf ihre Ausgestaltung einzuwirken. Seither fanden gesellschaftliche und fachliche Entwicklungen über politische Entscheidungen Eingang in die Entwicklung der staatlichen Jugendhilfeeinrichtungen und später in die des Landesbetriebes.
Die lange Geschichte dieser "Hamburger Institution" wird in diesem Buch erzählt. Sie beginnt mit den sozialstaatlichen Wurzeln im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und schildert die wechselvolle Entwicklung über die folgenden Jahrzehnte bis zum Aufbruch in einen umfassenden Modernisierungsprozess mit der Heimreform und der betriebswirtschaftlichen Professionalisierung seit den 1980er Jahren. Sie endet nach dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, in dem der Landesbetrieb die ihm von der Politik zugedachte Rolle als "Backbone" in der Hamburger Jugendhilfe eingenommen hatte.
Für den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg war er ein fachpolitisches Instrument im Zentrum der Hamburger Jugendhilfe, weil er den Schutz und die Förderung von Kindern und Jugendlichen absicherte. In seiner Geschichte stand er in brisanten, politisch aufgeladenen Situationen im Fokus der Öffentlichkeit: bei der Abschaffung der Geschlossenen Unterbringung 1980 und ihrer Wiedereinführung 2003, der Heimreform, beim Umgang mit den sogenannten "Crash-.Kids" und jugendlichen Straftätern in den 1990er Jahren und der Versorgung minderjähriger, unbegleiteter Flüchtlinge in den 1990er und 2010er Jahren.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. März 2022
ISBN9783754958872
Zukunft möglich machen: Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung - Geschichte einer Hamburger Institution

Ähnlich wie Zukunft möglich machen

Ähnliche E-Books

Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Zukunft möglich machen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zukunft möglich machen - Klaus-Dieter Müller

    img1.jpg

    Klaus-Dieter Müller

    Zukunft möglich machen

    Klaus-Dieter Müller

    Zukunft möglich machen

    Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung

    - Geschichte einer Hamburger Institution -

    Impressum

    Text und Umschlaggestaltung:

    © Copyright by Klaus-Dieter Müller, Hamburg

    Verlag:

    Klaus-Dieter Müller

    Glasbläserhöfe 8d

    21035 Hamburg

    klaus-dieter.mueller@hamburg.de

    Druck und Vertrieb:

    epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Hamburg, Februar 2022

    Vorwort

    Teil I: Wurzeln

    Kinder der Armut

    Der Staat greift ein

    Eine neue Zeit

    Talfahrt

    Ausgestoßen, benutzt und vernichtet

    Neuanfang? Zurück in die 1920er

    „Etwas Geborgenheit fanden alle"

    Bambule

    „Wie ein Stück Dreck behandelt"

    Teil II: Aufbruch

    „Die Würde des Kindes ist unantastbar?"

    Die Heimreform schreitet voran

    „Menschen statt Mauern"

    Die zweite Reform

    Der Riese taumelt

    Schmerzhafte Grenzen

    Im Fokus der Politik

    Teil III: Umbruch

    Politikwechsel

    Die schwarze Null

    Mauern und Menschen

    Die Politik sortiert sich neu

    Teil IV: Backbone

    Netz und Zuflucht

    „Wir schaffen das"

    Im Griff des Virus

    Epilog

    Danksagung

    Der Autor

    Quellen

    Anmerkungen zur Auswahl und Verwendung der Quellen

    Literaturverzeichnis

    Aktenverzeichnis

    Anmerkungen

    Vorwort

    „Landesbetrieb Erziehung und Beratung" – das ist eine recht nüchterne Bezeichnung für eine Organisation, die in der Großstadt Hamburg an allen Tagen des Jahres rund um die Uhr für das Wohlergehen junger Menschen tätig ist. Sie schützt, versorgt und betreut Kinder und Jugendliche, wenn ihre Familien dies nicht mehr gewährleisten können, unterstützt junge Erwachsene auf ihrem Weg in ein selbstständiges Leben und berät Familien.

    Kern dieser Aufgabe ist es, jungen Menschen Wege zu einem befriedigenden, selbstbestimmten Leben in der Gesellschaft zu ebnen. „Wir machen Zukunft möglich" lautet daher auch der Titel des Leitbildes, das sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesbetriebes selbst gegeben haben.

    Das ist zunächst nichts Besonderes. Der Leitsatz drückt den Geist aus, den letztlich alle im Sozialen tätigen Institutionen und Menschen teilen. Und der Blick in die Geschichte zeigt, dass auch die vorangegangenen Generationen diesem Leitsatz folgten, allerdings mit einem anderen Begriff von der Zukunft für junge Menschen und anderen Mitteln zu ihrer Verwirklichung.

    Die Tätigkeit auf diesem Gebiet ist in Deutschland seit jeher eine Domäne Freier Träger der Wohlfahrtspflege. Das ist historisch bedingt, denn einer Fürsorge bedurfte es schon, bevor ein staatlich organisiertes Gemeinwesen sich seiner bedürftigen Mitglieder annehmen konnte und wollte. Dieser starken Stellung religiös und später auch weltlich orientierter Träger auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege wurde in der sozialstaatlichen Gesetzgebung Rechnung getragen. Das dort verankerte Subsidiaritätsprinzip verpflichtet den Staat, die sozialen Aufgaben zu planen, hoheitlich zu administrieren und zu finanzieren, aber nicht selbst helfend am Menschen tätig zu werden, wenn ein Freier Träger hierfür bereitsteht.

    Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung in Hamburg, seit Jahrzehnten als „LEB" abgekürzt, ist insoweit eine Ausnahme. Er ist Teil einer Landesbehörde und somit in staatlicher Trägerschaft. Auch das ihm zugewiesene Aufgabenspektrum und der Umfang seiner Ressourcen sind außergewöhnlich. Im Jahr 2021 waren über 700 Beschäftigte an über 40 Standorten in der Stadt für ihn tätig. Sein Jahresumsatz hatte ein Volumen von rund 57 Millionen Euro. Seine heutige Stellung ist das Ergebnis einer langen Entwicklung und eines Sonderweges, den die Freie und Hansestadt Hamburg gegangen ist. Der Landesbetrieb ist damit in Deutschland einmalig.

    Der LEB wurde 1985 aus den damaligen, staatlichen Erziehungsheimen gegründet. Seine Wurzeln liegen tiefer und gehen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als sich der Hamburger Senat noch eher halbherzig für die Jugend engagierte. Für den Landesbetrieb ist daher der Beginn der modernen, staatlichen Jugendfürsorge im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Deutschland und speziell in Hamburg der markante historische Bezugspunkt, der auch für den Teil I, „Wurzeln, der Ausgangspunkt ist. Der Hamburger Sonderweg wurde in den 1920er Jahren aufgrund einer politischen Strategie beschritten. Der Senat entschied sich damals bewusst für staatlich betriebene Einrichtungen für junge Menschen, um „auf den Geist der Anstalt einen Einfluss zu besitzen, wie das Landesjugendamt diese Politik 1925 begründete. Das nationalsozialistische Regime übernahm 1933 die politische Macht und nahm auf ihre, verbrecherische Weise Einfluss auf die staatliche Erziehung. In der Nachkriegszeit verfolgte der Senat die Politik der 1920er Jahre im Grundsatz weiter, so dass Hamburg Ende der 1970er Jahre über einen relativ großen Bestand an Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft verfügte.

    Teil II befasst sich mit der Gründung und Etablierung des Landesbetriebes im Zuge der in Hamburg verspätet begonnenen Heimreform und der folgenden rechtlichen und institutionellen Modernisierung der Jugendhilfe, dem umfassenden „Aufbruch zwischen 1980 und der Jahrtausendwende. Der Teil III geht der rund 10-jährigen Phase eines „Umbruchs nach, die auf den Regierungswechsel nach der Bürgerschaftswahl im Jahr 2001 folgte. Die neue Politik verfolgte eine Fokussierung auf staatliche Kernaufgaben. Der Landesbetrieb wurde in dieser Phase erheblich verkleinert und inhaltlich neu ausgerichtet. Eine in diesem Zusammenhang wesentliche, politische Entscheidung war die Integration des Kinder- und Jugendnotdienstes in den Landesbetrieb im Jahr 2003.

    Der Teil IV, „Backbone, bewegt sich in der Zeit nach dem „Umbruch, in der die Funktion des LEB als ein struktureller Kern in der Hamburger Jugendhilfe etabliert war und der Betrieb sich in dieser Rolle bewähren musste.

    Die Geschichte des LEB ist eingebettet in gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse. Als staatlicher Träger wurden seine Aufgaben stets vom sozialpolitischen Programm und dem daraus folgenden Regierungshandeln des Senats und der jeweils für die Jugendhilfe zuständigen Behörde bestimmt. Er unterlag öffentlicher Kontrolle durch die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg und der Medien. Dieser Blickwinkel spielt daher in dieser Abhandlung eine bedeutende Rolle. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen haben in der langen Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt und werden insoweit aufgegriffen, stehen jedoch nicht im Vordergrund.

    Ich war über 18 Jahre Geschäftsführer des Landesbetriebes und vorher in leitender Position in der Behörde, welche die Aufsicht über den Betrieb führte. Einen wesentlichen Teil meines Berufslebens habe ich mich mit dem Landesbetrieb befasst und seine Entwicklung mitgestaltet. Mit der vorliegenden Abhandlung möchte ich diese, mich beindruckende „Hamburger Institution" und die sie tragenden Menschen würdigen.

    In den nachfolgenden Kapiteln möchte ich die Geschichte erzählen und mit einem Rückgriff auf Alltagsepisoden und zeitgenössischen Äußerungen auch erzählen lassen. Das Buch soll vor allem für am Thema Interessierte zugänglich sein und dazu inspirieren, die Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte zu reflektieren und besser zu verstehen.

    Klaus-Dieter Müller

    Hamburg, im Februar 2022

    Teil I: Wurzeln

    Kinder der Armut

    Der Hamburger Sommer 1892 war heiß und seine großen Gewässer Alster und Elbe erwärmten sich auf über 20 Grad. In den engen Gassen des Gängeviertels und anderer Arbeiterquartiere ertrugen die Menschen die Sommerhitze nur schwer. Auch stellten sich die im Sommer gehäuften Verdauungsprobleme ein. Die Abwässer landeten in den Fleeten und verbreiteten einen elenden Gestank. Und auch das Hamburger Trinkwasser, das der Elbe entnommen wurde, war durch mitgeführten Schmutz sowie tierische und pflanzliche Organismen trübe und unrein. Der Naturfreund Hartwig Petersen wies in den 1870er Jahren 18 Tierspezies von kleinen Schnecken bis hin zu Fischen und dem Aal im Trinkwasser nach. Es gab in der Stadt aber nichts anderes und so war selbst diese widerliche Brühe in der sommerlichen Hitze die einzige Quelle.{1}

    Am 15. August inspizierte der bei der Stadt angestellte Bauarbeiter Sahling wie üblich die Sieleinläufe und drehte dabei seine Runde über den gesamten Grasbrook. Auf dem Heimweg von der Arbeit fühlte er sich nicht gut und erkrankte wenig später heftig an Durchfall und Erbrechen. Der ihn behandelnde Arzt diagnostizierte die asiatische Cholera. Allerdings gelang ihm nicht der bakteriologische Nachweis, so dass nach dem Tod des Patienten noch am selben Tag als Todesursache „Brechdurchfall" vermerkt wurde.

    Diese Zeit erforderte bei den Ärzten eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ein paar Jahre zuvor hatte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose entdeckt, der damals häufigsten Infektionskrankheit mit tödlichem Ausgang. Und auch der Erreger der Cholera war damals bereits bekannt. Bei Verdachtsfällen waren zum Nachweis des Erregers seine Isolierung vom Kranken und eine anschließende Kultivierung erforderlich. Allerdings hatten sich dieser wissenschaftliche Fortschritt und die darauf beruhenden Maßnahmen zu einer Eindämmung der Infektion noch nicht bei allen Ärzten und vor allem nicht bei verantwortlichen Politikern im deutschen Reich durchgesetzt.

    In den Tagen nach dem Tod des Arbeiters Sahling häuften sich die Fälle mit eindeutigen Symptomen der asiatischen Cholera. Immer mehr Meldungen von Ärzten und Krankenhäusern liefen bei dem Leiter der Hamburger Gesundheitsbehörde ein. Doch dieser reagierte nicht, da er die Erkrankten als Einzelfälle bewertete. Auch nach dem gelungenen bakteriologischen Nachweis war er nicht überzeugt. So erfolgte erst eine Woche nach dem ersten Verdachtsfall die Meldung an die zuständige Reichsbehörde. Und es dauerte weitere zwei Tage, bis der Hamburger Senat sich mit dem Thema befasste. Es verstrich damit wertvolle Zeit, in der Schutzmaßnahmen hätten ergriffen und Verhaltensregeln für die Bevölkerung bekannt gegeben werden können. So verbreitete sich der Erreger aus Abwässern in der hochsommerlich warmen Elbe und erreichte um den 19. oder 20. August den Haupteinlass der Hamburger Trinkwasserversorgung. Der „blaue Tod"{2} wanderte durch die Wasserleitungen in die Trinkbecher der Hamburger. Am 21. August wurden für diesen Tag 113 neue Fälle gemeldet, 17 Erkrankte starben. In den Folgetagen eskalierte die Infektionsrate und erreichte am Monatsende ihren Höhepunkt mit rund eintausend Neuerkrankten pro Tag. Am 24. August traf der von der Reichsregierung entsandte Robert Koch in Hamburg ein und war fassungslos über den Dilettantismus, mit der der Senat und seine für die Gesundheit zuständigen Fachbeamten den Ausbruch der Epidemie bewerteten und darauf reagierten. Erst auf sein Drängen hin wurden Maßnahmen ergriffen. Nach diesen Erlebnissen mit den Verantwortlichen und einer Inspektion des Gängeviertels, die ihn offenbar an seine Erlebnisse während der Cholera-Ausbrüche in Alexandria und Kalkutta erinnerte, äußerte er seine bekannt gewordenen Worte zur Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen der Stadt: „Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin."{3}

    Nach dem öffentlichen Bekanntwerden des Cholera-Ausbruchs in Hamburg brach der Warenverkehr durch Quarantänemaßnahmen zusammen. Schiffe liefen den Hafen nicht mehr an und konnten ihn nicht verlassen. Auch auf dem Landweg gab es Einschränkungen. Die Auswirkungen auf die übrigen Wirtschaftssektoren ließen nicht lange auf sich warten. Die Überlebenden der Epidemie erfasste eine Welle der Arbeitslosigkeit und stürzte sie ins materielle Elend.

    Die Cholera raffte über 8600 Menschen dahin und setzte sich damit an die Spitze der Todesursachen des Jahres 1892, gefolgt von Säuglings- und Kinderkrankheiten, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten. Verstorbene Eltern hinterließen 4867 Kinder, die ganz oder halb verwaist waren und versorgt werden mussten.{4}

    Um Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern leben konnten, kümmerte sich damals das Waisenhauskollegium, das erstmals am 14. November 1600 gebildet wurde und aus drei Senatoren und acht Bürgern bestand.{5} Es hatte damals die Aufgabe, in Hamburg das erste Waisenhaus zu errichten und zu betreiben. Finanziert wurde es aus Spenden von Privatpersonen und der Kirchen. Neben den ehrenamtlichen Vorstehern waren bei der Gründung auch ein angestellter Hausherr mit Ehefrau sowie ein Lehrer für die Betreuung der Kinder vorgesehen. Das Haus war für ehelich geborene Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren vorgesehen, deren Eltern verstorben waren oder nicht mehr für sie sorgen konnten. Aber auch Kinder von Hingerichteten oder Findelkinder fanden hier eine Aufnahme. Für unter 4jährige wurden Pflegefamilien gesucht und für die Erziehung und Pflege vom Waisenhauskollegium vergütet. Im ersten Jahr wurden 79 Kinder aufgenommen, von denen aber einige entliefen oder dem Armen- und Zuchthaus überstellt wurden.

    In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) und in seiner Folge stieg der Bedarf an Unterstützung für Arme und ihre Kinder sowie für Findelkinder und Waisen. Die zu Anfang des 16. Jahrhunderts organisierte Armenfürsorge in der Zuständigkeit der Kirchen war dem jedoch nicht mehr gewachsen. Die Zahl der durch das Waisenhaus zu versorgenden Kinder stieg an, ohne dass eine ausreichende Finanzierung durch die Kirchen erfolgte. 1682 kam es daher zu einer Neuordnung des Zusammenwirkens zwischen dem Waisenhaus und der kirchlichen Armenfürsorge, indem das Waisenhaus die innerhalb der Ringmauern der Stadt aufgefundenen Kinder aufzunehmen hatte und dafür von jedem Kirchspiel einen jährlichen Beitrag in Höhe von 300 Talern erhielt.

    Zu jener Zeit war die Fürsorge für Kinder auch mit dem Problem zunehmender Kindstötungen nach der Geburt konfrontiert. Um diesem Problem zu begegnen wurde beim Waisenhaus ein Drehkasten („Torno) installiert, in den Kinder abgelegt werden konnten. Diese „Babyklappe, wie sie heute genannt wird, führte zu einer weiteren Erhöhung der zu versorgenden Kinder. Im Jahr 1713 waren von 1173 Waisenhauskindern 473 so genannte „Tornokinder".{6} Der zweimalige, großzügige Zuschuss des wohlhabenden Bürgers Jobst von Overbeck für dieses Projekt reichte dennoch nicht, um die Geldnöte des Waisenhauses dauerhaft zu lösen, so dass das Waisenhaus 1778 erstmals einen regelmäßigen staatlichen Zuschuss erhielt.

    Im Zuge der Diskussion über einen Neubau des Waisenhauses, das zu eng und baufällig geworden war, wurde erörtert, ob die Erziehung überhaupt in einer Anstalt erfolgen sollte oder nicht besser gegen ein Kostgeld in Familien. Da man aber befürchtete, dass der jeweils bestehende Bedarf an Betreuungsplätzen nicht durch Familienpflege befriedigt werden könnte, wurde das Mischsystem beibehalten und das neue Waisenhaus in der Admiralitätsstraße errichtet.

    Als wegweisendes Vorhaben der Stadt galt 1788 die Reform des Armenwesens. Die Bürgerschaft genehmigte die Errichtung einer Armenanstalt. Zur Reform gehörte auch die Schaffung von Pflegebezirken, in denen arme Bewohner von ehrenamtlich tätigen Bürgern betreut wurden. Vor allem Schwangere, Mütter und Kinder profitierten von der Reform durch medizinische Versorgung und Bildung. Die französische Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte zu einem wirtschaftlichen Niedergang und zur Erhöhung der Armut. Die Armenanstalt versorgte 1809 17% der Einwohnerschaft und benötigte hierfür einen Zuschuss der Stadt zur Deckung des Defizits in Höhe von 190 Tausend Talern. Dies überforderte die Finanzen der Stadt. Die Armeneinrichtungen wurden daraufhin geschlossen.{7}

    Der große Brand im Jahr 1842 vernichtete weite Teile der Stadt. Dem Feuer fiel auch das Rathaus zum Opfer. Für die Fortführung der Amtsgeschäfte wurde als Provisorium das Gebäude des Waisenhauses in der Admiralitätsstraße auserkoren. Die Kinder brachte man vorübergehend an einem anderen Ort unter. Für den Neubau des Waisenhauses wurde ein Grundstück im Stadtteil Uhlenhorst bestimmt. Zwischen dem Hofweg und dem Winterhuder Weg wurde zwischen 1856 und 1858 das neue, große und repräsentative Gebäude mit Parkanlage errichtet. Es umfasste neben einem Mädchen- und einem Jungenflügel die Verwaltung und die Wohnung des Direktors. Auch bei diesem Neubau wurde erörtert, ob man die Verbindung zwischen „Anstalts- und Familienpflege" beibehalten sollte. Und auch dieses Mal änderte man die Praxis nicht.{8}

    In der Folge der Reform der Hamburgischen Verfassung von 1860 wurde im Jahr 1863 auch die Verwaltung neu geordnet. Die Waisenhausverwaltung unterstand von dieser Zeit an einer staatlichen Deputation, einem Ausschuss von ehrenamtlich tätigen Bürgern unter dem Vorsitz eines Senators. Ihr oblag die Verwaltungsarbeit für jeweils einen von insgesamt bis zu 34 Verwaltungszweigen. Für diese Tätigkeit wurde ihr ein Budget von der Hamburgischen Bürgerschaft zugewiesen, um die notwendigen Ausgaben tätigen zu können. Für einen modernen Staat war diese, aus der ferneren Vergangenheit stammende Form der öffentlichen Verwaltung wenig geeignet, die Anforderungen eines sich rasch entwickelnden Wirtschafts- und Gesellschaftslebens zu erfüllen. Auch wenn die Zahl der Deputationen und damit auch das immer wieder beklagte Kompetenzwirrwarr mit der Verfassungsreform von 1860 eingegrenzt wurde, blieb die Arbeit, die sich nicht auf qualifizierte, höhere Beamte stützte, eine Laienveranstaltung. Der schwerfällige, „amateurhafte"{9} Regierungsapparat drohte daher immer wieder zusammenzubrechen, und war weder der Vorbeugung noch der Bewältigung einer Katastrophe wie dem Ausbruch der Cholera von 1892 gewachsen.

    Im Juli 1892 wurden das „Gesetz über die öffentliche Waisenpflege im hamburgischen Staate und parallel dazu ein Gesetz über das Armenwesen erlassen, die erst nach dem Höhepunkt der Cholera in Kraft traten. Mit den Gesetzen wurden zwar organisatorische Regeln für die Versorgung von armen Menschen und schutzlosen Minderjährigen getroffen, die aber noch nicht umgesetzt waren. Auch vergrößerte sich der Personenkreis für die öffentliche Jugendfürsorge erheblich, da nun auch die armenrechtlich hilfebedürftigen Kinder der Verantwortung des Waisenhauskollegiums unterstellt wurden. Ihnen sollte Hilfe vor allem in der Familienpflege, aber auch in einem Heim zuteilwerden. Zum Jahresbeginn 1892 befanden sich im Waisenhaus 435 Kinder und 34 in der Familienpflege. Allein während der Cholera-Epidemie sind 492 Kinder in das Waisenhaus verlegt worden. Letztendlich befanden sich Ende Dezember 1892 „3464 Kinder in der öffentlichen Waisenpflege, in der Anstalt 556, in Familienpflege 2857, in Heilanstalten 58{10}. Der Erfolg, eine solch hohe, in kurzer Zeit angewachsene Zahl an Kindern zu versorgen, war dem „durch die Cholera allgemein erweckten Mitleid{11} zu verdanken: zahlreiche Familien meldeten sich als Pflegestellen an. In der ganzen Stadt bildeten sich Notstandskomitees, vorwiegend aus dem Bürgertum, die Hilfe leisteten. Aber auch Geldspenden gingen aus Deutschland und der ganzen Welt ein. „Allein Kaiser Wilhelm II stiftete 50 Tausend Mark für die Versorgung der Waisen{12}, die in einen Fonds von fast 140 Tausend Mark einflossen, den das Waisenhaus verwaltete.{13}

    Die Krise durch die tödliche Epidemie war bald überwunden, doch war eine Rückkehr zu den gewohnten Bahnen der Politik und Verwaltung nicht mehr möglich. Zu heftig war die Kritik an dem Regierungssystem, das als überkommen, unfähig und damit ungeeignet für eine Großstadt am Ende des 19. Jahrhundert befunden wurde. Die Herrschenden taten sich aber schwer mit Veränderungen. So gelang zwar keine Änderung des Wahlrechts mit einer wesentlichen Verbreiterung der Wählerschaft, aber zumindest wurde der Widerstand gegen die Professionalisierung der Verwaltung aufgegeben, und das Berufsbeamtentum nach preußischem Vorbild eingeführt. Diese und weitere Veränderungen führten dazu, dass das Ende der „alten Amateur-Regierung eingeläutet wurde. „Und schon nach eineinhalb Jahrzehnten war die politische Szene der Stadt nicht mehr wieder zu erkennen{14}. Das dramatische Ereignis der Cholera bildete eine Zäsur, die sich auch auf die Entwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge auswirkte.

    Der Staat greift ein

    Johannes Petersen war vermutlich von Pathos erfüllt, als er 1911 das Vorwort zu seiner Abhandlung über die öffentliche Jugendfürsorge verfasste. Er blickte auf die letzten zwei Jahrzehnte zurück, in denen sich der Staat hilfsbedürftigen Kindern und Jugendlichen zuwendete und seine Verwaltung entsprechend organisierte: „Die Organisation soll im wesentlichen dafür sorgen, daß der Jugendliche überhaupt persönlicher Hilfe teilhaftig wird, daß jeder Jugendliche, der dieser Hilfe bedarf, sie in geeigneter Form findet."{15} Dabei merkte er an, dass den in der Jugendfürsorge Tätigen bewusst sei, dass die Arbeit „von Mensch zu Mensch" für den Erfolg der Erziehung entscheidend ist. Was war geschehen, dass der erste Direktor der Jugendbehörde in Hamburg diese Worte niederschreiben konnte?

    Ab 1892 nahmen die Aktivitäten zur Entwicklung einer einheitlichen Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben gegenüber jungen Menschen zu. Die gesetzlichen Regelungen aus diesem Jahr hatten die Verantwortung für armenrechtlich hilfsbedürftige Kinder vom Werk- und Armenhaus auf das Waisenhauskollegium übertragen. Im Waisenhaus wurde „eine Aufnahmestation eingerichtet zwecks ärztlicher Untersuchung und Einkleidung der Kinder, eine Säuglingsstation und eine Warteschule (für Kinder bis zu sechs Jahren), die bisher gefehlt hatten."{16} Außerdem wurde die Überwachung der Pflegestellen organisiert, da keineswegs gesichert war, dass es den „Privatkostkindern" in den Familien den Erwartungen gemäß gut erging.

    Obwohl mit den Reformen nach der französischen Besatzungszeit Sträflinge von den Armen im Werk- und Armenhaus getrennt wurden, unterstand es dennoch insgesamt der Gefängnisverwaltung. Erst durch Gesetz vom 5. April 1893 ist die Verwaltung des Werk- und Armenhauses in die Zuständigkeit des Armenkollegiums übergegangen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in diesen Anstalten Kinder und Jugendliche nicht von Erwachsenen getrennt. 1828 wurde die „Strafklasse des Werk- und Armenhauses für verwahrloste Jugendliche gegründet. In dem mittlerweile vom Armenhaus getrennten Zuchthaus bestand für straffällig gewordenen Kinder eine „Strafklasse des Zuchthauses. Nach einer Diskussion zur Beibehaltung dieser Institution entschied das Gefängniskollegium, die Strafklasse weiterzuführen, allerdings nicht im Zuchthaus, sondern im Werk- und Armenhaus. Die Erwägungen hierzu waren für die damalige Zeit recht modern. Man hatte erkannt, dass man straffällig gewordene Jugendliche nicht zusammen mit Erwachsenen im Zuchthaus einsperren könne, „dass die verwilderte Jugend nicht bestraft, sondern erzogen werden müsse."{17} Neben der Unterbringung in der Strafklasse sollten Kinder auch dem von dem Theologen und Lehrer Johann Hinrich Wichern 1833 gegründeten „Rauhen Haus zur Erziehung zugeführt werden. Inspiriert von seinen Einblicken in die Lebensverhältnisse armer und sozial gefährdeter Familien hatte er die Idee einer „Rettungsanstalt für Kinder entwickelt, die von Verwahrlosung bedroht waren.

    Die Strafklasse im Werk- und Armenhaus wurde im Oktober 1883 abgeschafft. Ihre Aufgabe übernahm die in Ohlsdorf neu errichtete Erziehungs- und Besserungsanstalt für schulpflichtige Jungen und Mädchen, die 1887 der neu eingerichteten Behörde für Zwangserziehung unterstellt wurde. Die nicht mehr schulpflichtigen Minderjährigen verblieben im Armenhaus, das noch bis 1893 der Gefängnisdeputation unterstand, bevor es in die Verwaltung des Armenkollegiums überging. Erst 1911 wurde eine Einrichtung für gefährdete, schulentlassene Mädchen errichtet: das Heim in der Feuerbergstraße.

    In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es kein staatlich organisiertes, allgemeines Schulwesen und keine Schulpflicht. Die Armenanstalten organisierten in Hamburg für ihre Klientel eine Beschulung. Dort zeigte sich eine „grobe Zuchtlosigkeit einzelner Schüler, die wegen Störung des Unterrichts entlassen wurden."{18} Da die Beschulung aber zum Kern der Arbeit der Armenanstalten gehörte, wurde 1833 die Strafschule gegründet. Dort wurden die Kinder „nicht nur während der Schulzeit, sondern ganz, Tag und Nacht, (…) aufgenommen.{19} Mit der Einführung des Volksschulwesens ab 1871 unterstellte man die Strafschule der Oberschulbehörde und schuf damit ein Instrument, um auf das Schulschwänzen zu reagieren. Die Kontrollausschüsse der Volksschulen veranlassten bei Bedarf die Überweisung eines Kindes in die Strafschule für bis zu 8 Wochen. Diese Einrichtung wurde aber 1905 wieder aufgegeben. Die Rechtsgrundlage für die Einweisung war mittlerweile zweifelhaft und die Praxis als nicht mehr zeitgemäß kritisiert geworden. Ein weiterer Grund war die bevorstehende Neuordnung der gesetzlichen Grundlage für die sogenannte „Zwangserziehung in Hamburg.

    Die rasante wirtschaftliche Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert ließ den Bedarf an Arbeitern steigen und die Zahl der Bewohner in den Städten schnell wachsen. In Hamburg stieg die Zahl der Einwohner von 1821 mit knapp unter 200 Tausend bis zum Jahr 1900 auf rund eine Million an, wobei damit auch eine Ausweitung der Wohngebiete von der engen Innenstadt auf die äußere Stadt und die damaligen Vororte verbunden war. Der Wohnungsbau konnte mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten und so drängten sich die Menschen in den Wohnungen und eng bebauten Stadteilen, die bisweilen als überbevölkert galten. Dies waren vor allem die Quartiere in der Nähe des Hafens, denn er bot vielen Facharbeitern und Tagelöhner Arbeit. 1892 waren 38% der werktätigen Bevölkerung im Sektor Handel und Verkehr beschäftigt und damit im Bereich des Hafens und der Flussschiffahrt.{20}

    In diesem Prozess der Stadtentwicklung vollzog sich auch eine Trennung von Arm und Reich: wer es sich leisten konnte, und das hieß: wer der Mittel- oder Oberschicht angehörte, wohnte nicht im Gängeviertel, auf St. Pauli oder in St. Georg, sondern in den äußeren Stadtteilen wie Rotherbaum, Harvestehude oder Hohenfelde.{21}

    Das Jahr 1892 hatte erneut gezeigt, wie schlecht die Lebensbedingungen für Arbeiterfamilien in der Stadt waren und wie schnell die Existenzgrundlage einer Familie durch Krankheit und vor allem Arbeitslosigkeit kollabieren konnte. In den Haushalten der Arbeiterfamilien lebten neben den Eltern und ihren fünf und mehr Kindern oft auch weitere Familienangehörige. Die Mieten verschlangen nicht selten 25 bis über 30 Prozent des Familieneinkommens, zu dem die Frauen und Kinder durch Arbeit betrugen, und das dann doch nur zu einer Existenz am Rande der Armut reichte: Hauptnahrungsmittel war Brot, Kleider wurden immer wieder geflickt und alle Kinder teilten sich ein Bett. Mindestens in einem Drittel der ohnehin engen Behausungen wurde auch noch ein „Schlafbursche", ein lediger, junger Arbeiter, aufgenommen, um über die Runden zu kommen:

    „Ein Beispiel für eine solche Familie liefert Ernst Neddermeyer, der für 18 Mark Wochenlohn in einer Gerberei und im Sommer auf dem Lastkahn seines Arbeitgebers als Matrose arbeitete. Er bewohnte Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre in Hamburg eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, die im Monat 24 Mark kostete, 30% seines Einkommens. In dieser spartanischen Unterkunft ohne Strom, Gas oder ordentliche Toilette hausten nicht nur Neddermeyer mit seiner Frau, sondern auch fünf Kinder sowie ein Untermieter, der mit 2,50 Mark je Woche zum Familieneinkommen beitrug. Die fünf Kinder schliefen zusammen in einem Bett (…). Vier der Kinder waren chronisch krank (…)."{22}

    In diese Verhältnisse gelang es Eltern nicht immer, ihrer Fürsorge- und Erziehungspflicht hinreichend zu genügen. Die staatlichen Stellen in Hamburg, die für die junge Generation und ihre Integration in die Gesellschaft verantwortlich waren, konnten den Blick nicht abwenden von vernachlässigten Kindern und auch nicht von schulentlassenen Minderjährigen, die ohne Unterstützung in der Gesellschaft nicht Fuß fassen würden. Sie widmeten sich ab 1892 verstärkt „der Bekämpfung der Verwahrlosung"{23} Minderjähriger, insbesondere auch durch Eingriffe in die Familien durch die sogenannte „Zwangserziehung. Diese war eine von der Vormundschaftsbehörde angeordnete, staatliche Erziehung in einer Anstalt oder in einer Pflegefamilie. Bereits 1883 ersuchte die Bürgerschaft den Senat, eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff zu schaffen, wie sie seit 1878 in Preußen bereits bestand. Das erste hamburgische Gesetz zur Zwangserziehung trat 1887 in Kraft. Mit ihm war die Gründung einer besonderen Behörde verbunden, der vormundschaftliche Befugnisse über die ihr zugewiesenen „Zöglinge übertragen wurden. Das damals Besondere war, dass in die Zielgruppe nicht nur straffällig gewordene Minderjährige, sondern alle Kinder und Jugendlichen einbezogen wurden, die nach den damaligen Vorstellungen von „Verwahrlosung bedroht waren, also auch schulentlassene, ältere Jugendliche. Mit dem Gesetz setzte man zwar vorrangig auf Familienpflege als dem Mittel der Wahl zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen, hielt aber auch mit der 1883 gegründeten „Erziehungs- und Besserungsanstalt in Ohlsdorf die „Anstaltspflege" als Möglichkeit vor.

    Das Gesetz zur Zwangserziehung nahm auch die über 16 Jahre alten, schulentlassenen Jugendlichen{24} in den Fokus. Damit war der Personenkreis größer gezogen als in Preußen, dessen Zwangserziehungsgesetz von 1878 als Vorbild gedient hatte. Dies hatte zur Folge, dass eine zunehmende Zahl an jungen Menschen in die Zwangserziehung zu nehmen war, so dass bereits 1892 die „Errichtung eines Mädchenhauses{25} beschlossen wurde. Zu diesem gestiegenen Bedarf in der „Anstaltspflege trug allerdings auch bei, dass „das Alter und die sittliche Beschaffenheit"{26} eine Unterbringung in der Familienpflege ausschlossen.

    In den Folgejahren wurden die Mängel des Gesetzes offenbar. Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1900 mussten einzelne Regelungen des Hamburgischen Zwangserziehungsgesetzes an das neue Reichsrecht, das neue familienrechtliche und vormundschaftsrechtliche Regelungen enthielt, angepasst werden. Eine Überprüfung des Zwangserziehungswesens durch einen Ausschuss der Bürgerschaft kam zu dem Ergebnis, dass die Zuständigkeit für gefährdete Minderjährige zwischen dem Armenhaus, dem Waisenhauskollegium und der Zwangserziehungsbehörde in nicht nachvollziehbarer Weise verteilt war. Künftig sollte es eine Bündelung bei einer in pädagogischen Fragen kompetenten Behörde geben. In diesem Zuge sollte auch den „guten Kindern schlechter Eltern" durch die Zwangserziehung geholfen werden können. Von Bedeutung war hier der § 1666 BGB, der das Vormundschaftsgericht zum Handeln zwang:

    „Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird."{27}

    Mit dem „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige vom 11. September 1907 wurden alle Aufgaben und Befugnisse im Bereich des Schutzes von Minderjährigen beim Waisenhauskollegium zusammengefasst. Die Behörde für die Zwangserziehung wurde aufgelöst und die Erziehungs- und Besserungsanstalt Ohlsdorf dem Waisenhauskollegium unterstellt. Mit dem parallel novellierten „Gesetz über die Zwangserziehung Minderjähriger wurden die Voraussetzungen und das Verfahren für die Überweisung von Minderjährigen in die „Zwangserziehung geregelt. Bei einer weiteren Novelle im Jahr 1910 löste die neu bezeichnete „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge das Waisenhauskollegium ab. Das erste Jugendamt, das sich dem Schutz Minderjähriger widmete und gesetzlich geregelte Eingriffsrechte besaß, war entstanden.

    Johannes Petersen, der erste Beamte an der Spitze dieser Behörde, hatte allen Grund, auf diese Entwicklung stolz zu sein. Im Vorwort seiner bereits erwähnten Abhandlung über die „Hamburgische Öffentliche Jugendfürsorge" schrieb er:

    „Die Vereinigung der gesamten öffentlichen, d.h. derjenigen Jugendfürsorge, die auf gesetzlichen Vorschriften beruht und mit öffentlichen Mitteln und auf öffentliche Kosten durchgeführt wird, bei einer Behörde ist in Hamburg in besonderem Maße verwirklicht. Zugleich ist der Kreis der Jugendlichen, der dieser öffentlichen Fürsorge teilhaftig wird, hier verhältnismäßig größer, als irgendwo sonst im Deutschen Reich."{28}

    Petersen reagierte mit seiner Abhandlung auf die zahlreichen Bitten um Auskunft zu den Neuerungen in Hamburg auf dem Gebiet der „Öffentlichen Jugendfürsorge". Wer hätte nach dem schlechten Zeugnis über die Hamburgische Verwaltung im Cholera-Jahr gedacht, dass Hamburg einst als Vorbild dastehen würde?

    An diesem Erfolg hatte der 1862 in Steinbeck bei Hamburg geborene Petersen engagiert gearbeitet. Er studierte Naturwissenschaften und Philosophie und wurde 1884 zum Dr. phil. promoviert. 1887 trat er als Gymnasiallehrer in den Hamburgischen Staatsdienst ein. Ab 1893 engagierte er sich als Pfleger und Bezirksvorsteher im VIII. Hamburger Armenkreis und war im Jahr 1900 gut vorbereitet für das Amt des Direktors des Waisenhauses, auf das er sich erfolgreich beworben hatte. Schwerpunkte seiner Arbeit waren der Ausbau der Säuglingspflege, Erziehungsfragen und die Einführung der Berufsvormundschaft als einem wichtigen Teil im System der öffentlichen Jugendfürsorge. Nur wenige Jahre nach seiner Ernennung zum Direktor der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge starb er im Oktober 1913.{29}

    Er hinterließ seinem Nachfolger, Alexander Heskel, eine für damalige Verhältnisse gut aufgebaute Behörde mit den wesentlichen Instrumentarien zur Erfüllung der Aufgaben in der „öffentlichen Jugendfürsorge". Der 1864 geborene Heskel studierte klassische Sprachen und Germanistik und schloss sein Studium mit der Promotion ab. Von 1896 bis 1906 arbeitete er als Oberlehrer an einer Hamburger Realschule, danach als Inspektor des höheren Schulwesens, bevor er 1914 Petersens Nachfolge antrat und das Amt als Direktor der Jugendbehörde bis 1923 ausübte.{30}

    img3.png

    Zu den Aufgaben der Behörde gehörten die Fürsorge und ggf. Erziehung von Minderjährigen,

    die aus dem Armenwesen in die „öffentliche Waisenpflege" überwiesen werden.

    deren Erziehung durch die Eltern nicht gesichert ist und die Verwahrlosung durch den Staat im Rahmen der „Zwangserziehung" abgewendet werden muss (§§ 1666 und 1638 BGB).

    die Straftaten begangen haben und wegen fehlender jugendlicher Einsicht in die Tat nicht verurteilt werden oder wegen ihres Alters strafunmündig sind, aber einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt überwiesen werden (§56 Reichstrafgesetzbuch).

    die sich einer Übertretung gem. § 361 Nrn. 3 bis 8 Reichsstrafgesetzbuch schuldig gemacht haben. Dazu gehörten Landstreicherei, Arbeitsscheu bei Bezug öffentlicher Fürsorge, „gewerbsmäßige Unzucht" bzw. Prostitution, Bettelei und Wohnungslosigkeit.

    für die der gesetzliche Vertreter die öffentliche Erziehung beantragt hat.

    die von der Polizei in Verwahrung genommen wurden.

    Der Aufgabenkatalog zeigt deutlich die Wurzeln der heutigen Jugendhilfe. Die Anlässe für Eingriffe der staatlichen Jugendbehörde sind Vernachlässigung, Misshandlung und sonstige Gefährdung des Kindeswohls, wobei dieser Begriff noch nicht entwickelt war. Und auch der Delinquenz junger Menschen sollte grundsätzlich in einem jugendgemäßen Sinn mit erzieherischen Maßnahmen begegnet werden. Ein eigenes Jugendstrafrecht gab es noch nicht, wohl aber das Instrument der Vermeidung von Haft.

    Die Behörde hatte darüber hinaus die Aufgabe, die öffentliche Erziehung durchzuführen. Hierzu konnte sie sich dreier Einrichtungen, die damals noch als „Anstalten bezeichnet wurden, bedienen. In geeigneten Fällen sollte aber dem traditionellen Instrument der Pflegefamilie und der Lehr- oder Dienststelle der Vorrang eingeräumt werden. Letztere waren vor allem für ältere, schulentlassene junge Menschen vorgesehen, um sie in eine berufliche Tätigkeit mit Wohnmöglichkeit zu überführen. Die Behörde hatte über diese Lebensorte der Minderjährigen die Aufsicht zu führen, um das Wohlergehen der Minderjährigen in den Familien und bei Lehrherren und Arbeitgebern zu überwachen. Es war eine Erfahrung, dass diese Stellen gerne das „Kostgeld nahmen, die „Privatkostkinder dann aber vernachlässigten oder ausbeuteten. Die Behörde hatte bereits in der Vergangenheit ein Netz ehrenamtlicher Waisenkreise und -bezirke über das Stadtgebiet geworfen. Sogenannte „Vertrauensmänner{31} prüften die Pflegstellen vor und während der Aufnahme von Kindern. Die heutige, jugendamtliche Aufgabe des „Pflegekinderwesens" mit der Überprüfung der Eignung von Pflegestellen und der Überwachung des Wohlergehens der Kinder, war damit in jener Zeit bereits ausgeprägt.

    Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches waren auch familienrechtliche Bestimmungen in Kraft getreten, die das Sorgerecht und die Unterhaltspflicht des Kindesvaters regelten und auch den Fall, dass dieser das Sorgerecht und die Sorgepflicht nicht oder nicht angemessen ausübte oder als Sorgerechtsinhaber ausfiel. In diesen Fällen war das Sorgerecht an einen Vormund zu übertragen. Der Behörde oblag die Ausübung der Vormundschaft über die Mündel, die nicht in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt lebten, über Mündel in der sogenannten „vollständigen Fürsorge" in Anstalten oder bei Pflegefamilien und über uneheliche Kinder, die nicht in Anstalten lebten. Damit war die vom Staat wahrgenommene Berufsvormundschaft neben der Vormundschaft durch Privatpersonen institutionalisiert worden.

    Der neuen Behörde wurden auch die Aufgaben des Gemeindewaisenrats gemäß § 1850 BGB zugewiesen. Danach hatte der Gemeindewaisenrat „in Unterstützung des Vormundschaftsgerichts darüber zu wachen, daß die Vormünder der sich in seinem Bezirk aufhaltenden Mündel für die Person der Mündel, insbesondere für ihre Erziehung und ihre körperliche Pflege, pflichtmäßig Sorge tragen. Er hat dem Vormundschaftsgerichte Mängel und Pflichtwidrigkeiten, die er in dieser Hinsicht wahrnimmt, anzuzeigen und auf Erfordern über das persönliche Ergehen und das Verhalten eines Mündels Auskunft zu ertheilen."{32} Zu den Aufgaben des Gemeindewaisenrates gehörte gem. § 1675 BGB, dem Vormundschaftsgericht von allen Fällen drohender und eingetretener Verwahrlosung, die Entziehung der elterlichen Rechte oder Zwangserziehung zur Folge haben können, Mitteilung zu machen."{33} Diese Aufgaben sind bis heute im Kern solche eines Jugendamtes.

    img3.png

    Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Einrichtungen der „vollständigen Fürsorge, also die Erziehungsanstalten neben der Familienpflege. Hierzu gehörten das Waisenhaus in der Averhoffstraße, die Erziehungsanstalt für Knaben in Ohlsdorf und die 1911 in Betrieb genommene Erziehungsanstalt für Mädchen in Alsterdorf, die als die „Feuerbergstraße bis heute ein bedeutsamer Ort der Hamburgischen Jugendhilfe ist.

    Die Einrichtungen, die zum Teil mehrere hundert Menschen beherbergten, wurden als „Anstalt bezeichnet. Eine derart große Einrichtung bedurfte einer straffen Ordnung sowohl im Aufbau als auch in den täglichen Abläufen, die die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen nach fabrikmäßigen Maßstäben organisierten. Die Einrichtungen hatten spezialisierte Aufgaben und bildeten als Gesamtheit den Apparat der „vollständigen Fürsorge, der für jedes Kind, jeden „Zögling, einen Ort und eine Behandlung bereithielt. Die Leitungen der Häuser waren „Direktor oder „Oberin", was eine Nähe zu einer Fabrik einerseits und andererseits zu einer klösterlichen Organisation ausdrückt. Das Personal für die Verwaltung, Erziehung, Gesundheitspflege und den Betrieb hatte überwiegend ihre Wohnstatt in der Anstalt. Im Waisenhaus gab es beispielsweise neben Erziehungs- und Lehrpersonal auch Schreiber und Ökonomiegehilfen, Tischler, Schneider, Schumacher, Heizer und Mechaniker, sowie Ärzte, die die Anstalt regelmäßig aufsuchten. Sie arbeiteten in anstaltsinternen Küchen, Waschküchen und Nähstuben, in Krankenabteilungen, Klassenräumen und Gärten für den Gemüseanbau, in Heizanlagen sowie Werkstätten für den Reparaturbetrieb. Sie waren aber auch in der Unterweisung der jungen Menschen zur Vorbereitung auf einen Beruf und das Arbeitsleben tätig. Im Waisenhaus mit seiner Säuglingsstation befanden sich sogar ein Operationszimmer, ein Sektionsraum und eine Leichenkammer. Für den Gottesdienst und die Seelsorge kam ein Geistlicher in die Anstalt.

    Zwischen den Anstalten bestand auch eine wirtschaftliche Arbeitsteilung. So wurde ein Großteil der Wäsche zentral in der Mädchenanstalt gewaschen, der landwirtschaftliche Betrieb der Knabenanstalt belieferte die Mädchenanstalt mit Milch.

    Auch die Vermögensverwaltung der „Zöglinge war innerhalb des Systems geregelt. Mitgebrachtes und in der Zeit der Unterbringung erspartes Geld wurde von der „Sparkasse des Hamburgischen Waisenhauses verwaltet. Hatten früher junge Menschen in Arbeits- und Dienststellen ihr Geld noch bei einer Ortssparkasse eingezahlt und verfügten damit selbst über ihre Ersparnisse, so hatten sie seit Einführung der Sparkasse des Waisenhauses diese zu nutzen. Damit war der Zugang zum Geld und dessen Verwendung kontrollierbar.{34} Die Anstalten waren also in einem erheblichen Umfang autarke und von der Umwelt abgeschlossene Orte.

    Die Kinder und Jugendlichen durften die Anstalt auch nicht ohne Erlaubnis verlassen und Besuch nur kontrolliert empfangen. Gelegentlich, zu besonderen Anlässen, wurden vom Personal begleitete Ausflüge unternommen. Dass hier den jungen Menschen die Freiheit genommen wurde, wird in den zeitgenössischen Darstellungen nicht explizit erwähnt, weil dies als selbstverständlich und rechtens galt. Auch der Einsatz von Erziehungsmitteln, die in ihrer sanktionierenden Form auch als „Zuchtmittel" bezeichnet wurden, war ebenso selbstverständlich und rechtlich legitimiert{35}.

    „Die Tageseintheilung ist naturgemäß streng geregelt, berichtet Petersen über das Waisenhaus, um aber gleich nachzuschieben: „doch so, daß den Kindern möglichst viel freie Zeit zur Erholung und freien Bewegung verbleibt.{36} Geweckt wurde um 5:30 Uhr im Sommer und 6:00 Uhr im Winter. Dann begann ein Tag damit, Schlafsaal und Wohnzimmer in Ordnung zu bringen und danach das erste Frühstück einzunehmen. Um 8 Uhr versammelten sich alle zu einer gemeinsamen Andacht unter der Leitung des Direktors. Dann ging es in den Schulunterricht, der - durch eine Frühstückspause um 10 Uhr unterbrochen - bis zum Mittagessen um 12 Uhr erteilt wurde. Danach war Freizeit bis um 2 Uhr. Ab 1 Uhr konnten Kinder für eine Dreiviertelstunde Besuche empfangen, allerdings unter Aufsicht eines Beamten, „namentlich um etwaigem schlechten Einfluss übel beleumdeter Angehöriger entgegenzutreten{37}. Ab 2 Uhr war je nach Alter Spiel, Beschäftigung für häusliche Zwecke, Hausfertigkeitsunterricht oder Gartenarbeit angesetzt. Zwischen 4 und 5 Uhr am Nachmittag gab es eine Pause mit Milch und Brot und freier Zeit. Von 5 bis 7 folgte wieder eine geregelte Tätigkeit in den Arbeitsstuben und Werkstätten oder im Garten sowie eine Stunde für Schulaufgaben. Kleine Kinder durften während der Arbeitsphasen der älteren bis zum Abendbrot um 7 Uhr spielen und basteln. „Nach 7 Uhr freie Bewegung, wobei Petersen stolz ergänzt: „Eine Anzahl Knaben treibt in den Freistunden Musik und unterhält ein Musikkorps von 11 Bläsern, 6 Geigern und mehreren Trommlern und Pfeifern."{38} Nach der vergnüglichen Freizeit ging es dann nach einer kurzen Abendandacht je nach Alter zwischen 6 und 8:30 Uhr ins Bett.

    Petersen beschreibt das Konzept hinter diesem Tagesplan, mit dem er der „großen Gefahr jeder Anstaltserziehung, welche in der Gleichförmigkeit des Lebens besteht, begegnen möchte. Es geht ihm um eine gewisse Vielfältigkeit, auch innerhalb der Arbeits- und Unterrichtsphasen, indem sich für die Mädchen zum Beispiel „Kartoffelschälen mit Stopfen, Anfertigung der Schularbeiten und Nähen usw. abwechselt. Der Stundenplan sieht so recht bunt aus, kein Tag gleicht dem anderen in bezug auf die Reihenfolge der Beschäftigungsarten, so weit es irgend möglich ist.{39}

    Ob die Kinder und Jugendlichen dies so erlebten, muss offenbleiben. Das Leben in der Anstalt war in jeder Beziehung streng durchorganisiert. „Die Kleidung der Kinder ist uniform, überwiegend in blau, wobei im Sommer und Winter jeweils andere Uniformen zu tragen waren. „Jeden zweiten Sonntag ist Ausgehtag, jedoch, schränkt Petersen ein, „nur für die Kinder, welche von Angehörigen eingeladen sind. An ganz wenigen Festtagen dürfen dann auch jene zu Angehörigen oder Freunden gehen, die nicht eingeladen wurden. Und es war ratsam, pünktlich in die Anstalt zurückzukommen, denn nach den einschlägigen Gesetzen war die zuständige Polizeibehörde verpflichtet, einen Minderjährigen der sich der Aufsicht entzogen hat, wieder zuzuführen. Und im Übrigen hatte das Personal die „Befugnis zur Anwendung angemessener Zuchtmittel{40}.

    Angesichts der Verhältnisse, aus denen viele der Kinder stammten, war die materielle Fürsorge sicherlich ein Gewinn. Die Kinder genossen ärztliche Behandlung, wurden eingekleidet und gut ernährt. Der von Petersen beispielhaft veröffentliche Speiseplan des Waisenhauses weist jeden zweiten Tag Fleisch zum Mittagessen und über den Tag verteilt mehrere kleine Mahlzeiten mit Milch aus.

    In diesen Grundstrukturen arbeiteten alle Anstalten unter der Leitung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Wer in ihre Obhut überwiesen wurde, durchlief ein Aufnahmeverfahren, erhielt einen Platz in einer der Anstalten und sollte am Ende eines langjährigen Prozesses im besten Fall als junger Erwachsener einen Beruf erlernt, aber zumindest eine Arbeit gefunden haben.

    Im Verwaltungsgebäude der Behörde, das erst 1908 fertiggestellt wurde, begann dieser Weg in der Aufnahmestation. „Dort erfolgt die Prüfung des Überweisungsbeschlusses und die genaue Feststellung der Personalien der Aufgenommenen", berichtet Petersen.{41} Sie wurden „sogleich nach der Einlieferung (…) gebadet und in Anstaltstracht gekleidet.{42} Jene, „mit Ungeziefer behaftete oder auf ansteckende Krankheiten Verdächtige{43}, wies man gleich in die Isolierabteilung ein. Alle wurden ärztlich untersucht und dann, soweit sie für gesund befunden wurden, in die nach Mädchen und Jungen sowie Alter getrennte Beobachtungsstation verlegt. Die Erkrankten kamen in öffentliche Krankenhäuser. Infektionskrankheiten waren seinerzeit ein großes Problem, so dass es sogar einen besonderen Trakt gab, in dem ganze Gruppen Infizierter aufgenommen werden konnten. Insgesamt spielte die Gesundheitspflege in allen Anstalten eine bedeutende Rolle, „weil eine große Zahl der aufgenommenen Kinder in schlechtem Ernährungszustande ist, und namentlich auch allerlei Krankheiten, insbesondere Skrofulose{44} und tuberkulöse Erscheinungen verhältnismäßig oft vorkommen."{45} Der Verdacht auf Masern, Scharlach und andere Infektionskrankheiten war alltäglich. Mangelernährung, Verkrümmungen der Wirbelsäule oder einzelner Glieder kamen häufig vor. Die Krankenstation im Waisenhaus war daher auf 70 bis 80 Kinder ausgerichtet. In der Mädchenanstalt in Alsterdorf verfügte die Krankenabteilung über 24 Betten, in der die Geschlechtskranken von den anderen Erkrankten getrennt wurden. Die Ärzte stellten auch die fatalen Folgen von Alkoholismus und Vernachlässigung in der geistigen Entwicklung fest.

    Der bedrohliche Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen spiegelt sich in der Statistik der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge wider. Für das Jahr 1911 wird dort unter der Rubrik „Übersicht über die Gestorbenen" in der öffentlichen Jugendfürsorge von 126 Kindern berichtet, von denen 61 das erste und weitere 39 das fünfte Lebensjahr nicht überlebten. Von diesen starben allein 44 Säuglinge und 20 ältere Kinder im Waisenhaus. {46}

    Aufgabe der Beobachtungsstation war es neben der gesundheitlichen Einschätzung und Behandlung der Kinder und Jugendlichen, „ein Urteil über ihren Charakter zu gewinnen, auf Grund dessen die Entscheidung getroffen wird, ob die Betreffenden in Familienpflege kommen, ins Waisenhaus versetzt werden oder einer Besserungsanstalt überwiesen werden sollen."{47} Dabei widmet das Erziehungspersonal „dem geistigen Zustand der Zöglinge besondere Aufmerksamkeit, damit erforderlichenfalls eingehende psychiatrische Untersuchung veranlaßt werden kann.{48} Auch „geistig abnorm erscheinende oder nach den Vorfakten auf geistige Abnormitäten Verdächtige werden besonderer Beobachtung durch das Erziehungs- und Pflegepersonal empfohlen, auch wiederholt untersucht, um eventuell Überführung in Spezialuntersuchung und Behandlung zu veranlassen{49}, berichtete Petersen.

    Bei dieser Beurteilung über den weiteren Verbleib wurde auch die Konfession berücksichtigt, denn die katholischen und jüdischen Kinder und Jugendlichen sollten in die Einrichtungen ihrer Konfession überwiesen werden. Die staatlichen Einrichtungen waren protestantisch ausgerichtet.

    Am Ende des Jahres 1911 zählte man 1932 Kinder und Jugendliche in der Zwangserziehung. Davon befanden sich 473 in Familienpflege, 689 in Lehr- und Dienststellen, 328 im Waisenhaus und der Aufnahmestation, 147 bzw. 105 in den Erziehungsanstalten Ohlsdorf und Alsterdorf, 112 in der Besserungsanstalt des Werk- und Armenhauses, 42 im katholischen Waisenhaus in Bergedorf, 14 in anderen Erziehungsanstalten und 22 in „Krüppelheimen und Irrenanstalten (Alsterdorf, Friedrichsberg, Langenhorn)."{50}

    „In das Waisenhaus kommen in der Regel diejenigen Kinder, deren Verbleib in der Fürsorge der Behörde voraussichtlich von nur kurzer Dauer ist"{51}, etwa bei Erkrankung der Mütter, Obdachlosigkeit der Eltern oder bei einer späteren Überweisung in die Familienpflege, in eine der Erziehungsanstalten oder zu anderen Betreuungsorten.

    Die Hauptteile des Waisenhauses mit Platz für 550 bis 600 Kinder waren der Mädchen- und der Knabenflügel. Im ersteren war auch die Säuglingsstation mit 90 Betten für die kranken und besonders pflegebedürftigen Kinder unter zwei Jahren untergebracht. In der sog. „Warteschule" befanden sich Mädchen und Jungen im Alter von 3 bis 6 Jahren, also im heutigen Kindergartenalter. Die schulpflichtigen Mädchen und Jungen wurden in insgesamt 4 Gruppen im ersten Schuljahr noch zusammen betreut, dann getrennt in Gruppen zu 20 bis 30 Kindern, in höherem Alter sogar zu 30 bis 40 Kindern. Die etwa 50 bis 60 schulentlassenen, konfirmierten Mädchen verblieben nach der Schule noch etwa ein Jahr in der Anstalt, um in hauswirtschaftlichen Tätigkeiten unterwiesen zu werden. Ziel war es, sie später in Dienststellungen zu vermitteln.

    Im sog. „Knabenflügel" des Gebäudes waren sechs Gruppen von Kindern untergebracht, die in der Zusammensetzung den Volksschulklassen 1 bis 6 entsprachen. Diejenigen, die vor dem Ende der Schulzeit standen, aber einen Abschluss nicht würden erreichen können, wurden einer besonderen Gruppe zugewiesen.

    img3.png

    Die schulpflichtigen und nicht mehr schulpflichtigen Jungen, für die nach der Begutachtung eine „strengere Anstaltserziehung notwendig"{52} erschien, wurden an die Erziehungsanstalt für Knaben in Ohlsdorf überwiesen. Auch hier war ein autarkes Dorf entstanden mit zwei größeren Gebäuden und kleineren Nebengebäuden, den „Pavillons, in denen vor allem Werkstätten untergebracht waren. Die Zuordnung der Jungen zu den Gruppen erfolgte anhand des Alters und des „sittlichen Zustandes. „Für die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1