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Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850)
Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850)
Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850)
eBook795 Seiten9 Stunden

Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850)

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Über dieses E-Book

Die Teilungen Polens waren in der Geschichte des Russischen Reichs die größte territoriale Expansion nach Westen. Die Zaren standen fortan vor der Aufgabe, eine historische Region in ein autokratisch ­verfasstes Imperium einzugliedern. Dazu sollte der polnische Adel mit seinem ausgeprägten ständischen Bewusstsein in den ­russischen Dienstadel integriert werden. Zudem musste das unterverwaltete Zarenreich in den annektierten Gebieten eine staatliche Büro­kratie etablieren. In beiden Fällen war man auf die Kooperation des ­polnischen Adels angewiesen. Die Studie nimmt eine russisch-­polnische Perspektive ein und versucht somit, die lange Zeit vor­herrschenden nationalen Sichtweisen aufzubrechen und beiden Seiten gerecht zu werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum3. Juni 2013
ISBN9783412216443
Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850)
Autor

Jörg Ganzenmüller

Jörg Ganzenmüller ist Osteuropahistoriker und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar. Er lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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    Buchvorschau

    Russische Staatsgewalt und polnischer Adel - Jörg Ganzenmüller

    I. ZWISCHEN ELITENKOOPTATION UND STAATSAUSBAU: DIE INTEGRATION DES POLNISCHEN ADELS IN DIE AUTOKRATISCHE ORDNUNG DES ZARENREICHES

    Die zarische Adelspolitik in den Westgouvernements war von Beginn an widersprüchlich. Es galt einerseits, den polnischen Adel als gleichberechtigtes Mitglied in die Elite des Reiches zu integrieren. Andererseits folgte die Regierung den Notwendigkeiten einer Politik, die den Staatsausbau in der Provinz zum Ziel hatte und somit erhebliches Konfliktpotential mit den lokalen Eliten barg. Seit dem 16. Jahrhundert hatte das Zarenreich bei der Eingliederung eroberter Gebiete die fremdländischen Oberschichten in den russischen Adel aufgenommen. Eine wesentliche Voraussetzung dieser Elitenkooptation war die Respektierung der jeweiligen lokalen administrativen und rechtlichen Ordnung sowie der Besitzverhältnisse und des bestehenden Wertesystems gewesen.¹ Bis ins 18. Jahrhundert hatte das Zarenreich mit Hilfe der Eingemeindung fremder Oberschichten seine Herrschaft erfolgreich nach Osten ausgedehnt. Die nun einsetzende Westexpansion konfrontierte das autokratische Russland mit ständisch-korporativen Organisationsformen, die der Sozialverfassung des Reiches fremd waren. Dennoch knüpfte das Russische Imperium zunächst an jene Muster der Eingliederung an, wie sie das Moskauer Reich im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt hatte. Die ukrainischen Kosaken und der deutschbaltische Adel Livlands wurden ebenso in den russischen Adel aufgenommen wie der schwedischsprachige Adel Finnlands und die rumänischen Bojaren Bessarabiens zu Beginn des 19. Jahrhunderts.² Die Eingliederung der baltischen Ritterschaft im Zuge der Eroberung Livlands durch Peter I. stellte sogar ein Musterbeispiel einer gelungenen Elitenkooptation dar. Der baltische Adel bildete nicht nur eine loyale Elite in den Ostseeprovinzen, sondern übernahm bald auch wichtige Funktionen und Ämter im Russischen Reich.³ Die Ausgangslage in den polnischen Gouvernements stellte hingegen eine ungleich größere Herausforderung dar.

    Zwischen der Eroberung Livlands und der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 lag ein halbes Jahrhundert. In dieser Zeit hatte sich der Herrschaftsanspruch der europäischen Monarchien verändert. Auch Katharina II. sah in der Etablierung der [<<31||32>>] Staatsgewalt auf lokaler Ebene eines der zentralen Anliegen ihrer autokratischen Reformpolitik. Wolfgang Reinhard hat betont, dass die Etablierung der Staatsgewalt stets mit einer Homogenisierung von Territorium und Bevölkerung einherging.⁴ Katharinas innenpolitisches Programm stand also im Widerspruch zur traditionellen indirekten Kontrolle der eroberten Gebiete. Der Staatsausbau war mit der bislang geübten Toleranz gegenüber fremden Rechtskulturen und Verwaltungsstrukturen kaum vereinbar.

    Die Teilungen Polens konfrontierten das Zarenreich mit einem bislang unbekannten Problem. Der polnische Adel stellte im Gegensatz zu jenen Eliten, die das Zarenreich bislang in den Reichsadel integriert hatte, keine homogene Oberschicht dar. Die Szlachta war sehr zahlreich und sozial stark heterogen. Damit unterschied sie sich fundamental vom russischen Adel. Letzterer setzte sich am Ende des 18. Jahrhunderts aus wenigen reichen und einer Mehrzahl von ärmeren sowie mittleren Grundbesitzern zusammen. Der polnische Adel hatte zwar eine ähnlich breite Oberschicht aus Magnaten und Gutsadel, neben den mittleren und ärmeren Grundbesitzern jedoch mit rund 40 Prozent auch einen großen Anteil an Adligen, die überhaupt kein Land besaßen. Sie hatten den Boden, den sie bearbeiteten, entweder nur gepachtet oder waren ganz ohne grundherrschaftliche Einkünfte. Nicht selten standen sie sogar im Dienst eines gutsbesitzenden Standesgenossen.

    Ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen russischem und polnischem Adel bestand in der politischen Verfasstheit und der Stellung zum Monarchen. Im Zarenreich hatte sich anders als in West- und Mitteleuropa kein Ständewesen herausgebildet, in dem der Adel ein politisch einflussreiches Gegengewicht zur Krone bildete.⁶ Schon in vorpetrinischer Zeit verstand sich der Adel nicht als eine Elite, die ihr wirtschaftliches Potential in die Waagschale warf, um der Zentralgewalt politische Rechte abzuringen. Reichtum war in Russland von der Krone abhängig, da Schenkungen des Zaren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die bedeutendste [<<32||33>>] Quelle großer Vermögen bildeten.⁷ Mit der Einführung der Rangtabelle durch Peter I. wandelte sich die Abhängigkeit vom Herrscher in eine Abhängigkeit vom sich herausbildenden Staat. Nicht der durch Geburt erworbene Adelstitel, sondern der über den Dienst im Militär oder in der Verwaltung erworbene Rang bestimmte fortan die soziale Stellung eines jeden Adligen. Indem das Leistungsprinzip über das Definitionsmerkmal der Geburt gestellt wurde, sollte die Elite des Reiches durchlässiger und auf diese Weise durch Aufsteiger erneuert werden.⁸ Eine Folge war, dass der nach Ansehen und Einfluss strebende russische Adlige auf den Staat fixiert blieb und auch im 18. Jahrhundert nicht nach politischer Eigenständigkeit strebte.⁹

    Dies änderte sich zunächst auch nicht, als Peter III. im Jahre 1762 die Dienstpflicht des Adels aufhob und Katharina II. dieses Manifest unmittelbar nach dem Sturz ihres ungeliebten Ehemanns bestätigte.¹⁰ Den Kern von Katharinas Adelspolitik bildete indessen die Gnadenurkunde von 1785. Darin verlieh sie dem Adel erstmals verbriefte, einklagbare Rechte. Die Dienstbefreiung von 1762 wurde [<<33||34>>] abermals bestätigt. Allerdings verpflichtete sie den Adel moralisch zum Einsatz für Staat und Krone, indem sie den Dienst als eigentliche Quelle seiner Privilegien festhielt. Die adligen Vorrechte der Steuerfreiheit und des alleinigen Besitzrechts auf besiedeltes Land erweiterte sie im Gegenzug durch weitere Wirtschaftsprivilegien. So wurde dem Adel das Recht zugesprochen, auf seinen Gütern Manufakturen und andere industrielle Unternehmungen zu errichten, mit seinen landwirtschaftlichen und gewerblichen Erzeugnissen Handel zu treiben und in den Städten Häuser zu unterhalten.¹¹ Die Gnadenurkunde änderte zunächst nur wenig am Selbstverständnis des russischen Adels. Nach wie vor richtete er sein Standesbewusstsein am Staat und am Zaren aus. Der größere Teil verblieb im Dienst und verlegte seinen Wohnsitz nicht von der Stadt auf das Land. Die Gutswirtschaft betrieb er nur als Nebenberuf. Insofern hatte der russische Adel sein materielles Fundament und seine Lebensmitte in geringerem Maße auf dem Land als etwa der englische, der preußische oder der polnische Adel.¹²

    Die Szlachta, wie sich der polnisch-litauische Adel seit dem 14. Jahrhundert selbst zu nennen begann, hatte eine andere historische Entwicklung genommen. Sie hatte ständische Selbstvertretungsorgane herausgebildet und eine politische Eigenständigkeit errungen, die sie zu einer selbstbewussten Gegenkraft zum Monarchen werden ließ. Aus dieser Konstellation heraus entwickelte sich jener polnische Sonderweg, der nicht in eine absolutistische Monarchie mündete, sondern in eine Adelsrepublik, in der die Szlachta den polnischen König wählte. Die Kandidaten für den Thron, die nicht selten aus Geschlechtern ausländischer Herrscherdynastien stammten, traten immer mehr Rechte an den Adel ab, um auf dem Reichstag die Stimmenmehrheit zu gewinnen. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts bedurfte jedes Gesetz der Zustimmung des Reichstages (sejm). Außerdem war die Szlachta einer ständischen Rechtsprechung unterworfen, in der die Richter nicht vom König ernannt, sondern vom Adel selbst gewählt wurden.¹³

    [<<34||35>>] Die soziale Ausdifferenzierung der Adelsgesellschaft in einen relativ wohlhabenden Adel, der einen aufwändigen Lebensstil sowie neue Formen der Konsumkultur pflegte, und einen verarmten Landadel, der sich nur noch auf seine Vergangenheit berufen konnte, war im 18. Jahrhundert ein Phänomen in ganz Europa.¹⁴ In Polen legte der Reichstag dem landbesitzenden Adel (possessores) höhere Steuern auf als dem Adel ohne Landbesitz (impossessionati).¹⁵ Im Gegenzug fiel es armen Adligen immer schwerer, ihre traditionellen Rechte und Privilegien zu bewahren. Sowohl der Zugang zu Ämtern als auch die volle politische Partizipation auf den Landtagen (sejmiki) und im Reichstag waren prekäre Rechte, deren Wahrnehmung von der persönlichen Durchsetzungsfähigkeit des Einzelnen und dessen Zugehörigkeit zu lokalen Netzwerken abhing. Nur die persönliche Freiheit und das vielfach nicht realisierbare Recht, Güter zu erwerben, blieben allgemein anerkannte Standesprivilegien auch des besitzlosen Adels.¹⁶

    Vielfach wurden der soziale Abstieg und die Erosion der Privilegien durch ein überhöhtes Standesbewusstsein kompensiert. Der Sarmatismus entfaltete sich zu einer Integrationsideologie, welche die Kleinadligen wenigstens ideell als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Szlachta auswies, indem sie diese als Abstammungsgemeinschaft deutete, deren gemeinsame Vorfahren das antike Volk der Sarmaten gewesen seien.¹⁷ Derartige Vorstellungen vom Adel als einer eigenen ethnischen Gruppe waren allerdings keine polnische Besonderheit, sondern hatten sich seit dem späten 16. Jahrhundert in vielen europäischen Adelsgesellschaften herausgebildet. Die Konstruktion einer Abstammungstradition diente als Abgrenzung gegen die damals in ganz Europa wachsende Zahl von Nobilitierten [<<35||36>>].¹⁸ Der Sarmatismus ist darüber hinaus Ausdruck eines Adelskonzepts, das sich fundamental von der durch Peter I. eingeführten Praxis im Russischen Reich unterschied. Hier definierte sich der Adel über den Dienst, womit prinzipiell jedem die Möglichkeit gegeben war, sich auf der Rangtabelle in den Adelsstand hochzudienen.

    In diesem Kapitel steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit und auf welche Weise die zarische Regierung nach den Teilungen Polens die Szlachta in die gesellschaftliche Ordnung des Russischen Reiches eingegliedert hat. Welche Ziele verfolgten die einzelnen Zaren mit ihrer Adelspolitik in den ehemals polnischen Gebieten, die nun die sogenannten Westgouvernements des Imperiums bildeten? Welche Mittel benutzten sie, um diese Ziele zu erreichen? Und inwieweit führten die gewählten Mittel zum Erfolg? Diese Fragen sollen zu einer differenzierten Betrachtung der zarischen Adelspolitik jenseits der Kategorien „Russifizierung und „Assimilierung führen, die lange Zeit das Bild von der russischen Politik in den polnischen Provinzen prägten.¹⁹

    1. Die Szlachta als grundbesitzende Elite der Westgouvernements: Adelspolitik und Verwaltungsreformen unter Katharina II. (1772–1796)

    1.1. Die symbolische Integration des polnischen Adels: Herrschaftswechsel und Treueid nach der ersten Teilung Polens

    In der Woche vom 1. bis zum 7. September 1772 verkündete Katharina II. der Bevölkerung der vier polnischen Wojewodschaften Polock, Vitebsk, Mstislav und Polnisch Livland in einem Plakat, dass sie von nun an ihre Untertanen seien. Damit war der Herrschaftswechsel eines Territoriums mit einer Gesamtfläche von 87.000 Quadratkilometern und 1,3 Millionen Einwohnern formell vollzogen. Das russische Militär hatte die ostpolnischen Gebiete zwar bereits unmittelbar nach dem russisch-preußischen Teilungsvertrag vom 17. Februar 1772 besetzt, doch erst nach einem entsprechenden Abkommen zwischen Russland und Österreich am 5. August 1772 konnte die Zarin den Herrschaftswechsel öffentlich bekannt geben. Katharina II. garantierte auf ihrem Plakat allen neuen Untertanen Besitz, Vermögen und uneingeschränkte Religionsfreiheit. Gleichzeitig gewährte sie den [<<36||37>>] Einwohnern der annektierten Gebiete jene Rechte, Freiheiten und Privilegien, welche die anderen Untertanen der Zarin bereits genossen. Im Gegenzug erwartete die russische Herrscherin „Anerkennung und Dankbarkeit. Und da die neuen Untertanen nun „durch ihre [Katharinas, J. G.] Gnade an der gleichen Wohlfahrt wie die Russen teilhaben würden, sollten diese „sich ihrerseits bemühen, sich dieses Namens durch aufrichtige Liebe zu dem neuen Vaterland und unerschütterliche Treue zu der so großmütigen Herrscherin würdig zu zeigen".²⁰ Im Anschluss an die öffentliche Verkündung des Plakats sollten die anwesenden Untertanen Treue schwören. Wer den Eid verweigerte, erhielt drei Monate Zeit, um seine unbewegliche Habe zu verkaufen und auszuwandern. Sämtliches immobiles Eigentum, das nicht veräußert werden konnte, fiel an den Staat, und alle Erbansprüche gingen verloren.²¹ Diese Aufforderung war für jene Magnaten, die im polnischen Reststaat Ländereien besaßen und sich auf ihre dortigen Güter zurückziehen konnten, durchaus eine Alternative zum künftigen Dasein als russische Untertanen.

    Die Ableistung des Treueids machte also auf der einen Seite den Herrschaftswechsel in den annektierten Gebieten bekannt, zum anderen bezeugten die neuen Untertanen durch ein Unterwerfungsritual ihren Loyalitätswillen gegenüber der Zarin. Die neu geknüpfte Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten wurde anschließend durch eine rechtliche Gleichstellung mit den anderen Untertanen des Reiches gefestigt. Ein solcher Initiationsritus war keine russische Besonderheit. Die Vereidigung der örtlichen Elite und die Huldigung des neuen Herrschers gehörten vielmehr zum festen Repertoire von Ritualen, mit deren Hilfe der Herrschaftswechsel im Europa des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts symbolisch kommuniziert und juristisch vollzogen wurde.²² Mit der Abnahme des Treueids knüpfte Katharina II. zudem an die Herrschaftspraxis ihrer Vorgänger an, die sich in der Vergangenheit durchaus bewährt hatte. Die Integration des Teilungsgebietes von 1772 folgte denn auch den Prinzipien der traditionellen Elitenkooptation. Die Szlachta behielt ihre herkömmlichen Rechte, Privilegien und Freiheiten, und polnische Adlige wurden als gleichberechtigte Mitglieder in die Schicht des russischen Adels aufgenommen. Im Gegenzug erkannten sie die Zarin als ihren neuen Souverän an.

    Die zarische Herrschaft strebte in den annektierten polnischen Provinzen zunächst also nicht nach einer umfassenden Implementierung ihrer Normen. Allerdings erkannte die Szlachta die Zarin grundsätzlich als normsetzende Gewalt [<<37||38>>] an. Diese Rolle der Monarchin wurde im Treueid manifestiert, da es Katharina II. war, die dem polnischen Adel seine alten Rechte bestätigte. Diesem Unterwerfungsakt wohnte die Vorstellung inne, dass die neuen Untertanen keinen eigenen Anspruch auf ihre alten Rechte besaßen: Sie wurden ihnen vielmehr durch einen kaiserlichen Gnadenakt gewährt. Gleichzeitig hatte sich damit auch die Zarin an die Geltung dieser Rechte gebunden. Der Treueid war allerdings mehr als ein symbolischer Akt des Herrschaftswechsels. Für die zarische Regierung stellte er die erste Nagelprobe für die Integrationsbereitschaft des polnischen Adels dar und war damit zugleich ein Gradmesser für die Erfolgsaussichten der anvisierten Kooptationspolitik. Wie verlief demnach die Abnahme des Treueides in der Praxis?

    Der frisch berufene Generalgouverneur von Weißrussland, Zachar G. Černyšëv, erließ im August 1772 eine ausführliche Weisung, die den Ablauf des rituellen Schwurs festlegte. Alle männlichen Personen ungeachtet ihres Standes und ihrer Würde, also auch Leibeigene, wurden verpflichtet, den Treueid zu schwören. Adlige, Geistliche und Bürger sollten sich in den Kirchen der größeren Städte einfinden und ihren Eid je nach Vermögen durch eigene Unterschrift oder die eines Bürgen bekräftigen. Bauern hatten sich auf dem Lande in ihren Gemeindekirchen zu versammeln, wo die Popen für sie die Unterschrift leisten würden. Die Juden sollten den Eid in den Synagogen und Gemeinden gemäß ihren Gebräuchen ablegen.²³ Černyšëv hatte zunächst den ehrgeizigen Plan entwickelt, das Ritual bis Ende September 1772 zum Abschluss zu bringen.²⁴ Der Gouverneur von Pskov, Michail N. Krečetnikov, hatte in seinem Gouvernement – das sich zur einen Hälfte aus den russischen Provinzen Pskov sowie Velikie Luki und zur anderen Hälfte aus den drei annektierten Provinzen Vitebsk, Polock sowie Düna zusammensetzte – den neuen Untertanen bereits im Oktober den Treueid abgenommen.²⁵ Im Gouvernement Mogilëv, das ausschließlich aus ehemals polnischen Provinzen bestand, erwiesen sich die zeitlichen Vorgaben jedoch als zu optimistisch. Dort musste die Frist bis zum 15. Januar 1773 verlängert werden.²⁶

    In der Praxis legte nicht jeder Adlige persönlich einen Treueid ab, sondern Adelsdelegationen schworen stellvertretend für ihren gesamten Landkreis.²⁷ Am 1. Juni 1773 legte Černyšëv Verzeichnisse derjenigen Adligen vor, die in den weißrussischen Provinzen den Eid geleistet hatten. Im Gouvernement Pskov hatten [<<38||39>>] 1.799 Adlige der Zarin Treue geschworen, im Gouvernement Mogilëv waren es 3.727.²⁸ Lediglich neun Adlige waren laut den Angaben Černyšëvs seiner Aufforderung nicht nachgekommen.²⁹ Aus Sicht der zarischen Regierung verlief die Abnahme des Treueides in den annektierten polnischen Provinzen erfolgreich. Wie nahm jedoch die Szlachta dieses Ritual wahr?

    Nur wenige Zeugnisse geben einen Einblick in die Perspektive der betroffenen Adligen, so dass die empirische Basis für generalisierende Aussagen zu dünn ist. Immerhin wirft die kleine Anzahl von Stimmen einzelne Schlaglichter auf Einstellungen und Handlungsstrategien polnischer Adliger. Adam Omulski zum Beispiel beanstandete am Verfahren des Treueides den Widerspruch, dass man einerseits schwöre, sich freiwillig und ohne Zwang unter die Herrschaft der Zarin zu begeben, andererseits bei Verweigerung der Verlust des Grundbesitzes drohe.³⁰ Tatsächlich hatte eine Ablehnung des Treueides schwerwiegende Folgen. Katharina II. betrachtete solch widerspenstige Adlige als potentielle Verräter und konfiszierte deren Güter. Die Zarin strebte damit jedoch keine Vermehrung des kaiserlichen Grundbesitzes an und gab die Güter in der Regel an treue Weggefährten weiter.³¹

    Diese Schenkungspraxis führte dazu, dass im Gouvernement Mogilëv bald 25 bis 30 Prozent der Grundbesitzer russische Adlige waren, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Grigorij Potëmkin, Alexander Golicyn, Alexander Bibikov oder der Generalgouverneur Zachar Černyšëv. Die Güter und Starosteien, die Katharina II. so großzügig verschenkte, waren in der Regel riesige Latifundien, auf denen zahlreiche Leibeigene siedelten. So erhielt Peter Zavadovskij mit seinem Gut zugleich 25.681 Seelen geschenkt. Auf Potëmkins weißrussischen Besitzungen lebten 14.247 Leibeigene, und auf Golicyns sowie Bibikovs Gütern jeweils knapp 3.000 Seelen.³²

    [<<39||40>>] Die Historiographie hat diese Vorgehensweise häufig als den Beginn einer gezielten Russifizierung der Westgouvernements gedeutet.³³ Eine solche Interpretation greift allerdings zu kurz, da Katharina II. nicht nur „polnischen, sondern auch zentralrussischen Grund und Boden großzügig verschenkte. Konfiskationen und Donationen waren in der politischen Praxis des Zarenreichs fest verankert. Zum einen war Landbesitz sehr eng mit dem Staatsdienst verbunden. Das adlige Gut war dabei nicht nur die wirtschaftliche Voraussetzung für den Dienst, sondern machte den Gutsherrn zugleich zum Repräsentanten zarischer Herrschaft gegenüber den Untertanen vor Ort. Zum anderen resultierten die Schenkungen aus den spezifischen Eigentumsvorstellungen im Russland des 18. Jahrhunderts. Eigentum wurde nicht als ein bewahrenswertes privates Vermögen verstanden, sondern als eine Art Kapital, das man ausgab, um Kontakte und Netzwerke zu knüpfen oder zu pflegen. Die Zarin war ein Teil dieser „gebenden Gesellschaft. Ihr kam die Rolle einer „ehrlichen Maklerin zu, deren Aufgabe nicht zuletzt darin bestand, Landbesitz zu verteilen und umzuverteilen. Damit war Eigentum „keine private, von machtpolitischen Fragen zu trennende Angelegenheit, und Vergabe ebenso wie Konfiskation bildeten integrale Bestandteile des politischen Lebens.³⁴ Im Russland des 18. Jahrhunderts gehörte es also zur üblichen Herrschaftspraxis, die Güter von illoyalen Adligen einzuziehen und politischen Vertrauten zu übereignen. Darin ist weder eine besondere Härte gegenüber dem polnischen Adel noch der Beginn einer Russifizierungspolitik zu sehen. Allerdings hatte diese Praxis unter Katharina II. stark zugenommen. Da der Boden in Kernrussland bereits weitgehend verteilt war, war die Zarin darauf angewiesen, ihre Gefolgsleute mit Land in den neu eroberten Gebieten zu befriedigen: also insbesondere in Neurussland und in Polen.³⁵

    Angesichts des drohenden Verlustes ihrer Güter dürften nicht wenige Adlige den Treueid weniger aus Überzeugung, sondern eher notgedrungen geleistet haben. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass ein Eid auch im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Gewissensentscheidung war, die man kaum sorglos traf. So fanden sich in erster Linie Adlige, die in der Adelsrepublik ein Amt bekleidet hatten, in einem Loyalitätskonflikt. Sie nahmen eher den Verlust ihres Grundbesitzes in Kauf als der russischen Zarin den Treueid zu schwören und damit ihre Treue gegenüber dem polnischen König zu brechen.³⁶ Andere fanden einen Ausweg aus [<<40||41>>] dem moralischen Dilemma, indem sie eine Veränderung der Eidesformel durchsetzten. So weigerte sich der Erzbischof der Unierten Kirche von Polock, einen Eid auf die Kaiserin und den Heiligen Synod zu sprechen. Er leistete den Schwur erst, als es allen Unierten und Katholiken gestattet wurde, in die Fürbitte für die höchsten Autoritäten neben der Kaiserin und den Thronfolger auch den Papst mit einzubeziehen.³⁷

    Abgesehen von solchen Beispielen der Prinzipientreue finden sich auch Fälle, in denen Adlige aus pragmatischen Erwägungen der Zarin die Treue schworen. Adam Omulski verteidigte gegenüber seinem Standesgenossen Joachim Chreptowicz seine Teilnahme an der Delegation, die den Treueid stellvertretend für den Kreis Orša im Gouvernement Mogilëv geleistet hatte. Zwar sei die Prozedur nicht sonderlich angenehm gewesen, doch könne es später ja durchaus einmal von Vorteil sein, diesem Aufgebot angehört zu haben.³⁸ Aus Omulskis Schreiben geht hervor, dass er nicht leichtfertig ein neues Loyalitätsversprechen abgab. Dennoch deutet nichts darauf hin, dass er seine Entscheidung als einen Verrat am polnischen König oder gar an der polnischen Nation empfunden hätte. Da die Königswahl in der Adelsrepublik wiederholt fremdländische Monarchen auf den polnischen Thron gebracht hatte, sah der polnische Adel auch keine grundsätzlichen Bedenken darin, einem nicht-polnischen Monarchen zu huldigen.³⁹ Die Überlegungen Omulskis zeugen vielmehr von einer pragmatischen Abwägung von Kosten und Nutzen, bei der er realistischerweise von einem künftigen Leben unter russischer Herrschaft ausging.

    Omulski ließ sich also von seinen Interessen leiten. Genau auf eine solche Einstellung zielte die Politik Katharinas II. ab, die deshalb als „pragmatische Integrationspolitik" bezeichnet werden kann: Die Kaiserin wirkte auf einen Interessenausgleich zwischen polnischem Adel und russischer Staatsgewalt hin und strebte ein Gleichgewicht bei der Befriedigung der jeweiligen Interessen an.⁴⁰ Die zarische Elitenkooptation war seit dem 16. Jahrhundert diesem Prinzip gefolgt. Die fremdstämmigen Eliten behielten ihre angestammten Rechte, Privilegien und Freiheiten. Es genügte, den Zaren als neues Oberhaupt anzuerkennen und infolgedessen die steuerlichen Abgaben an ihn abzuführen und Rekruten für die russische Armee zu stellen. Das Verhältnis zwischen Zar und fremdstämmigen Eliten war von gegenseitigem Nutzen bestimmt.

    Auch die Szlachta der annektierten polnischen Provinzen sollte erkennen, dass eine bereitwillige Leistung des Treueides Vorteile brachte, eine Missachtung der [<<41||42>>] neuen Herrschaftsverhältnisse hingegen nur schadete. Aus der Bestandsaufnahme der zarischen Regierung geht hervor, dass es tatsächlich nur wenige Adlige gab, die den Schwur auf die Zarin verweigerten. Bei der Mehrheit handelte es sich um Magnaten, deren Grundbesitz zum größten Teil in der noch existierenden Adelsrepublik lag, und die darüber hinaus dort staatliche Ämter bekleideten.⁴¹ Für solche Amtsträger des polnischen Königs stellte sich der Loyalitätskonflikt in besonderer Schärfe. Gleichzeitig verloren Magnaten mit weit verstreutem Grundbesitz nur einen Teil ihrer Ländereien.

    Inwieweit machte jedoch ein Treueid, der aus reinem Interessenkalkül geleistet wurde, die Szlachta zu loyalen Untertanen des Zarenreiches? Hier scheint der Begriff legalistisch die treffendere Bezeichnung für die Einstellung der Adligen zu sein. Loyalität steht dem Begriff Treue nahe. Loyalität und Treue unterscheiden sich gegenüber einer legalistischen Einstellung darin, dass sie das soziale Handeln mit dem individuellen Empfinden verknüpfen. Loyalität beschreibt eine innere Haltung, während sich eine legalistische Einstellung im Gehorsam oder in einer vertragsmäßigen Erfüllung von Pflichten erschöpft.⁴²

    Omulskis legalistische Einstellung war kein Einzelfall, sondern dürfte eine weit verbreitete Haltung widerspiegeln. Für viele polnische Adlige stellte sich in dieser Situation die Frage, ob der Treueid ein Akt der Vernunft oder Verrat am Vaterland sei. Man hatte sich also zwischen den eigenen, nicht zuletzt materiellen Interessen und den gemeinschaftlichen Interessen der polnischen Nation zu entscheiden. Diese Gewissensfrage musste jedoch nicht als ein Konflikt zwischen zwei einander ausschließenden Alternativen empfunden werden. Vielmehr entwickelte sich eine doppelte Loyalität heraus: Man schwor auf die Zarin und trat unter Umständen auch in den Dienst des russischen Staates ein, hoffte jedoch gleichzeitig weiterhin auf die Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates in den Grenzen von 1772. Loyalität gegenüber dem Zarenreich ließ sich [<<42||43>>] durchaus mit Loyalität gegenüber der polnischen Nation vereinbaren.⁴³ Die Konstruktion einer derartigen doppelten Loyalität wurde dadurch begünstigt, dass der Treueid sich auf eine symbolisch-rituell eingegangene Verpflichtung beschränkte, die zwar eingegangen wurde, aber diffus blieb. Gerade die Unschärfe der symbolischen Kommunikation ermöglicht die Demonstration von Einmütigkeit, auch wenn sie in der Sache nicht besteht.⁴⁴

    Eine legalistische Einstellung fordert die Herrschaft in friedlichen Zeiten nicht heraus. Auf dieser Grundlage konnte ohne weiteres Ruhe und Ordnung hergestellt werden. Mit diesem Anspruch wurde man dem zeitgenössischen Ideal vom inneren Zustand eines Gemeinwesens gerecht.⁴⁵ Ein aus pragmatischen Erwägungen geleisteter Treueid war für die Zarin deshalb zunächst eine ausreichende Herrschaftsbasis. In Krisenzeiten sollte sich dieses Fundament jedoch als nicht tragfähig erweisen: Die Loyalität zum Zarenreich verlor ihre Bindekraft immer dann, wenn sich eine Option für einen unabhängigen polnischen Staat abzeichnete.⁴⁶ Der Eintritt polnischer Adliger in die Armee Napoleons und insbesondere der Novemberaufstand von 1830/31 verweisen auf die Fragilität des Loyalitätsversprechens vieler polnischer Adliger. Und die Entrüstung der zarischen Eliten ob dieses „Treuebruchs deutet darauf hin, dass in russischer Perspektive der Treueid – zumindest rückblickend – als ein „echtes Loyalitätsversprechen aufgefasst wurde.⁴⁷

    Da die Abnahme des Treueides zügig und erfolgreich verlaufen war, hielt die zarische Regierung auch nach der zweiten und dritten Teilung an diesem Ritual [<<43||44>>] fest. Der Druck auf die Magnaten war in den 1790er Jahren allerdings erheblich höher, da nach der restlosen Aufteilung Polens keine Rückzugsmöglichkeiten mehr bestanden. Nun bedeutete die Verweigerung des Treueides, dass man seine Heimat verlassen musste.⁴⁸ Aus diesem Grunde setzte sich die Strategie einer pragmatischen Integration auch bei jenen Adligen durch, die bis zum Ende für den Erhalt der Adelsrepublik gekämpft hatten. Nach der Niederlage des Kościuszko-Aufstandes von 1794 eilten zahlreiche Magnaten zurück zu ihren Gütern im russischen Teilungsgebiet und leisteten den Treueid auf die Zarin.⁴⁹ Und auch die Karriere des späteren russischen Außenministers Adam Jerzy Czartoryski nahm hier ihren Anfang. Da sein Vater, Adam Kazimierz Czartoryski, den Treueid verweigert hatte, stand dessen Grundbesitz in Podolien und Wolhynien kurz vor der Sequestration. Aus diesem Grunde schickte Czartoryski seine beiden Söhne, Adam und Konstanty, nach St. Petersburg, wo sie eine Art Geiseln für das Wohlverhalten ihrer Eltern waren und in den Dienst am Hofe Katharinas II. eintraten. Dieser Loyalitätsbeweis genügte der Zarin offenbar als Ersatz für den Treueid: Die Czartoryskis erhielten beinahe alle bis dahin konfiszierten Güter wieder zurück.⁵⁰

    1.2. Staatliche Adelsregistrierung und adlige Selbstverwaltung: Widersprüche in Katharinas Unifizierungspolitik

    Der Herrschaftswechsel erfolgte nicht nur auf symbolischer Ebene. Dem Unterwerfungsritual folgte die fiskalische Integration der annektierten Gebiete in das Zarenreich. Zunächst hatten die neuen Untertanen die gleichen Steuern zu zahlen, die sie bislang auch in der Adelsrepublik abgeführt hatten. Katharina II. forderte von den Gouverneuren allerdings eine Dokumentation der demographischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den ostpolnischen Provinzen an, auf deren Grundlage eine neue Steuerordnung eingeführt werden sollte.⁵¹

    [<<44||45>>] Bereits im September 1772 reichte Černyšëv einen Bericht mit den geforderten Informationen ein, auf dessen Grundlage die russische Kopfsteuer eingeführt wurde. Sie war genauso hoch wie in den anderen Provinzen des Imperiums: Bauern hatten 70 Kopeken, Städter 1,20 Rubel zu zahlen. Juden mussten zusätzlich eine Abgabe von einem Rubel leisten. Der Adel, Staatsdiener, Ärzte und Gelehrte waren von der Steuer befreit.⁵² Die unmittelbare Einführung der Kopfsteuer brach mit der bisherigen Praxis der russischen Expansion, welche die jeweiligen Abgabenformen und -lasten zumindest vorläufig beibehalten hatte. Sowohl nach der Eroberung Kazans als auch im Zuge der Erschließung Sibiriens hatten die Zaren an das mongolische Steuersystem angeknüpft: Die Bevölkerung konnte den Jasak weiterhin in Geld oder in Naturalien abliefern, nur musste sie diesen an die Moskauer Staatskasse entrichten.⁵³

    Der Versuch, in den polnischen Teilungsgebieten umgehend die russische Kopfsteuer einzuführen, stellte die zarische Regierung vor eine neue Herausforderung. Zur Durchsetzung einer eigenen Steuernorm benötigte sie genaue Angaben über die steuerpflichtigen Stände. Noch im Oktober 1772 sollte deshalb eine Volkszählung durchgeführt werden, um die notwendigen Informationen beizubringen. Da der Adel das Privileg der Steuerfreiheit genoss, waren auch die Adelsangehörigen in den annektierten Gebieten zu ermitteln. Die zarische Regierung rief deshalb die Szlachta auf, sich in den Gouvernementskanzleien zu melden und dort Beweise für ihre wohlgeborene Abstammung vorzulegen. Keine Person habe das Recht, ohne einen solchen Nachweis adlige Privilegien in Anspruch zu nehmen.⁵⁴

    Die Überprüfung der Szlachta lief allerdings schleppend an. Zwischen 1775 und 1788 ließen sich in den Gouvernements Polock und Mogilëv lediglich 463 Personen ihre Adligkeit bestätigen.⁵⁵ Der Umstand, dass sich die Szlachta der staatlichen Registrierung entzog, hätte der zarischen Regierung noch keine Sorgen bereiten müssen. Letztlich lag es im Interesse des Adels, mit der Vorlage eines Abstammungsnachweises in den Genuss der Steuerfreiheit zu kommen. Katharinas Absicht, das Zarenreich grundlegend zu reformieren, veränderte die Ausgangslage jedoch entscheidend. Die Zarin verfolgte das ehrgeizige Ziel, die Administration des Reiches zu vereinheitlichen, das Gerichtswesen aus der Verwaltung herauszulösen und die Staatsgewalt auf lokaler Ebene zu etablieren. Letzteres sollte durch eine Mobilisierung des Provinzadels erreicht werden, da das Zarenreich über zu wenig ausgebildete Beamte verfügte, um das weite Land mit einem zentralisierten [<<45||46>>] Behördenapparat zu überziehen. Der Adel, dessen Dienstpflicht erst 1762 aufgehoben worden war, sollte freiwillig Aufgaben in der Provinz übernehmen. Ein derartiges Engagement – das sich von der Übernahme von Verwaltungsaufgaben über eine Beteiligung an der Rechtssprechung bis hin zur Erfüllung sozialer Aufgaben erstreckte – setzte voraus, dass sich der Adel auf lokaler Ebene als Gesellschaft konstituierte. Deshalb hatte Katharina II. mit ihrer Gnadenurkunde von 1785 die Entstehung von Adelsgesellschaften auf lokaler und regionaler Ebene angeregt.⁵⁶ Der Adel spielte also eine zentrale Rolle in Katharinas Projekt des Staatsausbaus.

    Die Kaiserin hatte mit der Gnadenurkunde klare Regeln geschaffen, auf welche Weise ein Adliger seine Abstammung zu belegen habe. Sie trug dabei ihrem Vielvölkerreich Rechnung, indem sie insgesamt 22 Möglichkeiten des Nachweises eröffnete. Auch Adelsbriefe und Adelswappen, die durch andere Monarchen gewährt worden waren, wurden akzeptiert.⁵⁷ Zugleich hielt die Zarin den Adel dazu an, sich in Adelsversammlungen zu treffen und seine ständischen Angelegenheiten dort eigenständig zu regeln. 1784 fanden die ersten Adelswahlen in den Gouvernements Mogilëv und Polock statt. Das Interesse Katharinas an einer zügigen Überprüfung der Szlachta war damit deutlich gestiegen. Wenn sich der Provinzadel in einer Adelsversammlung konstituieren und ständische Repräsentanten wählen sollte, dann setzte dies in den annektierten Gebieten die Bereitschaft der Szlachta zur staatlichen Erfassung voraus. Die Zarin versuchte das Verfahren zu beschleunigen. Da Adlige ohne Abstammungsnachweis steuerpflichtig waren, rief sie den Adel von Polock und Mogilëv dazu auf, dem Senat zügig einen Adelsnachweis vorzulegen und die Anzahl der in ihrem Besitz befindlichen Leibeigenen mitzuteilen. Wer dieser Aufforderung nachkomme, werde in den Adelsstand eingeordnet.⁵⁸

    Bei der Registrierung des Adels in den Westgouvernements überlagerten sich also zwei Prozesse. Zum einen hatte die Regierung ein fiskalisches Interesse an der Zählung und Erfassung ihrer neuen Untertanen. Zum anderen ging mit der Etablierung der Adelsversammlungen im gesamten Zarenreich eine Registrierung des [<<46||47>>] Provinzadels einher. Bevor ein Adliger an einer Adelsversammlung teilnehmen konnte, musste er dem Adelsmarschall und der Adelsdeputiertenversammlung seine Adligkeit nachweisen. Außerdem hatte er seinen Familienstand, die Zahl und das Geschlecht seiner Kinder, seinen Rang, seine Dienstzeit und seinen Grundbesitz anzugeben. Diese Daten wurden anschließend in einem adligen Geschlechterbuch (dvorjanskaja rodoslovnaja kniga) festgehalten. Dieses Adelsbuch wurde in drei Exemplaren angefertigt: Eines blieb im Archiv der Adelsversammlung, eines ging an die Gouvernementsregierung, und das dritte wurde an das Heroldsamt in St. Petersburg gesandt.⁵⁹

    Es gehörte zum allgemeinen Wesen und zu Katharinas Verständnis einer Standeskorporation, dass diese über Fragen der Zugehörigkeit selbst bestimmte und ihre Angelegenheiten eigenständig verwaltete. Aus diesem Grunde waren die Adelsdeputiertenversammlung und der Adelsmarschall für die Verifizierung und Registrierung des lokalen Adels zuständig. In den Gouvernements Mogilëv und Polock war es hingegen der Staat, der diese Aufgabe übernahm: zunächst die Gouvernementsregierung, und mit dem Ukas von 1789 der Senat. Hier überschnitten sich die staatliche Revision zur Festsetzung der Steuern und die Registrierung des Adels im Zuge einer adligen Selbstverwaltung. Die Politik der Elitenkooptation und der gleichzeitige Staatsausbau gerieten an diesem Punkt zum ersten Mal in Widerspruch.

    1.3. Homogenisierung durch Dezimierung? Die Masse des verarmten Kleinadels und das Umsiedlungsprojekt Platon Zubovs

    Die zweite und dritte Teilung Polens in den Jahren 1793 und 1795 veränderten die Bedingungen für die Integration des polnischen Adels in das Russische Reich grundlegend. Hatte sich das Zarenreich im Zuge der ersten Teilung Polens noch 87.000 Quadratkilometer mit rund 1,3 Millionen Einwohnern einverleibt, so annektierte Katharina II. in der zweiten und dritten Teilung weitaus größere Gebiete der Adelsrepublik. Durch die restlose Aufteilung Polens hatte sich das Zarenreich um rund 376.000 Quadratkilometer vergrößert und zugleich sechs Millionen Einwohner hinzugewonnen.⁶⁰ Erst diese ausgreifende Expansion machte die Integration des polnischen Adels zu einer Herausforderung, wie sie dem Zarenreich bis dahin noch nicht begegnet war.

    [<<47||48>>] Der polnische Adel hatte einen vergleichsweise hohen Anteil an der Bevölkerung. Während der russische Adel Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit 0,6 bis 0,9 Prozent knapp unter dem europäischen Durchschnitt lag, hatte die Adelsrepublik mit rund 7,5 Prozent den höchsten Adelsanteil in ganz Europa.⁶¹ Nach der ersten Teilung stellte dieses Größenverhältnis noch kein Problem dar. In den 1772 annektierten Provinzen lebten etwa 80.000 Adlige. Die Zahl der zu integrierenden Adligen bewegte sich damit in der Größenordnung der deutschbaltischen Oberschicht in den Ostseeprovinzen.⁶² Ganz anders war die Ausgangslage nach der zweiten und dritten Teilung. In den 1793 und 1795 annektierten Gebieten lebten 520.000 polnische Adlige. Da der russische Adel des Imperiums nur 150.000 Personen umfasste, galt es, einen Adel zu integrieren, der dreieinhalb Mal so groß war.⁶³

    Neben der schieren Größe des polnischen Adels kam seine soziale Heterogenität als weiteres Problem hinzu. Die verarmte Szlachta stellte eine Oberschicht dar, wie sie der zarischen Regierung in der Geschichte der Expansion des Russischen Reiches noch nicht begegnet war.⁶⁴ Es hat sogar den Anschein, als hätte man in St. Petersburg erst nach den Teilungen erkannt, dass die Integration einer Masse von Kleinadligen eine bislang unbekannte Schwierigkeit darstellte. Der Generalgouverneur von Ekaterinoslav, Voznesensk und Taurien, Platon A. Zubov, hatte in einer Denkschrift vom 3. Juni 1796 mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass in den annektierten polnischen Provinzen zahlreiche Adlige lebten, die über keinen Grundbesitz verfügten und sich als Pächter schon seit Langem in der Abhängigkeit der ansässigen Magnaten befänden. Seine Schilderung des sogenannten „Zinsadels" (činševaja šlachta, im Polnischen szlachta czynszowa) erweckt den Eindruck, als unterrichte Zubov die Hauptstadt von einer Neuentdeckung. Voller Erstaunen berichtet er von Adligen, die auf einem Grundstück lebten, das nicht ihnen, sondern einem anderen Adligen gehöre. Für die Wohn- und [<<48||49>>] Nutzungsrechte zahlten diese Adligen einen Zins von 25 bis 30 Silberrubel. Darüber hinaus hätten sie auch diverse Arbeiten und Dienste für den Grundbesitzer zu verrichten. Diese Adligen ähnelten deshalb eher Bauern: Sie seien wirtschaftlich auf den Gutsherrn angewiesen und auch politisch von diesem abhängig. Für die Übernahme jener staatlichen Wahlämter, die durch die Gouvernementsreform geschaffen wurden, seien sie deshalb gänzlich ungeeignet.⁶⁵

    Der Bericht Zubovs hatte die Situation des besitzlosen Adels nicht überzeichnet. Es gab sogar Fälle, in denen die Gutsbesitzer die Rechte der Kleinadligen noch sehr viel stärker einschränkten. So untersagte zum Beispiel Graf Dunin dem Zinsadel, der in seinem Dorf im Gouvernement Podolien lebte, den Ort ohne seine Einwilligung zu verlassen.⁶⁶ Damit waren die auf seinem Grund siedelnden Kleinadligen ihrer Freizügigkeit beraubt und partiell auf eine Stufe mit Leibeigenen gestellt. Diese Abhängigkeit der verarmten Szlachta ließ sich tatsächlich kaum mit der adligen Selbstverwaltung in den Westgouvernements vereinbaren.

    Platon Zubov, ehemaliger Favorit und treuer Untertan Katharinas II., hätte sein Amt als Generalgouverneur verfehlt, wenn er der Zarin nur ein Problem geschildert hätte, ohne zugleich eine Lösungsmöglichkeit ins Auge zu fassen. Er schlug der Zarin vor, den Zinsadel in die zu kolonisierenden südrussischen Provinzen am Schwarzen Meer umzusiedeln. In den neu eroberten Gebieten des Reiches herrsche Menschenmangel, und man könne den besitzlosen Adligen dort Land zur Verfügung stellen. Die Kleinadligen müssten aufgrund dieses großzügigen Geschenkes nicht länger in der Abhängigkeit von anderen Gutsbesitzern leben, sondern gewännen so ihre Freiheit zurück. Zubov plante zunächst die Umsiedlung von 4.000 Familien. Er ging jedoch davon aus, dass sich noch mehr freiwillige Siedler melden würden, und schloss eine Erhöhung dieses Kontingents nicht aus.

    Die Bedingungen, die Zubov in Aussicht stellte, waren durchaus attraktiv. Er bot den Neusiedlern 30 Desjatinen Land und ein Darlehen von 30 Rubel als Startkapital an. Außerdem würde der Staat die Kosten für die zu errichtenden Unterkünfte in Höhe von 50 Rubel pro Wohnhaus übernehmen. Die Masse der polnischen Neusiedler sollte sich im Gouvernement Ekaterinoslav sowie in Taurien niederlassen, ein geringerer Anteil sei zudem im Gouvernement Voznesensk anzusiedeln. Dort würden sie als Einhöfer leben. Dies bedeutete, dass sie nicht länger dem Adel, sondern dem freien Bauerntum angehören würden. Allerdings wären ihnen als Einhöfer die adligen Privilegien des Grund- und Leibeigenenbesitzes erhalten geblieben. Die polnischen Adligen sollten also ihren sozialen [<<49||50>>] Status gegen Land eintauschen. Zubov hielt dieses Angebot für zugkräftig, denn der Zinsadel sei in der Adelsrepublik aufgrund der hohen Abgaben sehr unzufrieden gewesen. Viele würden nach den Teilungen darauf hoffen, von der zarischen Regierung Land zu bekommen, und sich mit derartigen Bitten auch an die Gouverneure wenden. Aus diesem Grund bestehe kein Zweifel, dass sein Vorschlag auf große Zustimmung stoßen würde. Die Adligen hätten nunmehr die Möglichkeit, ihre Abhängigkeit von den Gutsbesitzern und deren Verwaltern abzustreifen und ein neues Leben zu beginnen, das sich auf Eigentum, Freiheit und Wohlstand gründete. Katharina II. ließ sich von diesen Argumenten überzeugen und nahm Zubovs Vorschlag in einen zarischen Ukas auf.⁶⁷

    Die Geschichtsschreibung hat diese Anordnung wiederholt als ein gezieltes Manöver zur Deklassierung des polnischen Kleinadels oder gar als Assimilierungsstrategie kritisiert.⁶⁸ Dabei wird übersehen, dass es sich um ein Angebot handelte, das auf Freiwilligkeit setzte. Niemand wurde gezwungen, seine Heimat zu verlassen und in der südlichen Peripherie des Reiches zu siedeln. Darüber hinaus vernachlässigt eine Interpretation, die Zubovs Umsiedlungsprojekt als Beginn einer Russifizierungspolitik deutet, den allgemeinen Kontext dieses Vorschlags. Katharina II. dürfte es bei diesem Gesetz in erster Linie um die Kolonisierung der neurussischen Gebiete im Süden des Reiches gegangen sein. Der Zarin lag die Zukunft dieser im Krieg gegen die Türken eroberten Territorien sehr am Herzen, verschafften sie doch Russland einen Zugang zum Schwarzen Meer. So war die Szlachta auch nur eine Gruppe unter anderen, die als potentielle Siedler ins Auge gefasst wurde. Eine deutlich größere Bedeutung hatte die Anwerbung deutscher Kolonisten und die Niederlassung ostjüdischer Siedler, die durch die Einbeziehung „Neurusslands" in den Ansiedlungsrayon in diese Gebiete geleitet wurden.⁶⁹ [<<50||51>>] Und schließlich entsprach die anvisierte Umsiedlung von 4.000 Adligen lediglich einem halben Prozent der in den Westgouvernements lebenden Szlachta. Eine Deklassierung des polnischen Kleinadels ließ sich durch eine derartige Maßnahme nicht verwirklichen.

    Leider liegen keinerlei Angaben vor, wie viele polnische Adlige auf dieses Angebot eingingen.⁷⁰ Es ist jedoch zu vermuten, dass nur sehr wenige bereit waren, für ein Stück Land an der südlichen Grenze des Zarenreichs freiwillig ihre Heimat zu verlassen. Für diese Annahme spricht nicht zuletzt, dass Paul I. mit einem Ukas am 7. März 1797 die durch seine Mutter angeregte Umsiedlung von Angehörigen der Szlachta in das Gouvernement Voznesensk einstellte.⁷¹ Drei Jahre später versuchte der Vizegouverneur von Neurussland, Dmitrij Neverovskij, diese Idee noch einmal wiederzubeleben. Er versprach jedem männlichen Neusiedler, der aus den Gouvernements Kiew und Podolien stammte und sich in Neurussland niederließ, 15 Desjatinen gutes Ackerland und zehn Jahre Steuerfreiheit. Das ehrgeizige Ziel, auf diese Weise 20.000 besitzlose Adlige umzusiedeln, wurde jedoch nicht erreicht: Im Gouvernement Kiew fanden sich nur 17 polnische Adlige, die zur Umsiedlung bereit waren, in Podolien waren es lediglich 14.⁷²

    Wenn Platon Zubovs Umsiedlungsprojekt jemals das Ziel verfolgt hatte, die Szlachta der Westgouvernements entscheidend zu dezimieren, so war dieses Vorhaben zumindest schnell gescheitert. Eine Deklassierung weiter Teile des polnischen Adels konnte nicht durch eine freiwillige Umsiedlung erreicht, sondern musste auf andere Weise in Angriff genommen werden. Wollte die zarische Staatsgewalt die Zahl der Adligen in den Westgouvernements verringern, dann musste sie zunächst Kriterien festlegen, entlang derer eine solche Dezimierung der Szlachta durchzuführen war.

    1.4. Von der Abstammungsgemeinschaft zum grundbesitzenden Landadel: Polnische Vorläufer und europäische Vorbilder einer Adelsreform

    Für Katharina II. war die Zugehörigkeit zum Adel eng mit dem Besitz von Grund und Boden verbunden. In armen Adligen sah sie grundsätzlich eine Last für den Staat.⁷³ Der „echte" Adel war in ihren Augen hingegen der gutsbesitzende Landadel [<<51||52>>]. Dieses Verständnis von Adligkeit schlug sich an mehreren Stellen ihrer Gnadenurkunde aus dem Jahr 1785 nieder. So sollten sich die Adligen in den Gouvernements, in denen sie über Grundbesitz verfügten, in das adlige Geschlechterbuch eintragen lassen, selbst wenn sie ihren ständigen Wohnsitz in St. Petersburg, in Moskau oder in einer der anderen großen Städte des Reiches hatten. Außerdem verknüpfte Katharina II. das Wahlrecht mit dem privaten Vermögen. Das aktive Wahlrecht wurde nur Adligen mit Landeigentum zugesprochen, über das passive Wahlrecht verfügten sogar nur jene, die jährlich wenigstens 100 Rubel Einkünfte aus ihren Gütern erzielten.⁷⁴ Damit hatte Katharina II. die Kriterien für Adligkeit neu gewichtet. Hatte Peter I. mit der Einführung der Rangtabelle den einstigen Geburtsadel in einen Dienstadel transformiert, so war mit der Gnadenurkunde Landbesitz zu einem wesentlichen Standeskriterium geworden.

    Aus Katharinas Sicht sprach noch ein zweites Argument dafür, den Zusammenhang von Adligkeit und Besitz herauszustreichen. Die Zarin hatte im Zuge der Gouvernementsreform des Jahres 1775 weite Teile der ländlichen Lokalverwaltung in die Hände des Provinzadels gelegt. Einem verarmten, wirtschaftlich abhängigen Kleinadel war kaum zuzutrauen, dass er den vielfältigen neuen Anforderungen gerecht werden würde, noch verkörperte er den Idealtyp eines Repräsentanten zarischer Staatsgewalt in der Provinz. Je stärker die Bedeutung von Landbesitz als Adelsmerkmal wuchs, desto weniger entsprachen besitzlose Adlige dem Leitbild eines in der Provinz verwurzelten, finanziell unabhängigen Edelmannes.

    In den russischen Gouvernements stand Katharinas Adelsverständnis in keinem größeren Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es nur wenige russische Adlige, die über keinerlei Grundbesitz verfügten. Vor 1785 hatten diese zwar den gleichen rechtlichen Status wie Gutsbesitzer, doch sahen weder die Herrscher noch andere Adlige in ihnen wirkliche Standesgenossen. Diese Wahrnehmung offenbart sich allein durch die Begriffe Adliger (dvorjanin) und Gutsbesitzer (pomeščik), die meist synonym verwendet wurden.⁷⁵ Landbesitz, Adligkeit und Staatsdienst waren im Zarenreich also auf das Engste miteinander verbunden:

    „Landbesitz war nicht nur eine notwendige ökonomische Voraussetzung für den Dienst am Staat, sondern auch eine unmittelbare politische Angelegenheit, die direkte Übernahme verwaltungstechnischer Aufgaben und letztlich Vertretung der zarischen Herrschaft gegenüber den Untertanen des Reiches."⁷⁶

    [<<52||53>>] Besitzlose Adlige konnten demzufolge die Aufgaben, die Katharina II. in ihrer Gouvernementsreform für sie vorgesehen hatte, nicht erfüllen. Die Zarin stellte nun weit höhere Anforderungen an die Eliten in den Provinzen des Reiches, als dies vor ihren Reformen der Fall gewesen war. Der landlose polnische Kleinadel hatte in diesem Elitenkonzept keinen Platz. Da er allerdings auch in keine der anderen ständischen Kategorien passte, stellte seine Integration in die durch Katharina reformierte Sozialordnung des Zarenreiches eine politische Herausforderung dar, welche Fragen nach zukunftsträchtigen Elitenkonzepten und der ständischen Verfasstheit der zarischen Gesellschaft aufwarf.⁷⁷

    Katharina II. konnte bei ihren Überlegungen zu einer Adelsreform in den Westgouvernements an die Diskussionen anschließen, die in Polen am Ende der Adelsrepublik intensiv geführt worden waren. Die Reformkräfte hatten dort bereits nach einer Lösung für das Problem eines sozial stark differenzierten Adels gesucht, welches das Zarenreich durch die Teilungen schließlich geerbt hatte. Besitz galt wie in den meisten europäischen Adelsgesellschaften auch in Polen als ein untergeordnetes Merkmal für Adligkeit. Nur in England war die Zugehörigkeit zur gentry eng mit Landbesitz verbunden und der Verlust des Landes führte dort früher oder später zum Ausschluss aus dem Adelsstand. In Polen war hingegen die adlige Geburt ausschlaggebend für die Standeszugehörigkeit. Wenn es einer Familie einmal gelungen war, ihre edle Abstammung juristisch zu dokumentieren, konnte sie ihren Status über Generationen verteidigen, auch wenn der einstige Besitz schon lange verloren war. Gleichzeitig gab es in Polen im späten 16. und 17. Jahrhundert eine gegenläufige Entwicklung zur europaweiten Tendenz, die Zugehörigkeit zum Adel rechtlich zu fixieren. Die Krone verlor das Nobilitierungsrecht, und die entsprechenden Kompetenzen des Reichstages kamen nur begrenzt zum Tragen. Der Adelsnachweis konnte in ganz unterschiedlichen Formen erfolgen. Neben einer Bestätigung durch den König genügte es mitunter auch, lediglich den Nachweis zu erbringen, bestimmte Ämter bekleidet oder politische Rechte wahrgenommen zu haben, die dem Adel vorbehalten waren.⁷⁸

    Die Verarmung des Gemeinadels war ein soziales Problem. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert hatten die Magnaten ihren Grundbesitz zu Lasten des Kleinadels erheblich ausgeweitet.⁷⁹ Am Ende der Adelsrepublik blieb den sozial [<<53||54>>] deklassierten Adelsmassen nur noch die persönliche Freiheit als letztes Adelsprivileg. Das Recht, Landgüter zu erwerben, konnte vielfach nicht realisiert werden, und die Wahrnehmung weitergehender Privilegien hing vom individuellen Status sowie der Durchsetzungsfähigkeit des einzelnen Adligen im Rahmen der informellen regionalen bzw. lokalen Macht- und Klientelverhältnisse ab. Dies galt für den Zugang zu geistlichen, militärischen und zivilen Ämtern, vor allem aber für das Stimmrecht auf den Landtagen sowie bei der Königswahl. Der soziale Abstieg des Kleinadels war damit auch zu einem politischen Problem der Adelsrepublik

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